Shared Decision Making im Gesundheitswesen

Schwerpunkt neu justiert

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Patientenmitentscheidung spielt im Gesundheitswesen eine wachsende Rolle. Die Versorgungsforschung spricht von Shared Decision Making oder Partizipativer Entscheidungsfindung. Politisch wird dieser Schwerpunkt auf der Makroebene immer mehr verankert, auch auf der Mikroebene zwischen Arzt und Patient werden ganz allmählich die Weichen neu gestellt. Ohne verlässliche Informationen, die der Patient zunehmend aus dem Internet erhalten kann, läuft aber nichts. Die Krux besteht darin, bei einem inflationären Angebot die Spreu vom Weizen zu trennen.

Tonia L. (Angaben geändert, sind der Redaktion bekannt) aus Freudenberg, Kreis Siegen, ist 82 Jahre alt und leidet seit Jahren unter Arthrose. Geistig noch äußerst präsent, zwingen starke Knieprobleme die von ihrem Naturell her agile alleinstehende Rentnerin dazu, ihre Schritte mit äußerstem Bedacht zu wählen. Heftige Schmerzen veranlassten sie kürzlich zu einem Besuch beim Orthopäden, der ihr – ohne umfangreichere Infos zu nennen – riet, sich ein künstliches Kniegelenk einsetzen zu lassen. 14 Tage Krankenhaus, drei Wochen Reha – und danach „geht es dann wieder“, hieß es beim Arzt.

Die Krux: Ob die Mobilität der Patientin nach der Reha in erforderlichem Maße wieder hergestellt werden könnte, wäre sehr fraglich. Die Lebensqualität der Patienten wäre auf lange Zeit, wenn nicht gar permament, eingeschränkt. Tonia L. wollte sich mit der Situation nicht abfinden, sie besorgte sich über ihre Nichte qualitätsgesicherte Informationen zum Krankheitsverlauf und seinen Folgen aus dem Internet und ließ sich telefonisch bei den Beratungsstellen von Ärztekammer und Krankenkasse mit Wissen versorgen. Nach dem Besuch eines weiteren Arztes steht jetzt fest: Es gibt für Frau L. Alternativen zur Operation. Mittels Spritzen und Tabletten wird sie zwar künftig nicht beschwerdefrei leben können, aber bleibt noch so weit mobil, dass ihre Lebensqualität in ihrem hohen Alter nicht über Gebühr beeinträchtigt wird.

Der Krankheitsfall von Tonia L. ist nur einer von vielen. Daran wird aber eine Entwicklung deutlich: Mehr Beratung und Information tun Not. Immer mehr Patienten wünschen sich eine weitergehende Beteiligung am medizinischen Entscheidungsprozess, und zwar in Diagnostik wie Therapie. So hat beispielsweise eine internationale Befragung („The European Patient of the Future“ aus dem Jahr 2003) von Bürgern und Patienten in acht europäischen Ländern gezeigt, dass die Mehrheit der Patienten in Deutschland wie auch in anderen Ländern großen Wert darauf legt, Informationen zu erhalten, Fragen stellen zu können und sich an den Entscheidungen zu beteiligen. Häufig vermissen die Patienten jedoch die Unterstützung durch ihre Ärzte.

Versorgungspolitisch bedeutsam

Das Ganze geht über bloße Einzelfalldiskussionen oder die pure Wissenschaft hinaus und hat eine versorgungspolitische Komponente. Genauer gesagt geht es um die Diskussion der Mitentscheidung im Gesundheitswesen, die – im Gegensatz zu beispielsweise den USA oder Großbritannien – in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckt. Doch auch hierzulande werden die Stellschrauben ganz allmählich versorgungspolitisch neu justiert. Der Prozess, Patienten stärker im Gesundheitswesen zu beteiligen, fasst langsam Fuß und sickert über die Versorgungsforschung in die Praxis. Die deutsche Gesundheitspolitik hat gerade in den letzten Jahren in Sachen Mitentscheidung die Weichen neu gestellt: Das GKV-Modernisierungsgesetz von 2002 ermöglicht neue Informations- und Wahlrechte für Versicherte, mehr Transparenz im Gesundheitswesen und die Stärkung von Kompetenz und Eigenverantwortung. Weitere Maßnahmen sind zum Beispiel die beratende Einbindung von Patientenvertretern in den Gemeinsamen Bundesausschuss, die Gründung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) mit dem Ressort Patientenbelange oder die Berufung von Helga Kühn-Mengel als Patientenbeauftragte der Bundesregierung.

Es geht um das Prinzip des Shared Decision Making (SDM), auf deutsch etwas sperrig übersetzt mit Partizipative Entscheidungsfindung (PEF). Diese Versorgungsforschungsrichtung gründet auf der Forderung nach Autonomie und Mitsprache im Arzt-Patienten-Verhältnis. Statt der einzelnen Beratung steht eine lebenslange ärztliche Begleitung im Mittelpunkt, die auf einem partnerschaftlichen Kommunikationsmodell beruht. Ausmaß und Intensität hängen dabei von patientenbezogenen Merkmalen wie Alter und Schulbildung, aber auch vom individuellen Gesundheitszustand oder persönlichen Präferenzen ab. Weg vom paternalistischen Prinzip und hin zur Partizipation – das ist die Richtung.

Weitere Verankerung

Das Bundesgesundheitsministerium hat als Maßnahme zur weiteren Verankerung den Förderschwerpunkt „Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess“ gegründet. Von 2001 bis 2004 hatten zehn geförderte Projekte an Universitäten die Möglichkeit zu erproben, wie eine partnerschaftliche Behandlungsentscheidung von Patient und Arzt umgesetzt werden kann. Da die Modelle gezeigt haben, dass die partzipative Entscheidungsfindung die medizinische Versorgung stark verbessert und die Compliance der Patienten unterstützt, werden zwei Transferprojekte zur Umsetzung in die Praxis (Universitäten Heidelberg und Freiburg) weiter mit Fördermitteln unterstützt (die zm berichteten).  Der vierte Deutsche Kongress zum Thema Partizipative Entscheidungsfindung am 30. März und 1. April 2006 in Heidelberg widmete sich dem Thema, wie SDM von der Wissenschaft in die Praxis umgesetzt werden kann. Prof. Dr. Wolfgang Eich von der Heidelberger Uniklinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin verdeutlichte auf dem Kongress, dass dazu eine mehrstufige Vorgehensweise notwendig sei. Zunächst werde wissenschaftlich herausgearbeitet, welche Effekte Shared Decision Making überhaupt habe. Daraufhin erfolge eine Erprobung in Modellprojekten. Die Öffentlichkeit werde über Presse und Internet eingebunden. Elemente des SDM würden darüber hinaus in der medizinischen Ausbildung wie in der ärztlichen Fortbildung verstärkt implementiert.

Eine interessante Beobachtung ist, dass über eine Neudefinition der Patientenrolle letztlich auch das Gesundheitssystem insgesamt beeinflusst wird. Patienten sollen Therapieentscheidungen kritisch hinterfragen, die Evidenz von Verfahren in Betracht ziehen, kompetent und eigenverantwortlich agieren und sich gegen inadäquate diagnostische oder therapeutische Maßnahmen entscheiden. Bessere Therapieentscheidungen sollen nach dem Willen der Politik zu besseren Behandlungsergebnissen und letztlich zu mehr Effektivität und Qualität im Gesundheitswesen führen.

Die versorgungspolitischen Entwicklungen gehen weiter, und es entstehen inzwischen Netzwerke, auch über die deutschen Grenzen hinweg. So gab das IQWIG vor kurzem bekannt, dass es mit seinen Pendants in Frankreich (Haute Autorité de Santé (HAS)) und England (National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE)) kooperieren werde, um Projekte auszutauschen, Methoden gemeinsam weiterzuentwickeln und Forschungsergebnisse wechselseitig zu nutzen. Anfang Mai wurde in Berlin das „Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF)” gegründet. Hier geht es darum, die Vernetzung zwischen Wissenschaft und Praxis weiter zu fördern.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert von 1999 bis 2008 insgesamt 17 Kompetenznetze in der Medizin mit mehr als 225 Millionen Euro. Unterstützt wird innerhalb eines Krankheitsbereichs die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Ärzten mit Fokus auf den Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis. Ein schwerpunktmäßiges Anliegen dabei ist die verlässliche und gut aufbereitetet Patienteninformation.

Verlässliche Information

Dreh- und Angelpunkt bei Shared Decision Making ist eine verlässliche Information, die den Patienten in die Lage versetzt, eigenverantwortlich zu handeln („Empowerment“). Daran gibt es in Deutschland kein wirkliches Defizit, das Ganze kommt eher inflationär daher. Die Krux ist, die Spreu vom Weizen zu trennen. Ob Illustrierte, medizinische Einrichtung, Apotheke, Tagespresse, Funk und Fernsehen oder Pharmawerbung – es existieren Berge von Informationen, Ratgebern, Broschüren, Webseiten, Downloads und mehr. Vor allem durch das Internet ist der Zugang zu Informationen schier unerschöpflich. Schwierig ist es dabei, herauszufinden, welche Informationen tauglich, seriös oder gar evidenzbasiert und qualitätsgesichert sind. Im Folgenden werden beispielhaft einige Informationsquellen und Projekte genannt. Einen Wegweiser durch das Dickicht der Informationen hat die Zeitschrift „Stern“ erarbeitet. In zwölf Heften im ersten Quartal dieses Jahres ist eine Artikelserie „Der große Ärzte-Check“ erschienen, die umfassenden Rat zum Thema gibt. Ein ehrgeiziges Projekt zu Gesundheitsinformationen hat die Europäische Kommission gestartet. Ein neues EU-Online-Portal will solide Gesundheitsinformationen für EUBürger, Gesundheitsexperten und Wissenschaftler im Internet zugänglich machen. Das Webangebot erscheint momentan noch etwas unvollständig, soll aber demnächst in 20 Sprachen verfügbar sein und bietet 40 000 Links.

Zunehmend an Bedeutung gewinnen qualitätsgesicherte medizinische Informationen. Das IQWIG veröffentlicht seit Februar 2006 regelmäßig dem aktuellen Stand der Medizin entsprechende Informationen für Bürger und Patienten. Zu vielen Themen sind bereits Beiträge auf der Webseite erschienen. Das Angebot wird sukzessive ausgebaut und ist mittlerweile auch in englischer Übersetzung abrufbar. Wichtiges Anliegen des Instituts sei es, dem Patienten Zugang zu neuen wissenschaftlichen evidenzbasierten Gesundheitsinformationen zu ermöglichen, erklärt Hilda Bastian, Ressortleiterin Gesundheitsinformation beim IQWIG. Er solle in die Lage versetzt werden, besser und eigenverantwortlich Gesundheitsentscheidungen zu treffen. Das Angebot von www.gesundheitsinformation.de werde gut angenommen, seit dem Start seien – grob geschätzt – eine viertel Million Besucher zu verzeichnen, berichtet Bastian.

Auch die Krankenkassen bieten ihren Versicherten Informationen an. Mit ihren Angeboten richten sie sich vornehmlich an diejenigen Nutzer, die ausdrücklich informiert werden wollen. Dabei richte sich die Hoffnung der Kassen auch auf positive Kosteneffekte durch eine aktive und bewusste Mitentscheidung des Patienten zur Therapie, wie Hans Jürgen Ahrens und Heike Wöllenstein vom AOK-Bundesverband in der Fachliteratur (siehe Kasten) betonen. Maßnahmen, die die Eigenverantwortung fördern, spielten eine wichtige Rolle, um die Identifikation der Versicherten mit ihrer Kasse zu stärken – und deren Wettbewerbsposition am Markt zu verbessern.

Die Kassen bieten ihren Versicherten eine große Bandbreite an Informationen, angefangen von Gesundheitsberatung durch Call-Center, persönlichen Beratungen (auch im Rahmen des Behandlungsfehlermanagements), ausführlichen Internet-Angeboten, Krankenhaus-Navigator bis hin zu Patientenschulungen im Rahmen von Disease-Management-Programmen (DMP).

Vor kurzem wurde ein von den Spitzenverbänden der Kassen geförderter Modellverbund „Unabhängige Patientenberatung Deutschland gGmbH“ gegründet. Träger des Verbundes sind der Verbraucherzentrale Bundesverband, der Sozialverband VdK Deutschland und der Verbund unabhängige Patientenberatung. 22 regionale Beratungsstellen sind über das gesamte Bundesgebiet verteilt. Ziel ist es, bis zum Jahr 2010 dem Gesetzgeber eine wissenschaftlich abgesicherte Entscheidungsgrundlage an die Hand zu geben, wie sich unabhängige Patientenberatung dauerhaft gestalten lässt. Das Aktionsforum Gesundheitsinformationssystem (afgis) hat die Aufgabe, Qualitätskriterien für Gesundheitsinformationen für die neuen Medien zu entwickeln. 170 Kooperationspartner, darunter Krankenkassen, Patientenorganisationen, Universitäten, medizinische Fachgesellschaften, Körperschaften der Heilberufe sowie medizinische Dienstleistungs- und Portalanbieter, sind beteiligt, die ein qualitätsgesichertes Gesundheitsinformationssystem für Bürger anbieten wollen.

Evidenzbasiert

Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), von Bundesärztekammer (BÄK) und Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) 1995 gegründet, konzentriert sich unter anderem schwerpunktmäßig auf die Entwicklung und Implementierung nationaler Leitlinien und Patienteninformationen für wichtige medizinische Versorgungsbereiche. Dabei geht es um die Entwicklung, Verbreitung und Implementierung von Leitlinien für Ärzte, Informationen zur Evidenz in der Medizin, aber auch um die Bewertung und Entwicklung von Patienteninformationen. Für den Patienten und Verbraucher bietet es Zugang zu qualitätsbewerteten, verlässlichen und unabhängigen Gesundheitsinformationen. Das ÄZQ gibt zum Beispiel ein „Manual Patienteninformation“ heraus, das Empfehlungen zur Erstellung von evidenzbasierten Pateiteninformationen bietet. Für Patienten wird auch eine Checkliste „Woran erkennt man eine gute Arztpraxis“ angeboten.

Seit kurzem gibt die KBV einen neuen Patienten-Newsletter heraus. Er erscheint quartalsweise, informiert über aktuelle gesundheitspolitische Informationen und stellt die Arbeit der ärztlichen Selbstverwaltung dar. Insbesondere sollen künftig Einrichtungen und Projekte vorgestellt werden, die die erfolgreiche Zusammenarbeit von Patienten, Selbsthilfeorganisationen und Ärzteschaft unterstützen oder neue Kooperationsformen ermöglichen. Die KBV wolle im Rahmen ihrer strategischen Ausrichtung als Dienstleister nicht nur mit Ärzten, sondern auch mit Patienten in Kontakt treten, erläutert Pressesprecher Roland Stahl. Das Medium Newsletter ziele in diese Richtung. Außerdem plane die KBV einen Patientenbeirat, der den Vorstand beraten soll, sowie eine Stabsstelle für Patientenbelange.

Herausforderung

Der Patient wird von einer solchen Angebotsfülle förmlich erschlagen, und selbst das Label „qualitätsgesichert“ macht für ihn die Informationssuche nicht einfacher. Auch für den Arzt ergeben sich eine Menge offener Fragen und Verunsicherungen. Viele befürchten zum Beispiel, dass sie für die Konsultation mehr Zeit aufbringen müssen, die sie ohnehin nicht haben. Untersuchungen haben zum Beispiel ergeben, dass durch SDM die Dauer der Konsultationen nicht unbedingt verlängert wird, dass aber die zur Verfügung stehende Zeit effektiver genutzt wird.

Patienten treten zuweilen als Spezialisten in eigener Sache auf. Es kann vorkommen, dass sie über das Netz Informationen recherchiert haben, von denen der Arzt noch nichts weiß. Hier ist Fingerspitzengefühl gefordert. Oft muss der Arzt Patienten für die Gefahren sensibilisieren, die die ungefilterte Annahme von Infos mit sich bringt. Fest steht auch, dass nicht jeder Patient frei entscheiden will – oder kann. Manch einer möchte sogar seine Verantwortung lieber an seinen Arzt abgeben.

Die Rolle des Arztes wird sich in Zukunft verändern und sich immer stärker am Modell des Shared Decision Making orientieren. Gerade die Zahnmedizin spielt hier eine Vorreiterrolle (siehe nachstehenden Beitrag). Dabei sind kommunikative Fähigkeiten in verstärktem Maße gefordert. SDM ist bereits in etlichen Modellprojekten erfolgreich praktiziert worden und ist auch in der ärztlichen Fortbildung ein Thema. In der studentischen Ausbildung gibt es bereits viel versprechende Ansätze (ein Beispiel: Projekt Heicumed an der Universität Heidelberg).

Doch trotz aller Versorgungspolitik und Wissenschaftstheorie: Letztlich klärt sich alles im Rahmen des Miteinanders zwischen dem Arzt als medizinischem Experten und dem Patienten als medizinischem Laien. Und an diesem vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnis als der eigentlichen Basis für die Therapieentscheidung dürfte sich auch in Zukunft nicht viel ändern.

Für Tonia L. steht jedenfalls fest: Sie ist froh, ihren Orthopäden gewechselt zu haben und betont, dass sie nun den Arzt ihres Vertrauens gefunden hat.

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