Konsequenzen aus neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen

Für einen Dogmenwechsel in der zahnärztlichen Standespolitik

Es ist kein Geheimnis, dass die Ausprägung zahlreicher medizinisch relevanter Erkrankungen durch Verhaltensgewohnheiten beeinflusst werden kann. Die aktuelle Diskussion über Fett- und Magersucht in der Bevölkerung gibt dafür ein beredtes Beispiel. Obwohl hier einige Parallelen zwischen Medizin und Zahnmedizin bestehen, versuchen etliche Standespolitiker und Ökonomen in Deutschland seit vielen Jahren, der Zahnmedizin eine Sonderrolle innerhalb der Medizin zuzuordnen. Sie verweisen dabei auf die besondere Verhaltensabhängigkeit oraler Erkrankungen, die eine solche Sonderrolle rechtfertige.

Jüngstes Beispiel dafür ist ein 2007 publizierter Buchbeitrag der Volkswirte P. Oberender und J. Zerth (Weißbuch der ZahnMedizin – Rahmenbedingungen und Handlungsoptionen einer zukunftssicheren Gesundheitsversorgung, Band 1. Herausgeber: Bayerische Landeszahnärztekammer, Landeszahnärztekammer Hessen und Zahnärztekammer Nordrhein. Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin 2007). Oberender und Zerth plädieren für eine stärkere Privatisierung der zahnmedizinischen Versorgung. Der Patient müsse konsequent als Kunde begriffen werden. Die Ökonomen bringen zum Ausdruck, dass gerade „der Zahnbereich dafür prädestiniert ist, in die Selbstund Eigenverantwortung überführt zu werden“.

Besonders bemerkenswert erscheint die fachliche Begründung, die die Ökonomen für ihre Vorstellungen liefern. Sie konstruieren zunächst einen grundsätzlichen Unterschied zwischen medizinischen und zahnmedizinischen Gegebenheiten: „So ist beispielsweise bei ernährungsabhängigen Erkrankungen oder auch bei der Problematik des Lungenkrebses als Folge des Rauchens lediglich eine Risikozuordnung abbildbar. Mit anderen Worten lassen sich bei vielen verhaltenssensitiven Krankheiten multifaktorielle Erklärungsmuster ableiten. Bei Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten liegt dagegen ein viel engerer Zusammenhang zwischen individuellem Handeln und medizinischer Behandlungsnotwendigkeit vor.“

Die Autoren behaupten, dass orale Erkrankungen in viel engerem Zusammenhang als bei Allgemeinerkrankungen Folge von Fehlverhalten („Verhaltensabhängigkeit“) seien. Sie verweisen auf eine „kausale personale Verantwortung im Bereich der Zahnmedizin“, die sie in der Medizin in ähnlichem Ausmaß offenbar nicht sehen. Die Verhaltensabhängigkeit konzentrieren sie im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen ausschließlich auf das Mundhygieneverhalten des Einzelnen, wobei sie unter Verweis auf Karies einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen der quantitativen Reduktion des Biofilms Plaque und dem Auftreten der oralen Erkrankung als gesichert unterstellen. Diese Ausführungen stehen im Einklang zu früheren standespolitischen Positionen, die ebenfalls einen grundlegenden Unterschied zwischen „multifaktorieller“ Medizin und angeblich sehr eindimensional zu betrachtender Zahnmedizin konstruierten. Neben dem Argument, dass es in der Zahnmedizin so gut wie keine lebensbedrohlichen Erkrankungen gebe, wurde beispielsweise im Jahr 2004 vorgetragen, dass sich die Zahnmedizin insbesondere durch das „Vermeidbarkeitsprinzip“ von der Medizin prinzipiell abhebe (Zitat): „In keinem anderen medizinischen Bereich ist das Auftreten von Krankheiten so sehr abhängig vom Vorsorgeverhalten des Patienten – also: Durch Prävention lässt sich der allergrößte Teil von Zahnerkrankungen vermeiden“ (Fedderwitz, J.: Zahnersatz – Testballon für den Umbau unseres Gesundheitssystems. Statement anlässlich des Presseforums der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung vom 6. Oktober 2004).

Damit wurde seitens der zahnärztlichen Standespolitik eine doppelte Abgrenzung von der Zahnmedizin zur Medizin gefordert:

1. Vorwiegend in der Zahnmedizin ist das Vorsorgeverhalten des Patienten besonders wichtig. In medizinischen Fächern spielt es demgegenüber keine so entscheidende Rolle.

2. Durch präventionsorientierte Verhaltensänderungen lässt sich der „allergrößte Teil von Zahnerkrankungen“ sicher vermeiden. In medizinischen Bereichen ist dies anders zu sehen, weshalb sich auch aus diesem Grund Leistungsbereiche klar abgrenzen lassen.

Es geht um weit mehr als nur das Zähneputzen

Man suggeriert mit solchen Aussagen der Bevölkerung, sie müsse nur ein paar Zahnbürsten mehr kaufen, dann seien die zahnmedizinischen Probleme weitgehend gelöst und es würden auch keine relevanten Kosten mehr entstehen. Durch den Verweis auf die Eigenverantwortung wird betont, jeder habe es selbst in der Hand, ob er orale Erkrankungen erleide oder nicht.

Solche, auf das bloße Zähnebürsten (dessen Bedeutung zweifellos sehr groß ist) beziehungsweise das Konzept der unspezifischen Plaquehypothese reduzierte Betrachtungen geben jedoch nicht mehr den aktuellen Wissensstand wieder, der gerade bei oralen Erkrankungen (einschließlich Karies und Parodontopathien) inzwischen von einem besonders komplexen multifaktoriellen Geschehen mit einem Zusammenwirken von vielfältigen exogenen und endogenen Einflüssen ausgeht.

Die jüngste Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV) hat unter anderem ergeben, dass das aktive Mundgesundheitsverhalten der in Deutschland lebenden Bevölkerung in den letzten Jahren deutlich gestiegen und international gesehen vergleichsweise hoch ist. Der Mundgesundheitszustand hat sich in verschiedenen Altersstufen hierzulande verbessert. Bei älteren Menschen findet sich eine größere Zahl eigener Zähne, allerdings scheint dies mit einem Steigen (!) von Wurzelkaries und schweren Parodontopathien verbunden zu sein.

Auch wenn die aktuellen Zahlen etliche unterschiedliche Interpretationen zulassen, so ist zumindest folgender Umstand belegt: Immer noch weit über die Hälfte der in Deutschland lebenden Erwachsenen leidet heute unter ernstzunehmenden Erkrankungen der Mundhöhle, wobei sich mit zunehmendem Alter die Ausprägung deutlich verschlimmert.

Daraus ergeben sich für die zahnmedizinischen Fachdisziplinen erhebliche Herausforderungen, die mehrdimensionale Betrachtungsweisen nahe legen. Gefragt sind hier in besonderer Weise die wissenschaftlichen Fachgesellschaften und die Hochschullehrer für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde.

Es ist heute allgemein anerkanntes Wissen, dass das Auftreten von oralen Erkrankungen einschließlich Karies und Parodontopathien wesentlich differenzierter gesehen werden muss, als dies bislang der Fall war. Neben den unstrittig sehr bedeutsamen äußeren Faktoren, wie Konsum von Nahrungs- und Genussmitteln, Fluoridangebot und Mundhygiene, spielen zahlreiche innere Faktoren, wie genetische Ausstattung, Immunregulation, Stressverarbeitung, Allgemeinerkrankungen und dergleichen mehr, eine wesentlich größere Rolle als bisher vermutet. Hinzu kommen die zahlreichen psychosozialen Einflüsse, die über Gesund- oder Kranksein entscheiden und die engen Verflechtungen von Allgemein- und Zahnmedizin belegen.

Sämtliche verfügbaren epidemiologischen Daten ergeben, dass sich durch den zahnmedizinischen Fortschritt und eine Verbesserung des aktiven Mundgesundheitsverhaltens bei einem Teil der Population orale Erkrankungen in ihrer Ausprägung zwar vermindern oder auf einen späteren Zeitpunkt hinausschieben, nicht jedoch völlig verhindern lassen. Nicht ohne Grund zählen Karies und Parodontopathien nach wie vor weltweit zu den häufigsten chronischen Erkrankungen. Was für einzelne Menschen unter bestimmten Idealbedingungen realisierbar erscheinen mag, gilt noch lange nicht für eine größere Population.

Denkt man die Ideologie der Ökonomen konsequent weiter, wird dies in kurzer Zeit zu etlichen Widersprüchen führen: Viele gesundheitsbewusste Menschen, die durch erhöhte lebenslange Anstrengungen in ihrem aktiven Gesundheitsverhalten ihre Zähne länger behalten als früher, müssen nämlich trotz erheblicher Bereitschaft zu medizinischer Eigenverantwortung damit rechnen, dass sie im Alter mit beträchtlicher Wahrscheinlichkeit an (Wurzel-)Karies, Erosionen, Abrasionen, Attritionen, Traumata, schwerer Parodontitis und anderen, prinzipiell der Prävention zugänglichen oralen Erkrankungen leiden werden.

Gegen eine Generalhaftung

Mit anderen Worten: Erhöhte medizinische Eigenverantwortung kann unter optimalen Lebensbedingungen zwar zu einer längeren Zahnerhaltung und damit verbesserten Lebensqualität beitragen. Sie führt aber nicht automatisch dazu, dass keine gravierenden oralen Erkrankungen mehr auftreten.

 So wie in anderen medizinischen Disziplinen längst bekannt, wird sich bald auch in der Zahnmedizin zeigen, dass man mit erhöhter medizinischer Eigenverantwortung ökonomische Probleme nicht ohne Weiteres endgültig lösen kann.

Es dürfte schwierig werden, ausgerechnet die Folgen erhöhter medizinischer Eigenverantwortung ebenfalls als „Fehlverhalten“ zu interpretieren und einen Großteil der Bevölkerung deshalb in eine Art „medizinische Generalhaftung“ zu nehmen. Auch der Tatsache, dass die Menschen immer älter werden und dabei mehr orale Erkrankungen verschiedenster Art erleiden, werden wir mit ideologisch motivierten Hinweisen auf „vermeidbare“ Erkrankungen wohl kaum befriedigend begegnen können.

Die von einigen Standespolitikern und Ökonomen bis vor kurzer Zeit unermüdlich aufgestellte Forderung, die Behandlung oraler Erkrankungen müsse von den Betroffenen deshalb selbst finanziert werden, da diese in unmittelbarer Kausalität Folge ihres eigenen Verhaltens seien, ist zumindest medizinisch in dieser Vereinfachung längst nicht mehr haltbar. Die Standespolitik ist deshalb gut beraten, sich andere Begründungen zu suchen, um die Zahnmedizin aus den Zwängen eines budgetierten Gesundheitshaushaltes und anderen Einschränkungen herauszuführen. Es gibt innerhalb der standespolitischen Gremien inzwischen durchaus differenzierte Stimmen, die eine Richtungsänderung der bisherigen Sichtweise eingeschlagen haben. Allerdings werden sie in der Fachöffentlichkeit noch wenig wahrgenommen.

Für jene standespolitischen Wortführer, die ihre bisherige Argumentation beibehalten, wird es nicht mehr lange dauern, bis sie in erhebliche Konflikte mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand geraten. Sie sollten deshalb eine offene Grundsatzdiskussion führen und prüfen, ob ihre Vorstellungen wirklich geeignet sind, mit den anstehenden (zahn)medizinischen, demografischen und sozialen Veränderungen angemessen umzugehen.

Wenn politische Entscheidungsträger eine weitere Privatisierung im Gesundheitswesen beabsichtigen, werden sie Mittel und Wege finden, ihre Ziele umzusetzen. Die (zahn)medizinische Wissenschaft sollte jedoch zumindest dann Position beziehen, wenn fragwürdige medizinische Argumente herangezogen werden. Dies gilt insbesondere für den Begriff der medizinischen Eigenverantwortung, deren Förderung gerade für das Anliegen der Präventiven Zahnheilkunde von so immenser Bedeutung ist, dass sie nicht für andere Zwecke instrumentalisiert werden darf.

Eine ökonomisch und/oder ideologisch motivierte Reduktion der Betrachtungen auf eine „eigenverantwortete Verhaltensabhängigkeit“ oraler Erkrankungen könnte sich als Bumerang erweisen. Davor sollte die Zahnärzteschaft als Vertreterin einer medizinischen Disziplin, der eine große Bedeutung für die Gesundheit und Lebensqualität der Bevölkerung zukommt, bewahrt werden. Schon vor diesem Hintergrund ist das Dogma einer Sonderstellung zahnmedizinischer Erkrankungen kritisch zu hinterfragen.

Eine konsensfähige standespolitische Argumentation könnte darin bestehen, Erfolge und Defizite in der zahnärztlichen Versorgung der Bevölkerung aufzuzeigen und darzulegen, warum nach Ansicht der Zahnärzteschaft ein gut qualifizierter und honorierter, freier und selbstverwalteter Berufsstand am ehesten die Gewähr dafür bietet, eine hohe Mundgesundheit breiter Bevölkerungskreise zu erzielen.

Die Darstellung von Versorgungsbedarf (input) und Versorgungsleistungen (output) sowie der Bezug zum tatsächlichen Erreichen gesundheitlicher Ziele (outcome), wie dies in der Versorgungsforschung formuliert wird, dürfte darüber hinaus dazu beitragen, die verkrusteten Streitrituale verschiedener Interessengruppen etwas aufzubrechen und in eine Diskussionsoffensive zu treten. Damit könnten auch Vorschläge zur Finanzierung zahnärztlicher Leistungen in einen besseren Bezug zum „outcome“ gesetzt werden. Wenn es gelingt, deutlich zu machen, welche Effekte durch einen höheren oder niedrigeren Finanzfluss auf die Mundgesundheit beziehungsweise die Quantität und Qualität der zahnärztlichen Versorgung in der Bevölkerung ausgeübt werden, lassen sich Finanzierungsfragen aus einer übergeordneten Perspektive beleuchten – durchaus nicht zum Nachteil der Zahnärzteschaft.

In der öffentlichen Diskussion wird die Zahnärzteschaft zuweilen immer noch als Berufsgruppe wahrgenommen, die vornehmlich für ihre eigenen Vorteile kämpft, während es Kostenträger und Politiker besser verstanden haben, sich als Interessenvertreter von Patienten darzustellen. Die Daten der Versorgungsforschung dürften dazu beitragen, dieses Bild zu korrigieren.

Eine die Bevölkerung belehrende oder gar beschuldigende Moralposition („Zahnkranken fehlt es doch nur an Eigenverantwortung“) erscheint wenig hilfreich. Besser ist es, wenn sich die Zahnärzteschaft im derzeitigen Ökonomisierungswettlauf der diversen im Gesundheitswesen agierenden Gruppierungen mehr und mehr als diejenige Institution präsentiert, die als zuverlässigster Anwalt für die Mundgesundheit aller Bevölkerungsteile zu betrachten ist.

Prof. Dr. Dr. Hans Jörg StaehlePoliklinik für Zahnerhaltungskunde der Klinikfür Mund-, Zahn- und Kieferkrankheiten desUniversitätsklinikums HeidelbergIm Neuenheimer Feld 40069120 Heidelberghans-joerg.staehle@med.uni-heidelberg.de

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