Gastkommentar

Sozialpolitik ohne Perspektive

Die Leistungen im Pflegefall werden verbessert. Das ist unabweisbar. Doch es fehlt das Konzept für die finanzielle Absicherung dieses Sozialsystems. Die Rentenformel wird außer Kraft gesetzt, um die Renten um 1,1 statt um 0,5 Prozent erhöhen zu können. Sozialpolitik nach politischer Opportunität.

Walter Kannengießer
Sozialpolitik-Journalist

Die große Koalition hat Monate gebraucht, um der Reform der Pflegeversicherung eine Mehrheit zu sichern. Die von der Regierung vorgesehenen Leistungsverbesserungen wurden aufgestockt. Gestritten wurde lange über die von Ministerin Schmidt vorgesehenen Pflegestützpunkte. Dafür sollen nun die Länder zuständig sein. Dieser Kompromiss wird nicht verhindern, dass es zum Aufbau einer neuen Sozialbürokratie kommt, die viel kosten, aber den Pflegebedürftigen nur wenig helfen wird.

Zum ersten Mal seit 1995 werden schrittweise die Leistungen in der Mehrzahl der Pflegestufen angehoben; Vorrang wird der ambulanten Pflege eingeräumt. Zu begrüßen ist auch, dass Demenzkranke mehr Unterstützung als bisher erhalten werden. Hier wird ein Fehler korrigiert, der bei der Einführung der Pflegeversicherung vor 13 Jahren bewusst hingenommen worden war, um die Prognose zu stützen, nach der ein Beitrag von 1,7 Prozent langfristig ausreiche. Unter Einbeziehung der Demenzkranken hätte man schon damals einen Satz von etwa zwei Prozent gebraucht.

Jetzt wird der Beitragssatz von 1,7 auf 1,95 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens erhöht. Das kaschiert, dass die Mehrzahl der Versicherten, nämlich die Kinderlosen, mit 2,2 Prozent deutlich höher belastet werden. Die Mehreinnahmen dürften ausreichen, die Leistungsverbesserungen zu finanzieren und zu verhindern, dass es in den nächsten vier, fünf Jahren zu neuen Defiziten in der Pflegeversicherung kommt.

Die Politik gerät damit jedoch ins Dilemma: Sie versucht, im Rahmen des Systems das Leistungsangebot zu verbessern, trägt damit aber dazu bei, dass das System wegen der Alterung der Gesellschaft nach 2020 in wachsende Schwierigkeiten geraten und langfristig nicht durchzuhalten sein wird. Den Jüngeren werden immer höhere Beiträge aufgebürdet; sie können aber nicht damit rechnen, später einmal ausreichende Pflegeleistungen zu erhalten. Die Verbesserung der Leistungen und die damit verbundene Beitragserhöhung wäre nur zu vertreten gewesen, wenn zugleich ein Konzept zur langfristigen finanziellen Sicherung der Pflegeversicherung beschlossen worden wäre. Dieser schwierigen Aufgabe hat sich die große Koalition entzogen. Sie spielt auf Zeit. Das Pflegesystem wird dem politischen Kalkül geopfert.

Nachdem sich die Politik in den Neunzigerjahren für ein durch Beitragsumlagen finanziertes System entschieden hat, ist es heute nicht mehr möglich, die Finanzierung des Pflegesystems auf ein kapitalgedecktes und damit weniger demografieanfälliges System umzustellen. Damit würden die beiden nächsten Generationen überfordert. Sie hätten nicht nur die Pflegelast der jeweils älteren Generation zu tragen, sondern auch das Kapital für die Absicherung des eigenen Pflegefalls anzusparen. Grotesk ist die Vorstellung mancher Ratgeber, die Anwartschaften der heute älteren Generation zusammenstreichen zu können, weil diese ja nur 15 Jahre Beiträge entrichtet habe.

Politisch tragfähig kann nur ein Kompromiss sein, der dem „Riesterkonzept“ für die Rentenversicherung folgt. Die über Beiträge zu finanzierenden Pflegeleistungen sind in ihrer Dynamik eng zu begrenzen. Jedermann ist dazu anzuhalten, für sich eine ergänzende kapitalgedeckte Versicherung abzuschließen. Dies kann aus Steuermitteln nach sozialen Kriterien gefördert werden.

Wenn die große Koalition jetzt in die Rentenformel eingreift, um eine marginal höhere Rentenerhöhung zu bieten, so vergrößert sie die künftigen Finanzierungsprobleme. Viel schlimmer ist: Die Rente wird politisch beliebig manipulierbar.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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