Zum Thema Alter und Risiko
Die Diskussionen um die Zukunft unserer Rentensysteme verdeutlichen die demografische Entwicklung unseres Kulturkreises in den letzten Jahrzehnten. Das durchschnittliche Alter unserer Bevölkerung wird sich aufgrund der seit über 35 Jahren sinkenden Geburtenquote und der parallel steigenden Lebenserwartung, weiter kontinuierlich erhöhen. Somit ist mit einem weiteren Zuwachs an älteren und sehr alten Patienten in den zahnmedizinischen Praxen zu rechnen. Das Wissen über die psychologischen, physiologischen und medizinischen Aspekte des Alterns ist Grundlage für eine adäquate Behandlung.
Defizitmodell des Alterns
Priv.- Dozentin Dr. Renate Deinzer, Düsseldorf, eröffnete das wissenschaftliche Programm mit einem Vortrag über die psychologischen Aspekte des Alterns. Das Defizitmodell des Alterns – in der westlichen Welt gleichgesetzt mit Funktionsverlust – gilt in der entwicklungspsychologischen Forschung heute als überholt. Die Kenntnisse, die zu diesem Modell geführt haben, beruhen im wesentlichen auf Querschnittsuntersuchungen, in denen Menschen verschiedenen Alters, die zugleich auch verschiedenen Generationen angehörten, miteinander verglichen wurden. Einflussgrößen wie beispielsweise der Bildungsstand der Personen und unter Umständen vorliegende Demenzen wurden in diesen Untersuchungen kaum berücksichtigt. Dr. Deinzer erläuterte die Methoden entwicklungspsychologischer Forschung und ihre spezifischen Interpretationsprobleme. Sie gab einen Überblick über aktuelle Daten zu altersassoziierten Veränderungen von Intelligenz, Weisheit, Gedächtnis, Persönlichkeit und Emotionalität. Im Ergebnis wird deutlich, dass die genannten psychischen Funktionsbereiche im allgemeinen weniger vom Alter einer Person abhängen als von zahlreichen anderen Faktoren. Dennoch lassen sich einige wenige spezifische altersassoziierte Veränderungen identifizieren, die in der zahnärztlichen Praxis relevant werden können.
Der Gesundheitsstatus eines heute 60jährigen darf als besser eingeschätzt werden als der eines 50jährigen noch in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts laut Prof. Dr. Roland Hardt, Mainz. Trotzdem steht der Zahnarzt spezifischen medizinischen Problemen gegenüber. Die häufigsten Krankheiten sind sicherlich die Herz-Kreislauferkrankungen und degenerative Erkrankungen. Die erfolgreiche Behandlung chronischer Erkrankungen, wie zum Beispiel des Diabetes mellitus, hat zudem zur Folge , dass die Altersmedizin mit einer steigenden Zahl von alt gewordenen Kranken konfrontiert ist. Nicht zuletzt bedingt die veränderte Überlebenszeit auch eine Verdopplung der Inzidenz von bösartigen Neubildungen in der kommenden Dekade.
Priv.- Dozentin Dr. Ina Nietschke aus Leipzig machte deutlich, dass sich das Profil des zahnärztlichen Versorgungsbedarfes im Alter in den letzten Jahren zunehmend geändert hat. Ursächlich sind die Fortschritte in der Prophylaxe der restaurativen Zahnheilkunde einschließlich der Parodontologie, Implantologie sowie der Zahntechnik. Der Zahnarzt steht einem Patienten gegenüber, welcher erst im höheren oder hohen Lebensalter seine Zähne verliert und dessen Adaptionsfähigkeit besonders für herausnehmbaren Zahnersatz gleichzeitig zunehmend geringer wird.
Perioperative Morbidität
Die perioperative Morbidität und Mortalität sind beim älteren Patienten trotz des medizinischen Fortschrittes operativer und anästhesiologischer Verfahren, gegenüber jüngeren Patienten deutlich erhöht. In die Risikobewertung bei der präoperativen Untersuchung müssen zunehmende Veränderungen von Körperfunktionen berücksichtigt werden, so Priv.-Dozent Dr. Hendrik W. Gervais, Mainz. Beispielsweise erfordert die veränderte Pharmakokinetik und -dynamik beim älteren Patienten in den meisten Fällen eine individuelle Höchstdosis des Lokalanästhetikums. Besonders gewissenhaft sollte im Rahmen der Anamnese die Einnahme von Medikamenten erfragt werden, um zum Beispiel Medikamenteninteraktionen zu identifizieren. Die Art des geplanten Eingriffs sollte ebenso individuell auf den Patienten abgestimmt und in die Risikobewertung mit einbezogen werden.
Psychologische Aspekte bei Kindern und Senioren
Prof. Dr. Hartmut Hagemann, Hannover, erläuterte die Bedeutung des Qualitätsmanagements in den Ablauforganisationen der anästhesiologischen Betreuung von alternden Patienten. Er schilderte das strukturierte Vorgehen von der präoperativen Untersuchung bis hin zur konsequenten postoperativen Analgesie in der geriatrischen Anästhesie. Vor allem sollten in der Anästhesie von Kindern und älteren Patienten die psychologischen Besonderheiten höchste Priorität haben.
Anknüpfend ging die Priv.-Dozentin Dr. Dr. Monika Daubländer, Mainz, auf die individuellen Aspekte in der zahnärztlichen Behandlungsplanung ein. Die Diagnostik und Therapie geriatrischer Patienten stellt an den Zahnarzt besonders hohe Anforderungen. Zuweilen ist eine adäquate Behandlung nicht ohne Einbeziehung der Angehörigen, beziehungsweise des Pflegepersonals möglich. Eine Einteilung dieser Patientengruppe im Rahmen der Therapieplanung erscheint sinnvoll, um die zunehmenden medizinischen und gegebenenfalls auch pflegerischen Aspekte individuell berücksichtigen zu können. Die organisatorische Herausforderung an das Umfeld dementer Patienten ist oft enorm und bedingt nicht selten auch eine Kompromissbehandlung.
Lässt sich jedoch eine konsequente Therapie ermöglichen, so zeigte Dr. Pia M. Jervoè- Storm, Bonn, an vielen gut dokumentierten Fallbeispielen, dass auch die parodontologische Behandlung in der heutigen Zeit, beim alternden Patienten einen Zahnerhalt bis ins hohe Alter ermöglicht.
Am Tagungsende wurde resümierend deutlich, dass die Zahnmedizin nur durch eine individuelle Behandlung dem alternden, beziehungsweise alten oder auch sehr alten Patienten gerecht werden kann. Vorraussetzungen sind spezielle Kenntnisse und nicht zuletzt persönliches Engagement.
AR Dr. Barbara KesslerPoliklinik für zahnärztliche ChirurgieWelschnonnenstraße 1753111 Bonnb.kessler@gmx.de