Körperschmuck ist auf dem Weg zur Normalität
Die Neigung, die Haut mit Darstellungen zu schmücken, ist in Stammesgesellschaften bis heute weit verbreitet, in Europa dagegen seit der griechischen Idealisierung des Körpers auf wenige Ausnahmen, wie das Ohrlochstechen, beschränkt. Die ersten Tätowierungen (englisch: Tattoo) lassen sich auf 8 000 Jahre zurückverfolgen und tätowierte Mumien zeugen von der Beliebtheit der „Zeichen, die unter die Haut gehen“ bei den alten Ägyptern. Im 19. Jahrhundert ergriff eine Tattoowelle den europäischen Adel: Der französische General und spätere schwedische König Bernadotte war ausgerechnet mit dem Spruch verziert: „Tod den Königen“. Zar Nikolaj II, Kaiser Wilhelm, das griechische Königspaar Olga und Georg und die männlichen Mitglieder des englischen Königshauses – sie alle ließen sich bleibende Bilder auf die blaublütige Haut applizieren.
Tatoos für biedere Bürger
Heute zieren Tätowierungen längst nicht mehr nur die Haut einzelner Gruppen wie von Adligen, Matrosen oder Strafgefangenen. Aktuelle Zahlen aus Deutschland, die Psychotherapeutin Dr. Aglaja Stirn kürzlich auf einer Tagung in München präsentierte, bestätigen eindrücklich den stark zunehmenden Trend zur Formung und Manipulation des Körpers in fast allen Bevölkerungsschichten.
So führte die Befragung von je 1 000 ostdeutschen und westdeutschen Bürgern im Alter von 14 bis 92 Jahren zu der überraschenden Erkenntnis, dass in der Altersgruppe zwischen 14 und 24 Jahren bereits 41 Prozent der jungen Frauen und 27 Prozent der jungen Männer ihr Aussehen durch Tätowierung und/oder Piercing „verschönern“. Dabei gibt es deutliche Unterschiede in der Wahl der schmückenden Methode: Männer tragen deutlich mehr Tattoos als Frauen. In den Altersgruppen bis 44 Jahre ist bereits jeder fünfte Mann tätowiert. Bei Frauen finden sich Tattoos hauptsächlich in den Altersgruppen von 14 bis 34 Jahren, der Anteil beträgt jedoch lediglich 14 Prozent.
Frauen bevorzugen Piercing
Anders liegt die Sache beim Wunsch nach einem Piercing. In der Gruppe der 14- bis 24-Jährigen tragen bereits 38 Prozent der Frauen Körperschmuck an Augenbrauen, Ohrmuscheln, Lippen, Zunge, Nase, Nabel, Brustwarzen oder Genitalien. Der Anteil der Piercing tragenden Männer beträgt in diesem Alter 16 Prozent. Gerade das Zungenund Lippenpiercing spielt in der Zahnmedizin eine zunehmend bedeutende Rolle. Ein Beitrag hierzu ist über den Leserservice der zm zu bestellen.
In der Liebe zur Körperformung zeigen sich keine großen Ost-West-Unterschiede. Auch zwischen Besserverdienenden und unteren Einkommensgruppen gibt es kaum Differenzen. Es besteht allerdings ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Tragen von Piercings und der Arbeitslosigkeit: Junge Arbeitslose tragen fast doppelt so häufig Piercings wie junge Leute, die eine Beschäftigung haben oder noch zur Schule gehen.
Die früher häufig angenommene Verbindung zwischen erotischen Piercings, Sadomasochismus und Fetischismus lässt sich nach Ansicht von Dr. Aglaja Stirn nicht länger auf die gegenwärtige Situation anwenden. Piercing und Tattoo haben vielmehr mit einer modischen Entwicklung zu tun: „Körperschmuck kommt aus der Schmuddelecke hervor und wird zu einem eindrücklichen Bestandteil einer betont körperorientierten Lebensweise.“
Ausdruck von Lebensgefühl
Die Wissenschaftlerin unterstreicht: „Es scheint sich dabei generell nicht mehr um das Zeichen einer Autoaggression oder eines selbstverletzenden Verhaltens zu handeln. Vielmehr erscheinen Tattoos und Piercings als Ausdruck eines Lebensgefühls, das geprägt ist von Lust, Reiz an Provokation und der Ausformung einer neuen Ästhetik. Sie werden nicht mehr von einer extremen Minderheit als Körperschmuck verwendet, sondern sind auf dem Weg, sich bei jungen Menschen zum Normalfall zu entwickeln“.
Als Belohnung zum Abitur
Interessant ist die Beobachtung, dass viele Heranwachsende ihre Piercings in besonderen Lebensmomenten zulegen, um eine spezielle Episode zu „verewigen“ oder deren Ende oder Überwindung zu markieren. Oft geschieht es nach einer Krise, aber auch anlässlich positiver Entwicklungen. Solche „Piercing-Momente“ für Jugendliche sind zum Beispiel der bestandene Schulabschluss oder das Erreichen der Volljährigkeit.
Die Manipulation am eigenen Erscheinungsbild nimmt allerdings gelegentlich suchtähnliche Formen an. Ein amerikanischer Verhaltensforscher vergleicht Piercings und Tattoos mit Kartoffelchips: „Einer allein reicht nicht“. Dazu Dr. Stirn: „Der Wunsch, immer mehr Piercings haben zu wollen, stellt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine misslungene Identitätssuche dar und kann als Symptom für psychische Konflikte gewertet werden.“
Lajos SchöneMedizinjournalistGerstäckerstr.981827 München