Ausgebremst
Der Gesundheitsökonom Prof. Peter Oberender, Universität Bayreuth, ist einer der Fachleute, die sich klar für Liberalisierung aussprechen. Er sieht im Gesundheitswesen den Zukunftsmarkt der Industrieländer: Die Menschen geben mehr Geld für ihre Gesundheit aus und sind dazu auch bereit. Das Umsatzvolumen der Branche beträgt heute bereits über 250 Milliarden Euro jährlich. Die Branche könnte durchstarten – wären da nicht die Bremsklötze, sprich Regulierungen.
Das mittelständische Gesundheitswesen war in den letzten Jahrzehnten die Jobmaschine Deutschlands schlechthin und könnte es bleiben, behaupten auch Dr. Dr. Klaus Ursus Schendel und S. Wegener in ihrer Analyse „Die Jobmaschine“. Während andere Dienstleistungsbranchen immer häufiger ohne Mitarbeiter auskämen, sei gerade in Praxen die Arbeit von Menschen nötig, die Hand anlegen, Vertrauen pflegen, Kontakte knüpfen.
Auch Gesundheitsökonom Prof. Bernd Raffelhüschen, Freiburg, betont: Technischer Fortschritt bewirke im Gesundheitsmarkt mehr Beschäftigung. Denn je besser die Medizintechnik, desto mehr Krankheiten werden erkannt und therapierbar, desto mehr gilt es zu tun und zu bezahlen. Anders als in anderen Märkten steigert der Fortschritt Beschäftigung und Kosten. 2001 arbeiteten über vier Millionen Menschen im Gesundheitswesen, rechnet Schendel vor. Von 1980 bis 2004 habe sich die Zahl der Arbeitsplätze auf 4,2 Millionen mehr als verdoppelt. Die Zahl der 225 000 Arzt- und Zahnarzthelferinnen erreichte schon 1997 ein Plus von hundert Prozent.
In der Hitliste der zehn besten Arbeitsplatzbeschaffer schickte der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion das Gesundheitswesen schon 1996 auf das Siegertreppchen: 239 425 zusätzliche Mitarbeiter. Die Branche boomte. Aber nicht lange.
Abgewürgt von Vater Staat
„Seit Mitte der neunziger Jahre wird die ,Jobmaschine’ Gesundheit abgewürgt durch die weiter sinkende Lohnquote, durch Verschiebebahnhöfe, durch Budgetierung“, kritisieren Schendler und Kollegen die intensive Regulierung durch Vater Staat. Laut Berufsverband der Arzt-, Zahnarzt- und Tierarzthelferinnen nahmen Entlassungen zu, weil seitdem „seitens der Politiker permanent Änderungen im Gesundheitswesen vorgenommen oder angekündigt werden, die eine langfristige Planung in den Arztpraxen nicht möglich machen“.
Mittlerweile scheint auch die Politik das Potenzial wieder zu entdecken. Das Gesundheitssystem auf einen reinen Kostenfaktor zu reduzieren, missachte dessen enorme Schubkraft für Konjunktur und Beschäftigung, heißt es heute wieder. Dass die Politik ihre Erkenntnis bei der Reform konsequent im Auge behält, will sie noch vor der Sommerpause zeigen.
Höchste Zeit, meint die Fachwelt. Denn wird trotz der wachsenden Nachfrage nach Leistungen die Stellschraube „Ausgaben“ (sprich Umsätze auch der Freiberufler) angezogen, befürchten Ökonomen einen weiteren Stellenabbau in Praxen: „Kürzungen im Gesundheitswesen vernichten Arbeitsplätze“, das zeigten schon vor zehn Jahren die Berechnungen des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion. Damit aber würde die Regierung ihre eigentlichen Anliegen ad absurdum führen. Denn sie will die Arbeitslosigkeit bekämpfen.
Druck im Kessel
Eigentlich sind die Perspektiven „rosig“, meint zumindest das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin, als Fazit einer Untersuchung. In der Vergangenheit wuchs das Gesundheitswesen mit größerer Dynamik als jeder andere Dienstleistungszweig und könnte auch wieder enorm zulegen. Denn der Bedarf an Gesundheitsleistungen steigt und steigt. Dafür sorgt die demographische Entwicklung ebenso wie der Wertewandel in den Köpfen der Menschen, der ein höheres Bedürfnis nach Gesundheit als wichtigen Faktor für Lebensqualität schafft. In der Folge steigen die Leistungen ebenfalls im Kurs, die der Gesundheit weit über die medizinische Notwendigkeit hinaus gut tun. So berichtete das Magazin „Der Spiegel“ über erste „Wohlfühl-Zahnzentren“, die bei den Patienten wenigstens über den Umweg der Äußerlichkeit das Bewusstsein für körperliche Belange ausprägten.
„Gesund in Deutschland“ – das wird auch aus dem Ausland nachgefragt. Überraschen muss das nicht, die Qualität der Leistungen im deutschen Gesundheitswesen ist hoch. Dass die Patienten mit ihren Behandlern zufrieden sind, weiß das Bundesgesundheitsministerium für Gesundheit spätestens, seit das Forsa-Institut 2001 in seinem Auftrag forschte:
Eine gute medizinische Versorgung bestätigten die Befragten gerade dem Zahnarzt (82 Prozent der GKV-Patienten), dem Hausarzt (68 Prozent), dem Facharzt (67 Prozent) und im Krankenhaus (48 Prozent), auch bei Arzneimitteln (56 Prozent), Krankengymnastik und Massagen (39 Prozent) – und der Reha (33 Prozent).
Die Privatpatienten äußerten sich laut Forsa – außer bei den Hausärzten – noch positiver.
Milchmädchenrechnung
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt warnte mit Blick auf die Honorarforderungen der streikenden Ärzte indes vor einem neuen Kostenschub: „Ich halte die Forderungen für überzogen, weil ich nicht weiß, wer das bezahlen soll“, erklärte Schmidt Mitte Mai auf dem Hauptstadtkongress „Medizin und Gesundheit“ in Berlin.
Der Einwand, es sei nicht mehr Geld da, die Ausgaben seien zu hoch, nervt die Ärzte längst. Das eigentliche Dilemma ist, dass die wachsende Arbeitslosigkeit die breite Masse der Einzahler zusammenschrumpfte, der Leistungsanspruch eines jeden aber unverändert blieb. Das Ergebnis liegt auf der Hand: Wer die Gesamteinnahmen der GKV an das Bruttoinlandsprodukt koppelt, hält bei festgezurrten Beitragssätzen weniger in den Händen, sobald die Lohnquote sinkt. Das System in der Kostenfalle?
„Das Märchen von der Kostenexplosion“ entlarven Schendel und Kollegen anhand der Daten des Statistischen Bundesamtes: In den Wachstumsjahren 1984 bis 2004 stieg der GKV-Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 5,84 Prozent gerade um 0,08 Prozentpunkte. Den höchsten „Ausrutscher“ von 6,49 Prozent gab es 1995 mit umgerechnet etwa 114 Milliarden Euro. Damals brach die Branche ein. Sie hat sich noch nicht wieder erholt.
Im jahrelangen Tauziehen zwischen Medizinern und Regierung um ein neues Honorarsystem für die Praxisärzte hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) für die kommenden Wochen ein eigenes Konzept angekündigt, das bis Jahresende umgesetzt werden soll. Es bringe Entbürokratisierung, Transparenz und feste Preise für Ärzte. Die Politik kündigte bereits an, Pauschalen sollten die Punkte ablösen. Die KBV fordert aber auch abzuschaffen, dass der Wert einer ärztlichen Leistung abhängig von den Einnahmen der Krankenkassen eingeschätzt werde.
Die Kernaussage: Es fehlt de facto die angemessene kalkulierbare Vergütung für ärztliche und zahnärztliche Leistungen nach dem GKV-Katalog, die im SGB de jure festgeschrieben ist. Der Grund: Die Abhängigkeit von Einnahmen und Ausgaben der Kassen bedingt eine – von der Politik standhaft geleugnete – leistungsfeindliche Budgetierung mit Rationierungseffekten. Zumindest solange die Patienten nicht selbst zahlen.
Selbst subventioniert
Mehr noch: Aufgrund politischer Änderungen im Sozialrecht subventionieren die Ärzte zurzeit sogar teilweise ihre eigenen Honorare. Vor Hartz IV versicherten seinerzeit die Arbeitsämter Arbeitslose als beitragspflichtiges Mitglied in der GKV. Jetzt werden Arbeitslose über den arbeitenden Ehepartner familienversichert. Der Haken: Für diese überweisen die Kassen den KVen keine Kopfpauschalen. Ergo fehlen laut Deutschem Ärzteblatt jährlich 184 Millionen Euro.
Aber nicht nur die Ärztevetreter, auch Krankenkassenchefs wie DAK-Vorstandschef Prof. Herbert Rebscher monieren die Selbstbedienungsmentalität der Politik gegenüber der GKV. Rebschers Fazit: Ihre Honorar- und Strukturkonflikte könnten die Vertragspartner lösen, nicht aber die systematische Erosion ihrer Finanzgrundlagen. So verlor die GKV zum Beispiel vier Milliarden Euro durch die Zweckentfremdung der erhöhten Tabaksteuer. Sie war einst zur Finanzierung von Mutterschaftsgeld und Empfängnisverhütung beschlossen worden. Jetzt stopft sie Haushaltslöcher. Außerdem mussten die Kassen wegen der erhöhten Mehrwertsteuer auf Arznei- und Hilfsmittel eine weitere Milliarde in ihren Jahresetat einplanen, rechnete das Magazin „Der Spiegel“ im Januar dieses Jahres vor. Woher soll das Geld kommen?
Die aktuellen Zahlen auf dem Arbeitsmarkt suggerieren Hoffnung, dass sich die Einnahmen der GKV normalisieren: Im April 2006 meldete die Bundesagentur für Arbeit erstmals weniger als fünf Millionen, der Abwärtstrend hielt für Mai an.
Der Anteil der Arbeitgeber
Doch das Land braucht noch viel mehr Beschäftigung. Da werden missliebige Faktoren zum Teil viel zu heiß diskutiert. Die „Lohnnebenkosten“ zum Beispiel. Hier aber streitet sich die Wissenschaft. Angebliche Standortnachteile für hiesige Firmen durch die hohe „Belastung der Arbeitgeber in Deutschland durch gesundheitssystembedingte Kosten im Internationalen Vergleich“ führen kritische Wissenschaftler heim ins Reich der Mythen.
Das Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES), Berlin, und die Beratungssgesellschaft für angewandte Systemforschung (BASYS), Augsburg, ermittelten: Die Belastung liegt mit einem „Produktionswert“ von 3,2 international gemessen im Mittelfeld. „Theoretisch“, betonen sie, könnten Produkte im Schnitt hierzulande also um 3,2 Prozent günstiger werden, wenn der Arbeitgeberanteil wegfiele. Mehr Beschäftigung sei dadurch aber nicht zu erwarten!
Autor Schendel stimmt dem grundsätzlich zu: Die Belastung für die Arbeitgeber sei gering. Eine zehnprozentige GKV-Kürzung verringere Arbeitskosten effektiv nur um 0,5 Prozent. Die Öffentlichkeit überschätze die Bedeutung einer Beitragssatzsenkung für die Lohnkosten. Eine Beispielrechnung mit Daten von DaimlerChrysler macht den Irrtum klar: Angenommen die GKV-Beiträge fielen um zehn Prozentpunkte, so sinkt der Preis für ein 60 000 Euro teures Sport-Cabrio – um nicht einmal 50 Euro.
Freiraum beflügelt das Wachstum
Feste Preise, feste Regeln. Freiberufler müssen zu viele Auflagen erfüllen. Das monierte das Institut der deutschen Wirtschaft, Köln, jetzt im Mai 2006. Mit einem Wert von 4,0 auf der Wertskala gehöre Deutschland zu den Staaten mit den meisten Vorgaben. Derartige Regulierungen würden häufig damit begründet, sie garantierten einen hohen Qualitätsstandard und Verbraucherschutz. Die Erfahrung in Ländern mit weniger Regulierung widerlege diese Behauptung, so die Ansicht vieler Ökonomen. Denn dort stünden die Konsumenten eher besser denn schlechter da, weil
• sich das Preis-Leistungs-Verhältnis bessere und
• die Verbraucher dank gelockerter Werbebeschränkungen – ähnlich wie bei der
suche nach dem richtigen „Handwerker“ – schneller jenen „Kopfwerker“ fänden, der zu ihnen passe. Österreich und Belgien haben Preisregulierungen abgebaut, Frankreich und Dänemark verzichten völlig darauf. In Deutschland ignorieren laut einem Gutachten des Bundeswirtschaftministeriums zum Beispiel 40 Prozent der Architekten nach eigenen Angaben schlicht die Honorarordnung. Analysen des Instituts der deutschen Wirtschaft zur Situation aller Freiberufler in anderen Ländern zeigten: Freiraum beflügelt das Wachstum.
Die Kluft zwischen Theorie und Praxis
Produktiv – dieses Attribut steht vielen Vorgaben im Gesundheitswesen nicht zu: Das System ist ebenso undurchschaubar wie gigantisch, beschreibt es die Financial Times Deutschland: In der größten Branche setzten Ärzte, Apotheker, Heilpraktiker, Kliniken und Pharmakonzerne jedes Jahr mit 250 Milliarden mehr Euro um als Auto- oder EDV-Industrie. Doch anders als bei Autos und PC regeln nicht Angebot und Nachfrage den Markt, sondern die Sozialgesetzbücher IV und V – knapp 500 Paragrafen, die alles regeln, von „Arztgruppenbezogenen Regelleistungsvolumina“ bis „Zuzahlungshöchstgrenzen“. Für die Überzahl der Politiker ein weißer Fleck auf der Landkarte ihres Wissens.
Denn wer weiß schon, wieviel Geld etwa die Gutachten über den Risikostrukturausgleich verschlingen, gemäß dem allein im letzten Jahr 15 Milliarden Euro umverteilt werden mussten? Oder welch eine unproduktive Arbeitsbeschaffungsmaßnahme die Chronikerprogramme für das Bundesversicherungsamt darstellen, deren akribische Prüfung dort drei Referate in Atem hält.
Niedergelassene Zahnärzte kennen die Flut der Formulare für überflüssige Bürokratie, die ihre Arbeitszeit von den Patienten abzieht. Nachdrücklich arbeiten Bundeszahnärztekammer und Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung deshalb zurzeit konkret daran, dass die Regierung die für Praxen unsinnigen Auflagen aus den jeweiligen Gesetzestexten streicht oder Vorgaben der tatsächlichen Arbeitssituation anpasst. Die Mängellisten sind lang, die oft gestellten Fragen wohl berechtigt: Warum sollte ein Zahnarzt jeden individuell, also für nur einen Patienten, gefertigten Zahnersatz gemäß Medizinproduktegesetz (MPG) dokumentieren – für eine eventuelle Rückrufaktion im großen Stil, wie sie bei serieller Industrie- Produktion anfallen könnte? Wofür eine „Konformitätserklärung“ ausfüllen, wenn gemäß der ärztlichen Sorgfaltspflicht die Zahnersatz-Rechnung alle geforderten Angaben bereits enthält? Diese und andere kritische Fragen stellen die Interessensvertreter den Politikern, die zm werden in der nächsten Ausgabe ausführlich darüber berichten.
Zwischen Markt und Regulierung
Doch es gibt auch andere kritische Ansätze: Der Gesundheitsökonom Peter Zweifel, Universität Zürich, warnte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung davor, bei Beibehaltung einer Vollkasko-Versicherung die Regulierung völlig abzuschaffen. Die Krankenversicherung sei eine „prima soziale Erfindung“, zeige aber Nebeneffekte: Sie störe die Balance zwischen den drei Innovations- Kriterien für Produkte, Prozesse und Organisation eines freien Marktes: „Im Gesundheitssystem wollen die Leute immer das Neueste und Teuerste und durch die Versicherung reagiert ihre Nachfrage nicht auf den Preis.“
Bei einer Liberalisierung müsse sich auch die Struktur der Versicherung ändern, fordert Zweifel: Wahlfreiheit bei Tarifen könne zum Beispiel helfen, dass die Konsumenten hier endlich reagieren. Außerhalb der GKVLeistungen wissen viele Patienten bereits, was sie sich leisten (wollen).
Wissen, was Patienten wünschen
Will man die Chancen einschätzen, die sich dem Gesundheitswesen im weitesten Sinne öffnen, hilft die Sicht des Patienten weiter. Größtes Lebensglück sei für 99 Prozent der Bevölkerung in Deutschland die Gesundheit, erklärt Corinna Langwieser vom Zukunftsinstitut Matthias Horx, München. Für die Hitliste so genannter „heißer“ Werte hoben die Menschen auf die vorderen Plätze neben Eigenverantwortung: Liebe, Leben, Lebensqualität und Lebenssinn. Tatsächlich seien auch Gesunde 2006 noch eifriger als vor fünf Jahren um „seelisches und körperliches Wohlbefinden“ bemüht. 93 Prozent suchten in den letzten zwei Jahren einen Zahnarzt auf; das Gebiss gelte als ein Spiegel der eigenen Gesundheit, kommentiert Langwieser.
Also gute Aussichten? Bei gleichbleibenden Absolventenzahlen werden 2017 zehn bis 20 Prozent mehr Zahnmediziner in Deutschland arbeiten, schätzte der Präsident der Bundeszahnärztekammer, Dr. Dr. Jürgen Weitkamp (in: Uni 6/2004, S. 39). Und sie werden zu tun haben! Trotz Präventionserfolgen und weniger Patienten. Denn es wird mehr ältere Patienten geben, die besonders intensive zahnärztliche Betreuung nachfragen, so Weitkamps Prognose! 69 Prozent der Befragten plädierten übrigens laut einer Allensbach-Studie 2004 dafür, jeden, der nicht zur Prophylaxe geht, stärker an den Kosten zu beteiligen als Verantwortungsbewusste.
So sehen es auch die Autoren Birgit Mackenthun, Klaus-Dirk Henke und Jonas Schreyögg, Technische Universität Berlin, in „Gesundheitswesen als Wachstumsfaktor“ voraus: „Induziert durch sowohl nachfrageseitige Determinanten, zum Beispiel den demographischen Wandel, als auch angebotsseitige Faktoren, zum Beispiel Innovationen in der Medizin, kann man auch in Zukunft von einer zunehmenden Nachfrage nach Arbeitskräften in gesundheitsrelevanten Bereichen ausgehen.“ Sie stimmen der Formel „Health equals wealth“(„Gesundheit entspricht Wohlstand“) von EU-Kommissar David Byrne zu, mit der dieser den Zusammenhang von Gesundheit und wirtschaftlicher Entwicklung eines Landes skizzierte: ein Zuwachs an Lebensjahren zwecks Zuwachs an Arbeitsjahren. Entsprechend erinnerte eine Kommission der Weltgesundheitsorganisation WHO bereits 2001 daran, dass, wer Geld in die Gesundheitsversorgung steckt, die Wirtschaft ankurbelt.
Das Geschäft der Trittbrettfahrer blüht
Die Bevölkerung versteht jedenfalls unter „etwas für die Gesundheit tun“ mehr als „Krankheiten zu heilen oder vermeiden“. Langfristig gesund zu bleiben ist angesagt.
Und jeder ist jünger als andere: „Alt“ ist man heute mit 74 Jahren. Nur 17 Prozent derer über 50 Jahre jedenfalls fühlen sich so alt, wie sie sind; 72 Prozent meinen, sie sähen jünger aus – auf jeden Fall besser als ihre Altersgenossen, ergab eine Studie von Infratest dimap 2004.
Dafür will man auch etwas tun: Sport, Ernährung, Urlaub werden in den Dienst der Gesundheit gestellt; Gesundheit, Wellness, Selfness sind wichtige Werte in einer alternden Gesellschaft. Entsprechend sind die Lifetime-Sportarten jene, die man im Alter noch ausüben kann: Laufen, Radfahren, Schwimmen! In den USA ist bereits jedes 2. Fitnessstudio-Mitglied über 40 Jahre jung (GfK 2004, American Demographics 2003). Wellness, ursprünglich in der Arbeitsmedizin verwurzelt und zwischenzeitlich esoterisch angehaucht, entwickelt sich in den USA wieder zu einem seriösen Tätigkeitsfeld, berichtet Langwieser.
Healthstyle lost Lifestyle ab
Arbeitsunfähig ist ein Mitarbeiter heute im Schnitt acht Tage im Jahr, nicht einmal ein Drittel der krankheitsbedingten Auszeit vor zehn Jahren (25 Tage 1995).
Manche Arbeitgeber leisten dazu wiederum aktiv ihren Beitrag, etwa indem sie Work- Life-Balance-Dienstleister buchen. So offeriert ein Chemieunternehmen in Düsseldorf jedem (!) Mitarbeiter Wellness-Leistungen mit medizinischen Checks und Beratung am Wochenende.
Männer und Frauen definieren Wellness unterschiedlich: Männer suchen darin Entspannung und Wohlgefühl; Frauen wollen ihre Gesundheit und ihr Immunsystem stärken, ihre Lebenszeit verlängern, ermittelte das Rheingold Institut, Köln, Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen, 2002. Das Resultat ist aus kaufmännischer Sicht dasselbe: Beide Geschlechter investieren mehr in ihre Gesundheit und die ihrer Familie. Der Boom beginnt. Und mit ihm die ihm immanenten Gefahren.
„Mutiert Wellness zu Wellnepp?“, fragt deshalb die Zukunftsforscherin Langwieser kritisch: „Auf jeden Fall verändert diese Entwicklung das Gesundheitssystem!“ Die Umsatzprognosen für dieses Jahr belaufen sich auf 47,7 Milliarden Euro, das wären elf Milliarden mehr als vor vier Jahren.
Ebenfalls kritisch sieht Langwieser, wie Geschäftstüchtige nach Kranken als Kunden fischen, etwa die „Minute clinics“ in den USA mit dem Motto: „You are sick, we are quick!“: Komme der Patient in diese „clinic“, „behandelten“ ihn Krankenschwester oder -pfleger, selten ein Arzt. Solch gefährliche Praktiken machen die Grenzen für Eigenverantwortlichkeit bei ernsthaften Krankheiten besonders deutlich. Die Allensbacher Meinungsforscher fanden letztes Jahr heraus: Ärzte, Krankenschwestern, Apotheker genießen das höchste Vertrauen in der Bevölkerung. Selbstverantwortung, Selbstverbesserung, auch Selbstmedikation werden an Bedeutung gewinnen.
Functional-Fashion sorgt für Furore
Und die Zukunft weist noch andere Wege aus: Das waschfest Vitamin- C-spendende T-Shirt verspreche ebenso erhöhtes Wohlbefinden zu vermitteln wie Ayurveda-Strümpfe. Ein Chroniker-orientierter Versuch sei die Erforschung von Heilkleidung zum Beispiel für Diabetiker, durch die Insulininjektionen sich mindern ließen. Oder das Life- Shirt, das die Herzfunktion überwacht. Die Firma Philips „bastelt“ an einem Badezimmerteppich, der Körperfunktionen misst – und im Spiegel könnte sich laut Zukunftsvision gleich der Hausarzt im Ernstfall dazuschalten … Health-Technik soll Freiheit schenken und die Leistungsfähigkeit steigern. Auch das schafft Arbeitsplätze.
„High-Touch“ vor „High-Tech“
Aber zurück zum „Heute“: Gesundheit ist das wichtigste Gut der Menschen in Deutschland. Entsprechend hoch steckten drei Viertel der Patienten ihre Erwartungen an einen „guten Arzt“, von dem sie neben fachlicher Kompetenz unbedingt erwarten, dass er sich die Zeit nimmt, ihnen zuzuhören und ihnen alle Aspekte ihres Einzelfalls für sie verständlich zu erklären, damit sie Vertrauen zu ihm finden: „High-Touch statt High-Tech“ ist das Fazit einer Allensbach- Studie 2003. Wer das bezahlen soll? Die Ökonomen geben eine klare Antwort: Der Markt wird es richten.