Tabu und Rampenlicht
Die ARD wollte zum 50. Jahrestag der Markteinführung des Präparats einen Spielfilm über die dadurch bedingte Katastrophe senden. Gegen den Willen jener, die einen jahrelangen Prozess um die Rechte der Betroffenen ausfochten. Der Anwalt, der seinerzeit als betroffener Vater die Aufdeckung der Ursache angestoßen und Opfer vor Gericht vertreten hatte, übte dieses Mal einen denkwürdigen Schulterschluss mit der Hersteller-Firma. Er sah Persönlichkeitsrechte verletzt. Das Unternehmen Grünenthal ging vor Gericht, weil Tatsachen nicht wahrheitsgetreu dargestellt seien, Teile des Films also frei erfunden. Die Kläger gewannen in erster Instanz, unterlagen aber in allen Berufungsverfahren. Gerade der frei erfundene Plot fern der Realität bestätigte die Ansicht der Bundesverfassungsrichter, es handele sich um einen Spielfilm und nicht um eine Dokumentation. Während sie bei einer Doku die Pressefreiheit zugunsten der Persönlichkeitsrechte vermutlich in die Schranken zurückgewiesen hätten, gaben sie der künstlerischen Freiheit grünes Licht, auch, um den Aktualitätsbezug zu ermöglichen. Jetzt, im November, läuft der Film im Öffentlich-Rechtlichen. Der Titel: Eine einzige Tablette. Wenn aber, so bescheinigen Fachleute dem Film, dieser als empfindlich authentisch empfunden werde, dann nicht, weil er einzelne Personen oder Handlungststränge als real darstelle. Sondern vielmehr, weil er das Gedankengut einer ganzen Generation vor Augen führt. Einer Generation, die sich um eine heile Welt mit heilen Menschen und rosiger Zukunft so sehr bemühte, dass sie ein Wunder schuf: Das Wirtschaftswunder. Dazu gehörte es wie selbstverständlich, trotz enormer Belastungen auf den Beinen zu bleiben, Persönliches wegzustecken. Ebenso, die Gründe für Ängste und schlaflose Nächte zu ignorieren oder wegzuschieben. Und sei’s mit einer einzigen Tablette …
Die aber sollte die Welt verändern: Denn in dieses viele Kriegswunden heilende Wirtschaftswunder bricht die Erkenntnis über die Selbsttäuschung fast noch ärger herein als der mit dem „Hypnotikum“, die Kinder, denen Gliedmaßen oder Organe ganz oder teilweise fehlen. Immer öfter, immer mehr. Hunderte. Tausende. Fünftausend. Anfangs ein unüberwindbarer Schock für die Ärzte, für die Nation. Doch seltsamerweise ist der Schock sehr wohl überwindbar für die betroffenen Eltern und Kinder. Die Masse der Menschen reagiert entsetzt, empfindet Abscheu gegen die Neugeborenen. In Großbritannien sorgen hysterisch überzogene Reaktionen bis hin zur Forderung des Gnadentods der „Missgeburten“ für Schlagzeilen. Doch die meisten der betroffenen Eltern setzen sich mit Vehemenz erst für das Überleben und dann für Akzeptanz ihrer Kinder ein. Und leiten damit einen Sinneswandel ein, der Behinderten heute ein weitgehend normales Leben ermöglicht, angefangen bei integrativen Kindergärten. Der Begriff „behindert“ etwa setzte sich erst nach der Katastrophe durch, die der Wirkstoff Thalidomid auslöste. Durch eine einzige Tablette …
Eine Betroffene jedoch findet auch „behindert“ eine unpassende Bezeichnung; sie nennt ihren Zustand heute „anders funktional“. Eine treffende Formulierung. Denn die Kinder von einst sind heute Mitte Vierzig und „funktionieren“ als Ärzte, Sänger oder Moderatoren ebenso gut wie andere Altersgenossen. Retrospektiv scheint es unverständlich, dass Ärzte, Politiker und Angehörige sie einst gerne im Heim untergebracht hätten, um Kosten und Unannehmlichkeiten zu sparen. Das machte den Familien das Leben noch schwerer als es schon war. Wegen einer einzigen Tablette …
Als „harmlos wie Zuckerplätzchen“ hatte der Hersteller das Hypnotikum Contergan beworben. Welch fataler Irrtum. Dabei hatten Mediziner frühzeitig auf Krämpfe als Nebenwirkungen von Thalidomid aufmerksam gemacht. Erst als ein Hamburger Humangenetiker und Kinderarzt den möglichen Zusammenhang zwischen Präparat und embryonalen Missbildungen publik machte, verschwand Contergan vom Markt. Die Wissenschaft wollte ähnliche Katastrophenfälle ausschließen. Erlangten Medikamente bis dato schon nach Versuchen an Tieren Marktreife, wurden die Prüfverfahren nun strenger: Das deutsche Arzneimittelgesetz gilt als direkte Reaktion auf den Skandal – auch wenn es bis 1976 auf sich warten ließ und erst zwei Jahre später in Kraft trat. Für jede einzelne Tablette ...