Notbremse ziehen
Für die einen ist sie eine „Revolution des Gesundheitswesens“, für die anderen ein „gigantisches Daten-Monstrum“: die elektronische Gesundheitskarte. Nach jahrelanger Verzögerung haben die Krankenkassen jetzt mit der Ausgabe der neuen Plastikkarte begonnen. Bis Jahresende sollen in einer Pilotregion im Rheinland rund 120 000 Versicherte ein Exemplar erhalten. Doch das umstrittene Projekt steht unter Vorbehalt. Union und FDP haben im Koalitionsvertrag ein Moratorium vereinbart. Tatsächlich spricht derzeit nichts dafür, allen 70 Millionen Versicherten wie geplant bis Ende 2010 die „e-Karte“ auszuhändigen. Außer einem Foto des Inhabers bietet die neue Karte keine wesentliche Veränderung gegenüber den alten Modellen. Gespeichert sind wie bisher die allgemeinen Verwaltungsdaten des Versicherten. Neu ist lediglich, dass mit dem Datenträger in Zukunft das „elektronische Rezept“ übermittelt werden kann, das in der Apotheke dann mit einem Lesegerät eingesehen wird. Freiwillig können die Patienten darüber hinaus Notfalldaten wie mögliche Allergien oder die Blutgruppe speichern lassen.
Damit ist das einst ambitionierte Großprojekt auf Minimallösung geschrumpft. Zwar ist es immer noch möglich, dass sie auf längere Sicht zur elektronischen Patientenakte ausgeweitet wird. Doch sind die Vorbehalte der Mediziner und Versichertenvertreter, die den „gläsernen Patienten“ fürchten, im Lauf der vergangenen Jahre eher größer als kleiner geworden. Ob sich die Kosten der neuen Karte – Experten schätzen von knapp fünf bis zu 14 Milliarden Euro – also jemals ren-tieren werden, ist zweifelhaft.Es war die frühere rot-grüne Bundesregierung, die 2004 das Vorhaben mit großartigen Versprechen gestartet hatte. Was sollte der neue Datenträger in Scheckkartenformat nicht alles können. Enorme Kostenersparnis erhoffte sich die Politik. Wenn Untersuchungsergebnisse und Verordnungen künftig in einer elektronischen Patienten- akte gespeichert würden, entfielen teure Mehrfachuntersuchungen, hieß es.
Dabei ist es schon heute möglich, dass Ärzte und andere Leistungsanbieter Informationen austauschen. Auch können Versicherte, die den Arzt wechseln, Patienteninformationen anfordern und mitnehmen. Wenn die Versicherten dies wünschen, findet der Informationsfluss schon jetzt – per E-Mail, Fax oder in Papierform – durchaus statt.
Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt pries die Karte als Instrument für einen besseren Patientenschutz. Infolge von Arzneimittel-unverträglichkeiten sterben hierzulande jährlich rund 16 000 Menschen. In 120 000 Fällen kommt es zu schweren Nebenwirkungen. Die Ursache ist häufig eine Wechselwirkung zwischen mehreren Arzneimitteln, die ein Patient gleichzeitig eingenommen hat. Würden die Verordnungen auf der elektronischen Karte gespeichert, so wirbt auch die IT-Branche, könnten solche gefährlichen Unverträglichkeiten vermieden werden. In manchen Fällen mag dies stimmen. Doch verursachen oftmals gerade die weit verbreiteten Schmerztabletten eine extreme Nebenwirkung. Gerade diese Pillen jedoch verordnen sich viele Menschen selbst – ohne einen Arzt oder Apotheker zu konsultieren und ohne den Beipackzettel zu studieren. Eine elektronische Gesundheitskarte würde hier gar nichts nutzen. Solchem Leichtsinn im Umgang mit hochwirksamen Medikamenten kommt man nur mit Aufklärung bei.
Während der Nutzen der Karte fraglich ist, liegen die Risiken auf der Hand. Gleichgültig ob die Daten einer elektronischen Patientenakte auf einem zentralen Server oder auf der Gesundheitskarte gespeichert werden, kann Missbrauch nicht ausgeschlossen werden. Auch wenn Gesetze dies verbieten, könnten potenzielle Arbeitgeber oder Lebensversicherer versucht sein, an die hochsensiblen Daten zu gelangen. Gesundheitsminister Philipp Rösler täte gut daran, solche Bedenken ernst zu nehmen. Der Regierungswechsel bietet die Chance, in letzter Minute die Notbremse zu ziehen.
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