„Wir sind das Netz“
Auf dem Basar geht es rege zu, zuweilen geradezu chaotisch. Und doch bietet er alles, was das Herz begehrt. Die Kathedrale hat dagegen nur ein Produkt im Angebot – entweder man kauft oder verzichtet.
Der Basar, das ist die freie Programmierszene. Sie besteht aus unzähligen einzelnen EDV-Fans, die sofort und flexibel auf die Wünsche der User reagieren und ständig neue Software erzeugen. Die Kathedrale, das ist die klassische Software-Industrie. Sie versucht den Markt zu kontrollieren und kleinere Anbieter systematisch auszuschalten. Ihre Ware ist nicht auf die Bedürfnisse der Benutzer zugeschnitten und bleibt deshalb stets unter Bestniveau.
Kathedrale und Basar
„Kathedrale und Basar“, so heißt das Manifest für freie Software, in dem Eric Steven Raymond 1997 zum ersten Mal das Betriebssystem Linux bewertet. Linux steht beispielhaft für Open Source, also für eine Software, die nicht von Konzernen produziert, sondern im Do-it-your-self-Verfahren von den Nutzern selbst erarbeitet und permanent weiterentwickelt wird.
Das Open Source-Prinzip galt in der Webgesellschaft immer als Garant für sichere Software und Information im Netz. Denn im Unterschied zu Programmen des Medienmoguls Microsoft können die Anwender hier den Quellcode, das Strickmuster der Programme (etwa HTML und Java), einsehen und verändern. Und dadurch – unabhängig von den Herstellern – die Software optimieren. Arbeitet ein Programm unzureichend, gibt es immer einen Spezialisten in der Szene, dem der Fehler auffällt und der ihn behebt. Viren breiten sich im Gegensatz zur Monokultur ebenfalls seltener aus. Während Kunden von Microsoft in der Regel keine andere Wahl bleibt, als sich mit Programmdefekten abzufinden, hilft sich die Gemeinde selbst. Schnell, unkompliziert und kostenlos. Jeder profitiert von der Dynamik – genau das ist der Grund, warum dieses Konstrukt bislang so erfolgreich funktioniert.
Freiheit und Demokratie im Internet
Das System kuriert sich selbst. Nicht nur in Sachen Software. Auch die Inhalte stellt man selber her. Open Source impliziert, dass Foren, Portale und Blogs ständig von den Usern bearbeitet und aktualisiert werden. Jeder hat Zugriff auf die Seiten oder kann sich zumindest teilweise daran beteiligen.
Die Community ist überzeugt: Regiert in allen anderen Medien die Zensur, die die Nachrichten verschleiert und verfälscht, entlarven die freien Quellen Machtinteressen und transportieren Basisfakten. Die alten Eliten setzten hingegen alles daran, ein Monopol auf das Wissen zu errichten und die offene Plattform „Internet“ zu verhindern. Statt aufzuklären, manipulierten sie mithilfe der Medien die Berichterstattung. Diese Machtstrukturen will die Community zerstören und allen den Zugang zur Bildung ermöglichen. Freie Software, bilanziert Raymond, sei ein Segen für die Nutzer. Denn der Basar schläft nie. So dachte Raymond, so dachten die Nutzer.
Bis im Herbst vergangenen Jahres die Hiobsbotschaft einschlug: Wikipedia, größte Online-Enzyklopädie der Welt, das Vorzeigeprojekt überhaupt, hatte Monate lang Falschmeldungen auf der Seite stehen. Ende Oktober gestand Jimmy Wales, Gründer von Wikipedia, die Wiki-Artikel zu „Bill Gates“ und „Jane Fonda“ seien „eine entsetzliche Blamage“ und „nahezu unleserlicher Mist“. Es hieß außerdem, dass findige PR-Agenten im Tohuwabohu der Debatten auf Wikipedia gezielt ihre Werbung platzieren. Ende November erklärte überdies John Seigenthaler, 78 Jahre und ehemaliger Assistent Robert Kennedys, der Wiki-Beitrag über ihn habe behauptet, er sei in die Kennedy- Morde verstrickt. Niemand hatte die Online-Enten bis dato bemerkt, geschweige denn korrigiert. Die Selbstkontrolle hatte versagt.
Open Source-Kreise waren geschockt, ein Skandal. Hatte Wikipedia, Teil des geschäftigen Basars, geschlafen? Oder ist das etwa der Preis der grenzenlosen Freiheit, fragte man sich verstört.
Mittlerweile hat man bei Wikipedia eine Bestandsaufnahme gemacht. Um Missbrauch in Zukunft vorzubeugen, dürfen in der englischsprachigen Version die Nutzer ab jetzt nur dann neue Artikel anlegen, wenn sie sich angemeldet haben. Das Account soll wie ein Filter wirken gegen Nonsens und Vandalismus. Nicht die Qualität der Artikel sei jedoch das Problem, sagt Kurt Jansen vom deutschen Wikipedia- Verein: Schwierigkeiten bereiten eher die Texte, die lange Zeit unbeobachtet bleiben. Wichtig sei, dass man sich nicht nur einen Artikel zum Thema anschaut, sondern versuche, das Wissen anhand anderer Quellen zu verifizieren. Das ist genau der Trick: Die Verlässlichkeit der Infos überprüfen die Wikipedianer, indem sie sich vor allem die Änderungen anschauen, die an einem Bericht vorgenommen wurden.
Als Wikiprawda geschmäht – dennoch hoch gelobt
Aber wurde die Wikipedia von bösen Zungen auch als „Wikiprawda“ und „Brockhaus des Halbwissens“ geschmäht: Die Kritik kann dem Online-Lexikon anscheinend wenig anhaben. Jetzt erst stellte das britische Fachjournal Nature in einer Untersuchung fest, dass die Wikipedia kaum schlechter sei als die Encyclopaedia Britannica. Der König ist tot, es lebe der König – und die Revolution geht weiter.