Stoffungebundene Abhängigkeit

Wenn PC und Internet zur Sucht werden

Im Internet surfen bis zum Umfallen? Das Beispiel des 15-jährigen Jungen, der in die Schlagzeilen geriet, weil er das Spiel am PC nicht lassen konnte, nicht mehr schlief und schließlich ins Koma fiel, ist sicher ein Einzelfall. Die Entwicklung einer „PC-Sucht“ oder auch einer „Online-Abhängigkeit“ aber wird von Experten als durchaus bedrohlich eingestuft. Mehr als ein Prozent der Jugendlichen sollen bereits eindeutig abhängig von PC und Internet sein und ihr Leben mehr oder weniger in der virtuellen Welt verbringen.

Es ist ein Irrtum, anzunehmen, der Mensch könne nur von Alkohol, Nikotin und Drogen abhängig werden. Gut bekannt ist auch die stoffungebundene Abhängigkeit, die Verhaltenssucht, die durch PC und Internet seit Jahren zunehmende Beachtung erfährt. Denn fast schon bedrohlich steigt die Zahl derjenigen – und vor allem der Kinder und Jugendlichen –, die stunden- und nicht selten nächtelang vor dem PC sitzen und von ihrem Spiel so besessen sind, dass sie kein Ende finden können.

Computer in fast jedem Kinderzimmer

In Zeiten, in denen ein Computer schon bei vielen Sechsjährigen zur selbstverständlichen Ausstattung des Kinderzimmers gehört, haben viele Eltern immer weniger Kontrolle über das nächtliche Treiben ihrer Sprösslinge.

Dass es sich hierbei um Tatsachen und keineswegs um Übertreibungen handelt, belegt eine Erhebung des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen (KFN). Rund 16 000 Jungen und Mädchen in der neunten Klasse wurden durch das Institut danach befragt, wie häufig sie vor dem Computer sitzen und spielen und wie es ist, wenn sie das Spiel unterbrechen müssen.

Die Antworten der Kids auf die elf standardisierten Fragen wurden von den Suchtforschern ausgewertet. Sie decken tatsächlich eine bedenkliche Situation auf: So wurden 3,6 Prozent der befragten Jugendlichen vom KFN als suchtgefährdet eingestuft, 1,5 Prozent erfüllten die Kriterien der Abhängigkeit. Sie gaben an, das Spiel nicht abbrechen zu können, sich auch dann mit dem Spiel gedanklich zu beschäftigen, wenn ein direktes Spielen am PC nicht möglich sei und mit Nervosität und Unruhe auf eine solche Situation zu reagieren.

Jungs stärker gefährdet

Ein „kritisches Spielverhalten“ zeigen, so das Ergebnis der Erhebung, mit 6,2 Prozent deutlich mehr Jungs als Mädchen, die mit 0,8 Prozent seltener als gefährdet beurteilt wurden. Auch waren mit 2,7 Prozent die Jungen deutlich häufiger bereits abhängig von ihrem Spiel am PC als die gleichaltrigen Mädchen.

Dass es sich bei der PC-Spielsucht um ein ernstzunehmendes Problem in unserer modernen Welt handelt, zeigt nicht zuletzt auch die Tatsache, dass das Thema sehr intensiv beim letzten Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) diskutiert wurde.

Frühzeitig professionelle Hilfe in Anspruch nehmen

Die Experten sehen ein Problem in der immer häufiger werdenden „Online-Sucht“ in unserer Gesellschaft. Sie raten all jenen, die ihr Verlangen nach dem PC und dem Internet nicht mehr kontrollieren können, frühzeitig psychotherapeutische und suchtmedizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Eine klare Abhängigkeit droht nach Angaben der DGPPN, wenn Menschen das Interesse an der Familie und an Freunden verlieren und ihre Arbeit vernachlässigen, um sich mit Unbekannten über E-Mail sowie in Chats, Foren und Blogs zu unterhalten. Die Experten weisen darauf hin, dass Personen mit Internet-Sucht oft ihren gesamten Tagesablauf so einrichten, dass sie möglichst viel Zeit online verbringen können und unruhig werden, wenn sie vom Internet abgehalten werden.

Zu den Charakteristika der Internetabhängigkeit gehört nach Angaben der Projekt gruppe „Stress und Sucht im Internet“ (SSI) der Humboldt-Universität Berlin darüber hinaus die Toleranzentwicklung. Die Betroffenen verbringen immer mehr Zeit mit internetbezogenen Aktivitäten, die „Dosis“ des virtuellen Daseins wird stetig gesteigert, ohne dass der Betreffende dies noch kontrollieren kann. In einer Pilotstudie, bei der mehr als 7 000 Freiwillige aus Deutschland, Österreich und der Schweiz einen umfassenden Fragebogen ausfüllten, zeigen sich rund sieben Prozent der Studienteilnehmer als Internet-suchtgefährdet, drei Prozent wurde eine bereits manifeste Abhängigkeit bescheinigt.

Im Durchschnitt 35 Stunden pro Woche im www

Ein klarer Zusammenhang ergab sich zur Zeit, die im Internet verbracht wird. Diese lag bei den gefährdeten Personen im Mittel bei 28 Stunden, bereits Abhängige verbrachten im Mittel 35 Stunden pro Woche im World Wide Web (www).

Ein erhebliches Suchtpotenzial bescheinigt die DGPPN dabei neben der Online-Kommunikation vor allem Online-Spielen sowie pornografischen Inhalten im Internet. „Gemeinsam ist allen Formen der Online-Sucht, dass sich die Betroffenen immer stärker aus dem realen Leben zurückziehen, um ihre Wünsche und Träume im Internet auszuleben“, so heißt es in einer Erklärung der DGPPN.

Hinter der neuen Sucht verbergen sich nach Angaben der Gesellschaft oftmals Identitätsprobleme, Depressionen und auch Angststörungen. „Das Internet ist für viele Betroffene ein Weg, über den sie vor Enttäuschungen und Problemen in eine Scheinwelt fliehen und sich von negativen Gefühlen ablenken“, erklärte Professor Dr. Karl F. Mann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie, anlässlich der DGPPN-Jahrestagung.

Die Online-Sucht kann nach seinen Worten leicht zu einem Teufelskreis werden. Das ist dann der Fall, wenn die Betroffenen in der realen Welt nicht mehr über ihre Bedürfnisse sprechen und das soziale Umfeld nach und nach zusammenbricht. Betroffene und Angehörige sollten, so der Rat von Professor Mann, nicht zögern, einen Psychotherapeuten aufzusuchen, wenn sie solche Merkmale an sich beziehungsweise an ihren Familienmitgliedern bemerken.

Auch die DGPPN sieht in der derzeitigen Entwicklung ein außerordentlich hohes Gefährdungspotenzial: Die Gesellschaft schätzt, dass jeder zehnte Internet-Benutzer gefährdet ist, eine Online-Sucht zu entwickeln, und dass bei einem Prozent bereits eine solche Abhängigkeit vorliegt. Ein besonders hohes Risiko sehen die Psychiater bei Jugendliche unter 20 Jahren, bei Singles und ebenso bei Menschen jenseits des 50. Lebensjahres.

Christine VetterMerkenicher Straße 22450735 Köln

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