Mandibuläre Prognathie als Symptom einer Akromegalie
Ein 26-jähriger Patient in gutem Allgemeinund adipösem Ernährungszustand (185 cm, 145 kg) wurde vom behandelnden Kieferorthopäden zur Planung einer gemeinsamen kieferorthopädisch-chirurgischen Therapie in der Dysgnathiesprechstunde der eigenen Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie vorgestellt (Abbildung 1).
Hier imponierte eine ausgeprägte mandibuläre Prognathie. Ferner fielen extraoral eine große Nase und Augenbrauenwülste, vergröberte Lippen und Gesichtszüge sowie vergrößerte Hände und Füße und intraoral eine Makroglossie auf (Abbildungen 2, 3, 4 und 5). Der Patient berichtete über einen Wachstumsschub seiner Hände und Füße sowie der Zunge in den vergangenen Monaten. Die Sprache wirkte klosig.
Das angefertigte Fernröntgenseitbild ließ eine massive mandibuläre Prognathie, prominente Supraorbitalwülste und eine stark vergrößerte Sella turcica erkennen (Abbildung 6). Aufgrund des Verdachts einer Akromegalie wurde eine Magnetresonanztomographie veranlasst, in der sich ein intra- und supra sellärer Hypophysentumor von 4,7 x 2,9 x 2,2 cm3 Größe darstellte. Zudem untermauerte eine deutliche Verdickung der gesamten Schädelkalotte die Diagnose Akromegalie (Abbildungen 7 und 8).
Bei der sich anschließenden internistischendokrinologischen Untersuchung wurde die Diagnose einer Akromegalie bei STHproduzierendem Makroadenom der Hypophyse mit reaktiver Hyperprolaktinämie und Insuffizienz der gonadotropen Achse gesichert. Ein Diabetes mellitus konnte nicht festgestellt werden. Die Blutdruckwerte lagen noch im Normbereich (etwa 140/90 mm Hg). Die endokrinologische Untersuchung detektierte stark erhöhte Werte für Somatomedin C (IGF-1) (627,0 ng/ml; Norm: 117,0 bis 329,2 ng/ml) und Prolaktin (63,69 μg/l; Norm: 2,10 bis 17,7 μg/l) sowie einen erniedrigten Testosteron-Wert (0,84 μg/l; Norm: 2,41 bis 8,30 μg/l). In der Ab domensonographie imponierte eine Hepa tosplenomegalie, eine leicht vergrößerte linke Niere und bei der Koloskopie ein weites Colonlumen.
In der Gesichtsfeldprüfung stellte sich ein ausgedehnter bitemporaler Ausfall im oberen Bereich, im Sinne einer Kompression des Chiasma opticum durch den Tumor, dar.
Eine transsphenoidale Entfernung des Tumors wurde durch die Kollegen der Klinik für Neurochirurgie durchgeführt. Zur Korrektur der Dysgnathie und Kinnprominenz ist eine Umstellungsosteomie kombiniert mit einer Reduktion der Kinnspitze geplant.
Diskussion
Bei einer symmetrischen mandibulären Makrognathie kann es sich um eine syndromale Wachstumsanomalie handeln, welche sich meistens bereits direkt nach der Geburt manifestiert und sich mit zunehmendem Alter verstärkt. Nicht syndromale Wachstumsstörungen basieren häufig auf genetischen Einflüssen, oft bleibt die Ursache jedoch ungeklärt. Die dritte Gruppe bilden die erworbenen Wachstumsstörungen des Unterkiefers, wobei bei einer beidseitgen mandibulären Makrognathie immer eine Akromegalie in die differenzialdiagnostischen Überlegungen mit einbezogen werden sollte [Gattinger und Obwegeser, 2002].
Die Akromegalie (Synonym: Hyperpituitarismus) ist eine endokrinologische Erkrankung, die durch eine Überproduktion des Wachstumshormons Somatotropin (STH) hervorgerufen wird. Die Inzidenz liegt weltweit jährlich bei etwa 1:250 000 Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen [Chanson et al., 2008].
Die Symptomatik der Akromegalie wird davon geprägt, ob die Erkrankung in der Zeit vor oder nach dem Epiphysenfugenschluss eintritt. Vor Abschluss des Längenwachstums kommt es zum sogenannten Gigantismus oder hypophysären Riesenwuchs, danach ist nur noch ein Wachstum an den knöchernen Akren, Weichgeweben und inneren Organen (Viszeromegalie) möglich [Howaldt und Schmelzeisen, 2002; Cook et al., 2004; Yagi et al., 2004]. Die Haut gewinnt an Dicke und der Haarwuchs wird angeregt. Unkoordinierter Überschuss der Gelenkknorpel prädisponiert zu degenerativen Gelenkerkrankungen. Die Körperproportionen wirken unharmonisch und vergröbert. Häufig besteht zudem ein Diabetes mellitus oder zumindest eine verminderte Glukosetoleranz. Ferner können sich bei Männern häufig eine erektile Dysfunktion und ein nachlassender Sexualtrieb entwickeln, bei Frauen kommt es selten zu einer sekundären Amenorrhoe bei gleichzeitiger unmotivierter Milchproduktion. Bei rund 30 Prozent der Patienten manifestiert sich ein dauerhaft erhöhter Blutdruck [Cook et al., 2004; Vitral et al., 2006; Chanson et al., 2008]
Die Patienten klagen über Kopfschmerzen und allgemeine Abgeschlagenheit sowie Knochenschmerzen [Nabarro et al., 1987]. Taubheitsgefühl in den Händen weist in 20 Prozent der Fälle auf ein Karpaltunnelsyndrom hin. Bei 90 Prozent der Patienten besteht ein obstruktives Schlaf-Apnoe-Syndrom [Herrmann et al., 2004].
Kieferorthopäden werden regelmäßig wegen einer zunehmenden Fehlstellung des Gebisses konsultiert [Vitral et al., 2006]. Eine Volumenzunahme der Lippen und Makroglossie kann konsekutiv – wie auch bei dem vorgestellten Patienten – eine klosige Sprache und Schwierigkeiten beim Kauen und Schlucken bedingen. Häufig kommt es zu einer symmetrischen Makromandibulie mit mandibulärer Prognathie und prominentem Kinn sowie ausgeprägter Submentalfalte, zu einer transversalen Verbreiterung der Maxilla und Zwischenzahnlücken [Vitral et al., 2006; Chanson et al., 2008]. Resorptionen der Zahnwurzeln und starke Hyperzementosen sind beschrieben [van der Waal, 1993]. Infolge des Wachstums des Hypophysentumors kann es durch lokale Druckwirkung im Bereich des Chiasma opticums zu Gesichtsfeldausfällen (bitemporale Hemianopsie) kommen [Howaldt und Schmelzeisen, 2002]. Im Fernröntgenseitbild fallen – wie auch im eigenen Fall beobachtet – häufig eine Erweiterung der Sella turcica, vergrößerte Nasennebenhöhlen und eine Kortikalisverdickung auf [Bernsmann, 1980].
Die Akromegalie verläuft schleichend, so dass die Diagnose durchschnittlich erst neun bis zehn Jahre nach dem Beginn der Symptome gestellt wird [Nabarro et al., 1987; Cook et al., 2004]. Neben dem typischen klinischen Bild der Erkrankung ist die Bestimmung der Hormonaktivität, insbesondere des Serumspiegels von IGF-1 (insulin-like growth factor-I) pathognomisch. Da eine Akromegalie bei normalen Werten nur extrem selten vorliegt, eignet sich dieses Hormon am besten sowohl als Suchtest als auch zur Beurteilung des Erfolgs nach einer durchgeführten Behandlung [Cook et al., 2004; Mönnich et al., 2004; Chanson et al., 2008].
Die Therapie der Wahl besteht in der chirurgischen Entfernung des Hypophysentumors entweder – wie bei dem vorgestellten Patienten – über einen transsphenoidalen oder einen transkraniellen Zugang [Yagi et al., 2004]. Die alleinige medikamentöse Behandlung mit dem Dopaminagonisten Cabergolin, dem Somatostatinanaloga Octre otid sowie dem Wachstomshormonantagonisten Pegvisomant sollte nur den Patienten vorbehalten bleiben, bei denen eine operative Entfernung des Tumors nicht möglich ist [Mönnich et al., 2004; Cook et al., 2004]. Eine postoperative medikamentöse Behandlung wird nur erforderlich, wenn das hormonproduzierende Gewebe nicht vollständig entfernt werden konnte. Bei großen Hypophysentumoren werden auch verschiedene Methoden der Bestrahlungstherapie mit Erfolg eingesetzt [Chanson et al., 2008]. Anschließend sind – wie im aktuellen klinischen Fall – plastisch-chirurgische Eingriffe und Dysgnathieoperationen zur Korrektur der Akromegaliefolgen indiziert [Metelmann und Ehrenfeld, 2002].
Dr. Dr. Martin GosauProf. Dr. Dr. Torsten E. ReichertKlinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversität RegensburgFranz-Josef-Strauß-Allee 1193053 Regensburg
Priv.-Doz. Dr. Dr. Oliver DriemelAbteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie/Plastische OperationenStädtisches Klinikum LüneburgBögelstr. 121339 Lüneburgoliver.driemel@klinik.uni-regensburg.de