Dunkle Vergangenheit klar aufgedeckt
Viele Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland haben sich nach 1945 ihrer dunklen Vergangenheit erst gestellt, nachdem sie von außen darauf hingewiesen wurden. Dies wollte das Robert Koch-Institut vermeiden. Das Institut für Infektionskrankheiten fand es 60 Jahre nach dem Ende der NS-Zeit dringend nötig, die eigene Geschichte in dieser historischen Periode schonungslos aufzudecken. Dies geschah in Form einer Monografie der Historikerin Annette Hinz-Wesels, die jetzt vorliegt.
Die Wissenschaftler der Charité wurden bei ihrer Arbeit von der Kommission zur Geschichte des Robert Koch-Instituts im Nationalsozialismus unterstützt. Der Beirat war mit internationalen Wissenschaftlern besetzt, die in einem Workshop 2007 die Thematik kritisch diskutierten.
Welcher Geist in Gesundheitsbehörden seit 1933 herrschte, zeigt ein Zitat von Prof. Dr. Hans Reiter. Dieser war von Juli 1933 bis 1942 Leiter des Reichsgesundheitsamtes in Berlin, unten dessen Oberhoheit das RKI 1935 geriet.
„…Die Hygiene der Zukunft wird eine erbbiologisch orientierte sein, und jede richtig begriffene Bevölkerungswissenschaft wird eine erbbiologische Hygiene sein müssen. Wesen und Wirken aller Umwelthygiene wird nie mehr losgelöst von der erbbiologischen Hygiene gedacht und verstanden werden können. Die erbbiologische Hygiene wird für alle Zeiten die Führerin der Umwelthygiene sein! ...“, (aus: Reiter, Hans, Das Reichsgesundheitsamt 1933-1939).
Rassismus
Aus heutiger Sicht sind die Worte Reiters blanker Rassismus. Hier waren keine Mediziner mehr am Werk, sondern rassistische Ideologen. Ihr Verhalten kann auch nicht damit beschwichtigt werden, dass durch eine schleichende „Entmenschlichung“ für bestimmte Bevölkerungsgruppen die Schwelle sank, um sie wie Tiere für Versuche zu benutzen oder durch Experimente zu beweisen, wie minderwertig sie seien.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden jüdische Mitarbeiter auch im RKI bedrängt, diskriminiert und sogar verhaftet. So erging es dem Oberassistenten Walter Levinthal, der seit 1919 Institutsmitglied war. Angestellte des RKI hatten ihn wegen angeblicher defätistischer Äußerungen denunziert, worauf er über Nacht im Polizeigefängnis festgehalten wurde.
Erst seit der Weimarer Republik war der Anteil jüdischer Mitarbeiter am RKI wirklich nennenswert gewesen. Davor waren lediglich die bedeutenden Wissenschaftler Paul Ehrlich und August von Wassermann jüdischer Herkunft. Seit 1933 wurden zwölf führende Mitarbeiter des RKI aus „rassischen“ Gründen aus ihren Ämtern gedrängt. Die meisten von ihnen verließen Deutschland und fanden vor allem in den USA und Großbritannien Zuflucht und konnten dort arbeiten.
Beruflicher Einschnitt
Aber die erzwungene Emigration bedeutete neben der persönlichen Demütigung immer auch einen beruflichen Einschnitt. Nicht alle Wissenschaftler konnten in den neuen Ländern an ihre alten Forschungsschwerpunkte anknüpfen. Vor 1933 hatte ein enger Austausch zwischen deutschen und amerikanischen Wissenschaftlern bestanden. Walter Levinthal hatte 1924 die Möglichkeit bekommen, an das Rockefeller Institut of Medical Research in New York zu gehen. Das Center for Treatment of Rheumatism bot ihm seit 1934 in Bath in Großbritannien die Chance, seine Arbeit fortzusetzen. Später wurde er Leiter des bakteriologischen Instituts im schottischen Edinburgh.
Das Schicksal der Emigration teilten mit Walter Levinthal auch Hans Loewenthal, Werner Silberstein, Ulrich Friedemann, Werner Collier, Rochla Etinger-Tulczynska, Liesebet Lenneberg, Alfred Cohn und Ludwig Kleeberg. Drei ebenfalls entlassene Wissenschaftler des RKI blieben in Deutschland, wobei Hans Munter bereits im Februar 1935 aus ungeklärten Gründen in einem Krankenhaus in Berlin noch nicht 40-jährig verstarb. Georg Blumenthal konnte bis 1938 noch seine Praxis für Augenkrankheiten betreiben, musste aber später untertauchen. Er und seine Frau fanden Zuflucht bei einem Bauern in Polen und schließlich ein Versteck auf der Insel Marienwerder. Schlimm traf es auch die Allergologin Lucie Adelsberger. Sie hatte ein Angebot in die USA wegen ihrer Mutter abgelehnt und konnte noch bis Ende September 1938 als sogenannte „Krankenbehandlerin“ für jüdische Patienten arbeiten. Die Deportation nach Auschwitz überlebte Adelsberger und ging 1946 in die USA, wo sie lange Jahre am New Yorker Montefiore Hospital und Medical Center tätig war.
Aber nicht nur die festen Mitarbeiter des Instituts mussten ihre Arbeitsplätze seit 1933 räumen. Auch Volontäre oder freiwillige wissenschaftliche Kräfte, die keine bezahlten Positionen hatten, waren gezwungen, ihre zum Teil langjährigen Forschungen, zu beenden. Mit dem Exodus der jüdischen Wissenschaftler ging der Bakteriologie in Deutschland viel verloren.
Und wie reagierten die übrigen Mitarbeiter des RKI, die nicht vom Rassenwahn der Nationalsozialisten betroffen waren? Von offenen Protesten ist nichts bekannt. Wobei wohl versucht wurde, durch positive Beurteilung den Rausgedrängten einen Neuanfang zu erleichtern.
„Nach einer späteren Beschreibung des damaligen Institutsassistenten Joseph Fortner …verhielt sich das Gros der Institutswissenschaftler dem neuen System gegenüber nicht anders als irgendeine Ansammlung von Kleinbürgern, in denen bloße Opportunisten, Überängstliche und Leute existierten, die „ernsthaft das ‚Tausendjährige Reich’ kommen sahen.“ Die jüdischen Mitarbeiter hatten vor allem den Mittelbau des RKI dominiert, wodurch sich dieser Bereich wegen der Entlassungen stark veränderte.
Führungsebene ausgetauscht
Aber auch die Führungsebene des RKI wurde zwischen 1933 und 1937 fast völlig ausgetauscht. Das Ausscheiden von nicht-jüdischen Personen am Institut scheint nicht immer aus ideologischen Gründen erfolgt zu sein. So passte den Nationalsozialisten der Leiter des RKI nicht. Die Versetzung von Fred Neufeld in den Ruhestand im Mai 1933 war wohl nicht ganz freiwillig erfolgt. Druck von Seiten des neuen Regimes ist wahrscheinlich. Immerhin waren unter der Ägide von Neufeld seit 1919 zahlreiche jüdische Wissenschaftler eingestellt worden. Nachfolger von Neufeld wurde bis 1935 Friedrich Karl Kleine.
Mit der Unterstellung unter den Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes Hans Reiter (1881 bis 1969) seit dem 1. Februar 1935 erhielt nationalsozialistische Ideologie noch größeren Einfluss auf das RKI. Reiter war ein Mann, der die Ideologie der Nationalsozialisten aus Überzeugung vertrat, wie seine eingangs zitierten Worte klar zeigen. Hans Reiter war zuvor Leiter des Landesgesundheitsamtes in Mecklenburg-Schwerin gewesen und hatte sogar seit 1932 für die NSDAP im Landtag des Landes gesessen.
Unter seiner Führung wurden die Arbeitsschwerpunkte des RKI stark verändert. Die Erforschung von Infektionskrankheiten trat nun deutlich hinter das Thema Rassenhygiene zurück. Bisherige Aufgabengebiete gingen an das Reichsgesundheitsamt, das an Bedeutung gewann und so auch die Macht seines Leiters stärkte. Unter Reiter wurde Eugen Gildemeister (1878 bis 1945) zum geschäftsführenden Direktor des RKI. 1942 wurde das RKI wieder selbständige Reichsanstalt unter Gildemeister und seinem Stellvertreter Gerhard Rose.
Eine ganze Reihe von Wissenschaftlern des RKI nutzte die Zeit des Nationalsozialismus, um ihre Forschungsinteressen auf Kosten von Menschenleben zu betreiben. Damit ist die Behauptung, die noch in der Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des RKI 1991 aufgestellt wurde – nur einzelne Wissenschaftler hätten sich schuldig gemacht – falsch. Die aktuell erfolgte Aufdeckung der wahren Verstrickung der Wissenschaftler des RKI ist der Hauptverdienst der Arbeit seit 2006.
Ethische Moral verloren
Dass die Wissenschaftler jede ethische Moral verloren hatten, zeigt auch die unmenschliche Wortwahl in einen Schreiben zwischen den beiden RKI Mitarbeitern Eugen Haagen und Gerhard Rose: „Ihrer Anregung folgend, die mit unserem neuen Fleckfieberimpfstoff Geimpften noch nachzuinfizieren, um auch die antiinfektiöse Immunität sicherzustellen, habe ich mich inzwischen mit dem Hauptamt der SS in Verbindung gesetzt, um genügend lebensunwertes Personenmaterial für diese Zwecke zu bekommen.“ Ohne Bedenken nutzten die Wissenschaftler des RKI die „Möglichkeiten“, Menschen aus den Konzentrationslagern für ihre Forschungszwecke zu missbrauchen und nahmen ihren Tod in Kauf.
Zur Verantwortung gezogen
Die Schwerpunkte des RKI während der Zeit des Nationalsozialismus waren neben der Seuchenbekämpfung auch die Erb- und Rassenforschung in den Bereichen Tuberkulose und Serologie. Die beiden RKI-Mitarbeiter Gerhard Rose und Claus Schilling arbeiteten in der Erforschung von Tropenkrankheiten wie der Malaria. Die Forschungen des RKI erfolgten in enger Zusammenarbeit mit den militärischen und industriellen Forschungseinrichtungen der damaligen Zeit.
Mag es auch Erfolge in der Forschungsarbeit des RKI gegeben haben, so stehen sie auch unausweichlich unter dem Odium verbrecherischer Menschenversuche. Mitarbeiter des RKI mussten sich nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands für ihre Beteiligung an den Menschenversuchen verantworten. So wurde Gerhard Rose für seine Mitwirkung an den Fleckfieberversuchen im Konzentrationslager Buchenwald im August 1947 vom Amerikanischen Militärgerichtshof I im Rahmen des „Nürnberger Ärzteprozesses“ zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Aber bereits im Juni 1955 kam er wieder frei.
Auch sein Kollege Eugen Haagen saß in Nürnberg auf der Anklagebank. In seiner Vernehmung bestritt er aber jede Beteiligung oder Kenntnis an den Versuchen mit Menschen. Im Jahre 1952 wurde er von einem französischen Militärgericht wegen der Menschenversuche in elsässischen Konzentrationslagern zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt, aber kam ebenfalls 1955 frei. Schon 1956 durfte er wieder arbeiten, jetzt an der Forschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere in Tübingen.
Claus Schilling wurde dafür, dass er im Rahmen seiner Forschung zirka 1 200 Menschen im Konzentrationslager Dachau mit dem Malariaerreger infiziert hatte, von denen 300 bis 400 starben, im Dezember 1945 zum Tode verurteilt und im folgenden Jahr hingerichtet.
Nach dem Krieg hat es wohl keine ernsthaften Ansätze gegeben, die ehemaligen jüdischen Mitarbeiter zurückzurufen oder wenigstens eine Entschuldigung auszusprechen. Eine Art Verantwortungsübernahme ist nun spät, 60 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, durch die klare Aufdeckung der Rolle des RKI im Nationalsozialismus erfolgt.
Workshops zur Aufklärung
Der verdienstvollen Arbeit des ersten Workshops 2007 folgte im Januar 2008 ein zweiter Workshop, der sich dem Thema „Infektionskrankheiten und Institutionen – Das Robert Koch-Institut in internationaler Perspektive, 1930 bis 1950“ widmete. Diese Tagung unter Beteiligung internationaler Wissenschaftler soll helfen, die Entwicklung des RKI im Nationalsozialismus von dem Werdegang anderer Institutionen in jener Zeit, wie dem Institut Pasteur in Frankreich oder dem spanischen Hygiene-Institut, besser bewerten und abgrenzen zu können.
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