So wird’s gemacht

Der Umgang mit der Zahnrettungsbox\r

201009-flexible-1900
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Möglichkeit, avulsierte Zähne über einen gewissen Zeitraum zu retten und beschreibt das Vorgehen im Ernstfall.

Grundlagen

Diagnostik und Therapie in der zahnärztlichen Traumatologie haben in den letzten Jahren grundlegende Veränderungen erfahren. In aktuellen Lehrbüchern finden sich hierzu umfangreiche und praxisrelevante Empfehlungen [Kirschner et al., 2002].

Zahnunfälle sind unter zellulären Aspekten komplexe Verletzungen, die Zahnhartsubstanzen, Pulpa, Parodont, Knochen und umgebende Weichgewebe betreffen können. Weichgewebe und Knochen heilen meist unproblematisch, frakturierte Zahnkronen können heute ästhetisch ergänzt werden und eine nekrotische Pulpa ist endodontisch ersetzbar. Unfallbedingt verlorenes Parodont ist bis heute nicht ersetzbar: betroffene Zähne gehen verloren. Daher fokussiert die moderne Traumatologie der Zähne auf die Heilungsvorgänge im Parodont [Filippi & Weber, 2003].

Avulsion

Die Avulsion (antiquiert und falsch auch als „Exartikulation“, „Eluxation“ oder „Totalluxation“ bezeichnet) gehört zu den Dislokations- Verletzungen, welche von Frakturen unterschieden werden. Innerhalb der Dislokationen machen Avulsionen etwa sieben bis 23 Prozent aus und sind somit deutlich seltener als Lockerungen (antiquiert / falsch: „Subluxationen“), laterale oder extrusive Dislokationen. Lediglich Intrusionen sind seltener als Avulsionen. In den meisten Fällen sind die Inzisivi des Oberkiefers, deutlich seltener die des Unterkiefers betroffen. Die Problematik der Avulsion eines bleibenden Zahnes besteht hauptsächlich in der parodontalen (Langzeit-)Prognose. Diese ist im Wesentlichen abhängig von der Dauer und vom Medium der extraoralen Lagerung des avulsierten Zahnes. Bei unsachgemäßer beziehungsweise ausgedehnter Lagerung kann es zu schwerwiegenden Komplikationen kommen, welche insbesondere die parodontale Einheilung beziehungsweise Erhaltung des Zahnes gefährden oder unmöglich machen. Verschiedene Autorengruppen haben deshalb für die Avulsion bleibender Zähne neue Therapiekonzepte empfohlen.

Extraorales Überleben von Zementoblasten

Befindet sich ein Zahn nach Avulsion außerhalb des Mundes, müssen sich heute sämtliche Aktivitäten auf die Vitalerhaltung und die Regeneration vorgeschädigter Zementoblasten konzentrieren. Das Überleben dieser Zellen in unterschiedlichen Medien ist umfangreich untersucht worden. Wird der Zahn beispielsweise im Taschentuch aufbewahrt und auf diese Weise artifiziell ausgetrocknet, sind nach etwa 30 Minuten alle Zellen tot; der Zahn wird resorbiert und geht verloren.

Ebenfalls unphysiologische Lagerungsmedien sind Wasser und Speichel. Sehr limitiert empfehlenswert ist sterile isotone Kochsalzlösung (zirka eine Stunde). Kalte und ultrahocherhitzte Milch (UHT) kann für etwa vier Stunden das Überleben der Zellen gewährleisten. Die Zahnrettungsbox Dentosafe ® hingegen ist in der Lage, die Zellvitalität über mindestens 24 Stunden zu garantieren, ohne prognostische Kompromisse nach der Replantation machen zu müssen (Abbildung 1).

So lassen sich problemlos avulsierte Zähne aus einem Notfalldienst in der Nacht oder am Sonntag am nächsten Praxistag mit besserer (personeller) Infrastruktur replantieren oder zu einem Spezialisten beziehungsweise an eine Klinik überweisen. Auch können schwerwiegendere Verletzungen zunächst in der Kinderklinik oder der Unfallchirurgie behandelt werden. „Dentosafe“ enthält ein physiologisches Zell-Nährmedium, welches für die Transplantation von Inselzellen (Pankreas, Diabetes mellitus Typ-I) entwickelt wurde, sowie als Modifikation für den zahnärztlichen Einsatz ein komplexes Puffersystem zur Stabilisierung des pH-Werts und einen Farbindikator, der bei Absinken des pH-Werts in zelltoxische Bereiche (< pH 6) das rosafarbene Medium gelb färbt (Abbildung 2). Die Rettungsbox wird mit und ohne Zahn bei Raumtemperatur gelagert. Muss der avulsierte Zahn im Einzelfall längere Zeit extraoral aufbewahrt werden, kann der Zahn nach 24 Stunden in eine neue Rettungsbox überführt werden: Eine Lagerung von bis zu 48 Stunden ist möglich. Die Handhabung der Rettungsbox ist einfach. Nach Avulsion wird der Zahn ohne weitere Manipulation in die Box gelegt und der Deckel verschraubt. Anzumerken ist, dass der Zahn nur an der Zahnkrone und keinesfalls an der Wurzel berührt werden darf. Trotz der langen Überlebenszeit der Zellen sollte umgehend ein Zahnarzt aufgesucht werden. Die Zahnrettungsbox „Dentosafe“ ist drei Jahre haltbar (Verfallsdatum).

Falls eine endodontische Therapie indiziert ist, soll diese innerhalb von sieben bis zehn Tagen erfolgen.

Die Zahnrettungsbox sollte heute idealerweise in jeder Zahnarztpraxis, in jeder Unfallchirurgie und in jedem Notarztwagen vorhanden sein. Sie sollte ebenfalls dort verfügbar sein, wo häufig Zahnunfälle passieren. In Österreich beispielsweise sind landesweit alle Grundschulen mit Dentosafe® ausgestattet. In Deutschland und der Schweiz gibt es einige regional begrenzte Projekte; das am längsten (seit 1992) und besten dokumentierte Projekt ist das des Arbeitskreises Jugendzahnpflege in Frankfurt/Main. Dort konnte gezeigt werden, dass nach flächendeckender Verteilung in Grundschulen im Haltbarkeitszeitraum von Dentosafe® (drei Jahre) 8,2 Prozent aller Boxen im Zuge eines Zahnunfalls eingesetzt worden sind.

Befindet sich ein avulsierter Zahn länger als fünf Minuten außerhalb des Mundes, sollte er nicht sofort replantiert, sondern zunächst für mindestens 30 Minuten in die Zahnrettungsbox eingelegt werden [Kirschner et al. 2002]. Entstehende Toxine und Gewebszerfallsprodukte auf der Wurzeloberfläche können dort besser als im Parodont ausgeschwemmt werden, was die parodontale Regeneration begünstigt.

Vorgehen beim Zahnarzt

Die Therapie der Avulsion ist in aktuellen praxisbezogenen Lehrbüchern sehr detailliert beschrieben [Kirschner et al., 2002] und wird daher hier lediglich übersichtsartig wiedergegeben.

• Ist die Alveole mit einem Koagulum gefüllt, muss dieses vor der Replantation schonend entfernt werden.

• Die Alveole wird nur mittels Spülung (sterile isotone Kochsalzlösung), niemals durch Curettage gereinigt. Sichtbare Schmutzpartikel und lose Knochenfragmente werden mit feinen Pinzetten entfernt.

• Noch periostal fixierte Knochenstücke werden nicht entfernt, Knochenaussprengungen nach bukkal werden digital durch vorsichtige Kompression reponiert.

• Verletzungen der Gingiva werden gereinigt. Zur Entfernung kleiner Fremdkörper eignen sich Exkavator, Splitterpinzette und/oder sterile isotone Spülflüssigkeiten. Rupturierte Papillen sollten grundsätzlich nahtfixiert werden. Kleine vertikale Einrisse der Gingiva bedürfen meist keiner Nahtadaptation.

• Die initiale Behandlung des Parodonts besteht in der Vitalerhaltung der auf der Wurzeloberfläche haftenden Zementoblasten. Dies geschieht am Besten durch die Aufbewahrung in der Zahnrettungsbox.

• Wurde der Zahn anders aufbewahrt, wird heute je nach Zeitdauer und Art der Lagerung die Wurzeloberfläche medikamentös mit Tetrazyklinen, Steroiden und / oder Emdogain® (Straumann, Basel, Schweiz) behandelt. Diese Therapiekonzepte sind in der aktuellen Literatur genau beschrieben [Kirschner et al., 2002] und können hier aus Platzgründen nicht näher erläutert werden.

• Danach erfolgt die Replantation und Schienung, die heute am physiologischsten, schnellsten und besten mit der Titan- Trauma-Schiene TTS (Medartis, Basel, Schweiz) und Komposit durchgeführt wird (Abbildung 3). Beidseits des replantierten Zahnes wird je ein nicht gelockerter Zahn in den Schienenverband einbezogen; umfangreichere Schienen sind definitiv nicht erforderlich. Freiliegende Dentinflächen werden mit einem Ca(OH)2-Zement abgedeckt, auch wenn der Zahn später trepaniert wird. Dadurch kann ein Nachschub an Bakterien und Toxinen über eröffnete Dentintubuli vermieden werden.

Falls eine endodontische Therapie indiziert ist, soll diese innerhalb von sieben bis zehn Tagen erfolgen. Alternativ kann eine sofortige extraorale Wurzelkanalbehandlung von retrograd mit Hilfe von Titanstiften deutlich schneller und effektiver durchgeführt werden (RetroPost®, Fa. Brasseler-Komet, Lemgo) (Abbildung 4). Auch dieses Verfahren ist in der aktuellen Literatur detailliert beschrieben [Kirschner et al., 2002].

Medikation

Nach Avulsion wird eine systemische Antibiotika- Gabe für sieben bis zehn Tage empfohlen; Standard-Antibiotika in der zahnärztlichen Traumatologie sind heute Tetrazyklin/ Doxyzyklin. Zur Schmerzbekämpfung genügen in der Regel Paracetamol- Präparate. Zur Unterstützung der mechanischen Mundhygiene wird 0,1-prozentige Chlorhexidin-Diglukonat-Mundspüllösung empfohlen.

Feucht-kalte Umschläge zur Schwellungsminderung während zwei bis drei Tagen unterstützen das Wohlbefinden des Patienten. Bezüglich der Ernährung ist die Einnahme ausschließlich pürierter oder weicher Nahrung aus funktionellen Gründen sowie zur Vermeidung einer übermäßigen Plaqueakkumulation strikt abzulehnen. Der Patient muss zudem in der Schienenhygiene instruiert werden, um die parodontale Einheilung nicht zu kompromittieren.

Falsche Behandlung durch den Zahnarzt

Eine unüberlegte oder falsche zahnärztliche Behandlung avulsierter Zähne kann die zelluläre Situation des Zahnes so verschlechtern, dass eine Ankylose mit nachfolgendem Zahnverlust provoziert wird. Die wichtigsten Hinweise diesbezüglich sind, den Zahn/die Zahnwurzel keinesfalls mit in der Praxis vorhandenen desinfizierenden Lösungen, wie Wasserstoffperoxid oder Chlorhexidin, abzuspülen und ihn niemals mit hohem Kraftaufwand zu reponieren [Kirschner et al., 2002]. Avulsierte Zähne dürfen nicht an der Wurzeloberfläche berührt werden und keinesfalls austrocknen. Jede Art starrer Schienung von Zähnen provoziert eine Ankylose und ist daher heute in der zahnärztlichen Traumatologie obsolet [Kirschner et al., 2002]. Gleiches gilt auch für Kieferbruchschienen mit Drahtumschlingungen im Zahnhalsbereich oder Tiefziehschienen. Die heutigen modernen Schienen ermöglichen eine normale Zahnbeweglichkeit, werden in Abhängigkeit von der Verletzung nur für ein bis drei Wochen appliziert und gewährleisten eine optimale Mundhygiene approximal und marginal an den verletzten Zähnen [Von Arx et al., 2001]. Ein verletzter Zahn ist insgesamt unter zellulären Aspekten kompetent und schonend zu behandeln.

Standard-Antibiotika in der zahnärztlichen Traumatologie sind heute Tetrazyklin/Doxyzyklin.

Fazit

Die Zahnrettungsbox Dentosafe® gewährleistet als einziges kommerziell erhältliches Medium eine zellphysiologische Lagerung avulsierter Zähne über viele Stunden; die Prognose für das Parodont verschlechtert sich nicht. Sie sollte heute überall dort platziert werden, wo häufig Zahnunfälle passieren, nämlich in Schulen und Sportclubs. Nicht zuletzt auch aus juristischen Gründen sollte sie heute in jeder (!) Zahnarztpraxis vorhanden sein. Außerdem sollte sie auch in Kinderkliniken, Unfallchirurgien und im Notarztwagen verfügbar sein, wo schwerere Verletzungen behandelt werden müssen und sich initial niemand um die Zähne kümmern kann. Diese können dann einfach vom Arzt oder dem Rettungspersonal in die Box eingebracht werden; innerhalb von etwa 24 Stunden muss dann ein zahnärztliches Konsil veranlasst werden. Die Zahnrettungsbox hat sich als eines der wichtigsten Glieder in der Rettungskette avulsierter Zähne heute in mehreren europäischen Ländern etabliert und ist seit 2003 auch in den USA zugelassen.

Priv.-Doz. Dr. Andreas FilippiKlinik für zahnärztliche Chirurgie,– Radiologie, Mund- und Kieferheilkunde,Zentrum für Zahnmedizin der Universität BaselHebelstrasse 3CH – 4056 Baselandreas.filippi@unibas.ch

In modifizierter Fassung in „Zahnärztliche Nachrichten Sachsen-Anhalt“ 14, 29-31(2004) erschienen.

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.