125 Jahre GKV

Bismarcks folgenreiche Pille

Mietskasernen mit sechs, sieben Bewohnern pro Zimmer, 18-Stunden-Arbeitstage und Löhne am Randes des Existenzminimums – so lebten Industriearbeiter Ende des 19. Jahrhunderts. Wurden sie krank, stürzten sie noch tiefer. Denn eine Absicherung gab es nicht. Das änderte sich vor 125 Jahren: Reichskanzler Otto von Bismarck führte die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland ein.

Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist der älteste Zweig der deutschen Sozialversicherung: Im Jahr 1883 beschloss der Deutsche Reichstag auf Initiative des Reichskanzlers Otto von Bismarck die Krankenversicherungspflicht für Arbeiter. Anfänglich bekamen sie allerdings lediglich ein Krankengeld als Lohnersatz.

Heute hingegen erhalten die über 70 Millionen gesetzlich Versicherten prinzipiell alles medizinisch Machbare. Doch Leistungsumfang und Finanzierung stehen derzeit mehr denn je auf dem Prüfstand. Medizinischer Fortschritt und eine alternde Gesellschaft führten dazu, dass die Gesundheitsversorgung „nicht billiger werden wird“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beim Festakt zum 125-jährigen GKV-Bestehen. Sie forderte die Kassen zu ihrem Jubiläum auf, sich „Neuem nicht zu verschließen“.

Der Reichskanzler und die Arbeiter

Reformen durchziehen die Geschichte der GKV von Beginn an. Die Krankenversicherung an sich ist keine Erfindung Bismarcks. Sie lässt sich als Selbsthilfeorganisation bis in die Zünfte der Handwerker oder die Knappschaft der Bergleute nachweisen. Bereits im Jahr 1874 gab es nach AOK-Daten über 2 700 Kassen für Gesellen und über 1 900 für Fabrikarbeiter. Doch Bismarck setzte den gesetzlichen Rahmen, institutionalisierte und erweiterte die Versicherung.

Der Reichskanzler wollte mit der GKV das Erstarken der Sozialdemokraten aufhalten, betonten schon zeitgenössische Kritiker. Immer mehr Arbeiter unterstützten die Partei und setzten sich gegen Missstände und Ausbeutung in den Fabriken zur Wehr. Bismarck dagegen wollte das Volk für den Kaiser gewinnen. Nicht zuletzt deshalb versprach bereits 1881 die von ihm initiierte „Kaiserliche Botschaft“ Sozialreformen. Doch Bismarcks Rechnung ging nicht auf, seine Reformen stärkten vielmehr das Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft. Gleichwohl war der Grundstein für die soziale Sicherung der Bevölkerung in Deutschland gelegt.

Mehr Leistungen, mehr Versicherte

Von Anfang an organisierten die Arbeiter über ihre Gewerkschaften und die Arbeitgeber über ihre Organisationen die Selbstverwaltung der Kassen. Anfangs trugen die Fabrikbesitzer nur ein Drittel der insgesamt 1,8 Prozent; ab 1949 jedoch paritätisch die Hälfte. Im Nationalsozialismus fiel die Selbstverwaltung den autoritären Strukturen zum Opfer, wurde jedoch 1952 wieder eingeführt.

Grundprinzipien wie die Solidargemeinschaft bestehen noch heute, doch die GKV hat sich gewandelt: In den ersten zwei Jahren nach ihrer Gründung gab es lediglich das Krankengeld. 1885 kamen Versorgung mit Medikamenten, Arztbehandlung und Krankenhausaufenthalt als Sachleistung dazu. Wer krank war, musste das Geld nicht vorstrecken. Die zunächst auf 13 Wochen begrenzte Höchstdauer für die Leistungen erhöhte sich 1903 auf 26 Wochen. Komplett entfiel die zeitliche Begrenzung für die Krankenhauspflege 1974.

Auch der Kreis der Versicherten vergrößerte sich im Laufe der Zeit stark. Ab 1911 waren auch die Angestellten pflichtversichert, ab 1927 die Arbeitslosen. Seit 1956 sind auch Rentner mitversichert. Eine Versicherungspflicht für alle gibt es mit der aktuellen Gesundheitsreform.

Kostendämpfer stetig gesucht

Seit Mitte der Siebzigerjahre geht es im Gesundheitswesen immer mehr darum, den rasanten Anstieg der Ausgaben zu begrenzen. 1977 erließ die damalige Regierung das erste Kostendämpfungsgesetz. Seitdem folgt eine Reform nach der anderen. Vom Gesundheitsreformgesetz 1989 bis zum Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der GKV (GKV-WSG) 2007 brachte die Bundesregierung ein gutes Dutzend Reformgesetze auf den Weg.

Während 1989 die Zuzahlung und Selbstbeteiligung der Patienten ausgeweitet wurden, kam im Jahr 1993 die Budgetierung der Ausgaben und der Risikostrukturausgleich (RSA) zwischen den Kassen. Dieser wurde später mehrfach angepasst. 1994 entstand die Pflegeversicherung. Drei Jahre später folgte ein Notopfer für Instandhaltungs-Investitionen der Krankenhäuser. Deren Finanzierung soll mit dem 2002er Fallpauschalengesetz bis Ende 2008 umgestellt werden.

Von der Praxisgebühr bis zum Zahnersatz

Neue Zuzahlungsregeln und die Praxisgebühr brachte das Gesundheitsmodernisierungsgesetz von 2004. Die Kassen können seitdem mit Leistungserbringern Verträge über die Integrierte Versorgung abschließen. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) wurde gegründet, um den Nutzen medizinischer Leistungen zu überprüfen.

Mit dem Gesetz zur Anpassung der Finanzierung von Zahnersatz zahlen GKV-Versicherte seit Juli 2005 einen Sonderbeitrag von 0,9 Prozent ihres Einkommens ohne Beteiligung der Arbeitgeber. Im Gegenzug senkten die Kassen ihre Beitragssätze um 0,9 Prozentpunkte.

Ein Jahr später machte die Regierung Rabattverträge und Zuzahlungsbefreiungen bei Medikamenten möglich. 2007 folgte die Änderung des Vertragsarztrechts (VÄndG). Sie soll eine Unterversorgung – vor allem in ländlichen Gebieten – verhindern.

Jüngste Baustelle ist das derzeit heftig umstrittene GKV-WSG. Gesundheitsfonds, Honoraranpassung und Finanzausgleich der Kassen – die Vielzahl der anstehenden Neuerungen erschwert Gesundheitsökonomen zu sagen, wie die Milliardenströme im Gesundheitswesen künftig fließen werden. j

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