Gastkommentar

Die „Gerechtigkeitslücke“

Die Mehrheit der Deutschen zweifelt, ob es in Deutschland gerecht zugeht.
Sozialpolitik-Journalist Walter Kannengießer kommentiert die Wahlkampfrhetorik der zurückliegenden Wochen zum Thema „Gerechtigkeitslücke“.

Auf der Werteskala der Politik hat sich „die Gerechtigkeit“ nach vorne geschoben. Das ist eine der Konsequenzen der Finanzkrise und der daraus folgenden Rezession. Viele Bürger meinen, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden seien. Für die Parteien und ihr Handeln sind die Ansichten und Erwartungen der Bürger über die ökonomischen und sozialen Fakten wichtiger als die Tatsachen selber. Jedenfalls haben die Boni-Exzesse in der Bankenwelt die Vorstellung befördert, dass der Abstand zwischen Arm und Reich größer geworden sei. Dabei dürften jene, die viel Geld anzulegen hatten, durchweg mehr verloren haben als jene, denen das Geld zum Spekulieren fehlte.

Die Stimmung in der Gesellschaft unseres Landes hat sich verändert. Allgemein haben die wirtschaftlichen Risiken zugenommen. Betroffen sind nicht mehr nur schlecht ausgebildete Arbeitskräfte, sondern auch jene auf den mittleren und höheren Etagen der Unternehmen, die aufgrund ihrer Leistung bislang ihren Arbeitsplatz als gesichert ansehen konnten. Selbst Spitzenkräfte werden „wegrationalisiert“. Viele Selbstständige und Kleinunternehmer fürchten um ihre Existenz. Neue Arbeitsplätze sind schwer zu finden, Einkommensverluste und Standortwechsel sind programmiert. Doch auch weiterhin werden Boni und hohe Abfindungen an Verantwortliche für Verluste gewährt, obwohl das System mit Milliarden aus Steuergeldern gestützt wird. Das alles fördert die Einschätzung, es gebe eine „Gerechtigkeitslücke“.

Wenn hier von Gerechtigkeit die Rede ist, so geht es um das, was als soziale Gerechtigkeit beschrieben wird. Die Finanzkrise ist aber nicht das Ergebnis sozialer Defizite, sondern vor allem die Folge falscher Anreizsysteme, leichtfertiger Bewertungen eingegangener Risiken und unzureichender Kontrollen an den nationalen und internationalen Finanzmärkten. Renditemaximierung war vielen Bankern wichtiger als Risikovorsorge. Die Währungsbehörden haben leichtfertig das Entstehen einer gewaltigen Spekulationsblase zugelassen. Wenn sie jetzt versuchen, durch Geldschöpfung und Garantien zulasten der Steuerzahler die Finanzmärkte zu stabilisieren, den Abschwung zu bremsen und den Aufschwung zu stimulieren, so sind sie nicht zu kritisieren. Das gilt, solange dabei Augenmaß gewahrt bleibt.

Der sozialen Sicherheit kommt ein hoher Stellenwert zu. Sie festigt das marktwirtschaftliche und freiheitliche System, dem das ökonomische Desaster der beiden letzten Jahre nicht anzulasten ist. Wenn Politiker aber jetzt mehr soziale Gerechtigkeit fordern, so wird mehr staatliche Intervention und Regulierung, mehr Umverteilung bei den privaten Einkommen und Vermögen und letztlich die Utopie der Gleichheit angestrebt. Ideologen und Machtpolitiker linker Couleur wittern die Chance, das marktwirtschaftliche System durch ein politisch gelenktes System zu ersetzen, das auf die Angleichung aller Lebensverhältnisse zielt, das Bürger und Unternehmer bevormundet und damit die Freiheit der Menschen beschneidet und deren Mitverantwortung für ihre soziale Stellung in Frage stellt.

In der Marktwirtschaft ist Ungleichheit nicht unsozial, sondern Voraussetzung und Motor für Dynamik, Innovation, Mehrung des Wohlstands und damit auch für das Schließen von Gerechtigkeitslücken. Gleichmacherei führt in die Armut. Sie lähmt die Initiative der Menschen, schwächt die wirtschaftliche Dynamik und mindert den erreichbaren Wohlstand. Mit mehr Umverteilung sind noch nie ökonomische Probleme gelöst und soziale Defizite nachhaltig überwunden worden.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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