Der besondere Fall

Osteoma eburneum des linken Kieferwinkels

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Heftarchiv Zahnmedizin
Eine 40-jährige Patientin wurde in der Ambulanz der Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie des Münchner Klinikums rechts der Isar mit einer suspekten Schwellung submandibulär links vorgestellt. Wie dieser Fall zeigt, kommt dem niedergelassenen Zahnarzt eine besondere Aufgabe bei der Früherkennung von systemischen, unter Umständen sogar malignen Erkrankungen zu.

Bereits als die Patientin zehn Jahre alt war, bemerkte der behandelnde Kieferorthopäde eine Gewebsvermehrung im Bereich des linken Kieferwinkels, jedoch ohne eine weiterführende Diagnostik einzuleiten. Auch folgte die Patientin der Empfehlung zur alljährlichen Kontrolle nicht.

An ein Trauma, als Ursache für die Gewebsvermehrung, konnte sich die Patientin nicht erinnern.

Als sie im Alter von 35 Jahren eine Volumenzunahme in der Region des linken Kieferwinkels bemerkte, stellte der konsultierte HNO-Arzt den Verdacht auf Verkalkung der Glandula submandibularis, jedoch ohne bildgebende Abklärung.

Da die Patientin ihrem Hausarzt eine weitere Gewebsvermehrung beschrieb, kam es zur CT-Diagnostik und anschließender Überweisung in unsere Klinik.

Familienanamnestisch gibt die Patientin an, ihr Vater sei an Morbus Crohn und zwei Tanten väterlicherseits mit je 54 und 55 Jahren an Kolonkarzinomen erkrankt, weswegen sie sich bereits dreimal, mit 19, 29 und 39 Jahren koloskopieren ließ. Während der zweiten Darmspiegelung wurde laut Patientin ein Polyp abgetragen, die Histologie dazu konnte jedoch nicht mehr ausfindig gemacht werden.

Bei der klinischen Untersuchung imponierte eine nicht mobile, klar umschriebene, harte, nicht druckschmerzhafte Auftreibung des linken Kieferwinkels mit Ausdehnung nach kaudal und lingual. Von intraoral konnte der Tumor nicht getastet werden, der Mundboden war weich, nicht schmerzhaft und symmetrisch. Weder Ödem noch Erythem waren mit der Schwellung assoziiert. Die Mundöffnung der Patientin war regelrecht, und es wurden keine anderen Knochenabnormalitäten festgestellt.

Röntgenologisch zeigte sich im CT (Abbildung 1) eine scharf begrenzte, halbkugelige, zirka 3,5×2,5×1cm große röntgendichte Auflagerung.

Zur weiteren Diagnostik und Therapie führten wir die operative Entfernung von submandibulär durch. Hierbei stellte sich ein vom umgebenden Weichgewebe abgrenzbarer, kompakter, dem Unterkiefer anliegender Tumor dar, der in seiner Ausdehnung den oben genannten Angaben im CT entsprach (Abbildung 2). Es erfolgte unter kompletter Darstellung des Tumors zuerst die horizontale Osteotomie, danach durch weitere Präparation nach lingual und unter Schutz des N. lingualis, N. alveolaris inferior sowie der Fazialisgefäße, die vertikale Osteotomie von kaudal und somit die Entfernung des Tumors in toto.

Das Resektat (Abbildung 3) unterschied sich makroskopisch kaum von kortikaler Knochenstruktur und konnte histologisch als Osteoma eburneum klassifiziert werden (Abbildung 4).

Diskussion

Das Osteom besteht entweder aus kompaktem (Osteoma eburneum) oder spongiösem Knochen (Osteoma spongiosum).

Obwohl die Läsion mit ihrer typischen Lokalisation kaum mit anderen Tumoren verwechselt werden kann [1], gibt es einige wenige Differenzialdiagnosen, die klinisch davon abzugrenzen sind.

Osteome sollten von Exostosen des Kiefers unterschieden werden. Exostosen sind knöcherne Auswüchse, die auf der bukkalen oder oralen Seite des Alveolarknochens entstehen und namentlich auch als Torus palatinus und Torus mandibulae in Erscheinung treten. Sie sind reaktiver Natur oder entstehen während des physiologischen Wachstumsprozesses und werden somit nicht zu den echten Neubildungen gezählt [2,3].

Auch Osteoblastome und Osteoidosteome müssen in die Differenzialdiagnose mit einbezogen werden, wobei sie häufiger zu Schmerzen führen und ein schnelleres Wachstum aufweisen, als dies bei Osteomen der Falls ist [2].

Röntgenologisch können Osteome mit Odontomen und einer fokal sklerosierenden Osteomyelitis verwechselt werden [3].

Das Osteom ist definiert als gutartige Läsion, die aus reifem Knochen mit überwiegend lamellarer Struktur besteht. Laut WHO sollte sich der Begriff des Osteoms nur auf Läsionen der paranasalen Sinus, des Gesichtsknochens und der Orbita beziehen [4]. Osteome sind seltene Tumoren, die in nahezu jedem Alter, bevorzugt allerdings bei jungen Erwachsenen, entstehen können, [4,5] mit einem ungefähren Verhältnis zwischen Mann und Frau von 2:1 [2,4].

Die häufigste Lokalisation stellen die Sinus frontales dar, gefolgt von den ethmoidalen Sinus. Sinus maxillares und Sinus sphenoidales sind deutlich weniger häufig betroffen [4,5].

Osteome der Kiefer sind selten. Meistens entstehen sie auf der lingualen Seite des Kieferwinkels, aber auch Processus coronoideus und condylaris sind als mögliche Lokalisationen in der Literatur beschrieben worden [4,5,6].

Klinisch sind Osteome oft asymptomatischer Natur und werden dementsprechend zufällig diagnostiziert. Sie können jedoch auch Schmerzen oder andere, von ihrer Lokalisation abhängige Symptome verursachen [4], zum Beispiel eine eingeschränkte Beweglichkeit des Unterkiefers [7] und eine Gesichtsasymmetrie [5].

Radiologisch stellen sie sich als klar umschriebene strahlenundurchlässige Strukturen dar [3], wobei sowohl die Computertomographie [8], als auch die digitale Volumentomographie als Bildgebung zur Diagnosefindung gut geeignet sind.

Makroskopisch ist das Osteom als gut begrenzte, weiße Knochenstruktur mit gelegentlich polypoidem oder exophytischem Wachstum charakterisiert.

Es werden zwei histologische Varianten des Osteoms unterschieden, eine kompakte und eine spongiöse. Das Osteoma eburneum (Abbildung 4) weist kaum fibrovaskuläre Anteile innerhalb der kompakten Masse des Lamellenknochens auf, wohingegen die Lamellen des Osteoma spongiosum durch reichlich Knochenmark separiert sind, welches Fett, oder sogar hämatopoetische Bestandteile enthält [4,6].

Die Ursache für die Entstehung von Osteomen wird in der Literatur kontrovers diskutiert.

Eine häufig vertretene Theorie macht für die Pathogenese der Läsion ein primäres Trauma verantwortlich, wobei auch die Kombination aus Trauma und Muskelzug, der das Periost vom darunterliegenden Knochen abhebt, eine ursächliche Rolle spielen könnte. Des Weiteren werden neoplastische Veränderungen, embryologisch kartilaginäre Reste oder embryologisches Periost als Verursacher aufgeführt, wie auch die Theorie, dass dieses embryologische Restgewebe durch Trauma, Infektion oder Überwucherung von normalen Knochentuberkeln stimuliert werden kann [3, 5, 9, 10].

Die Behandlung von Osteomen besteht in der kompletten chirurgischen Entfernung an ihrer Basis, an der sie mit dem kortikalen Knochen verbunden sind [2, 3, 9, 10]. Die chirurgische Indikation ist abhängig von der Limitation oder dem Verlust von Funktionen, dem Ausmaß der ästhetischen Einbußen oder dem Wunsch, eine definitive histopathologische Diagnose stellen zu können [10].

Da Rezidive selten auftreten, allerdings mehrfach in der Literatur beschrieben [3, 10] sind, ist es angebracht, dem Patienten nach der chirurgischen Exzision klinische und radiologische Nachsorgeuntersuchungen anzubieten.

Multiple Kiefer-Osteome sind eine wesentliche Komponente des Gardner-Syndroms, einer phänotypischen Variante der familiären adenomatösen Polyposis. Dieses wird autosomal dominant vererbt und ist bedingt durch eine Mutation des APC-Gens. Es ist charakterisiert durch multiple adenomatöse Polypen des Kolons, die zu einem relativ frühen Zeitpunkt entstehen und unweigerlich bis zum 40. Lebensjahr zum Kolonkarzinom führen [6, 11]. Daneben entwickeln die Patienten in unterschiedlicher Häufigkeit und Ausprägung Zahn- und Kieferanomalien, gutartige Tumoren der Haut, Unterhaut und des Bindegewebes, wie Atherome, Lipome, Fibrome und Leiomyome, sowie Polypen des Kolons- und Magens. In bis zu 50 Prozent sind Epidermoidzysten mit dem Syndrom assoziiert.

Multiple Osteome sind in 70 bis 90 Prozent der Patienten mit einem Gardner-Syndrom vergesellschaftet. Am häufigsten sind sie im Bereich des Kieferwinkels lokalisiert [6].

Die Lokalisation und die Familienanamnese lassen bei unserer Patientin den Verdacht auf ein Gardner-Syndrom aufkommen. Allerdings lag nur ein singuläres Osteom im Kieferwinkelbereich links vor. Auch das bereits erreichte Alter von 40 Jahren ohne bezeichnende Auffälligkeiten in den bereits dreimal durchgeführten Koloskopien und das Fehlen jeglicher weiterer klinischer, für das Gardner-Syndrom typischer Aspekte, lassen die Diagnose eher unwahrscheinlich erscheinen.

Zur definitiven Klärung empfahlen wir der Patientin daher, eine humangenetische Untersuchung und unabhängig davon, begründet auf dem gehäuften Vorkommen von Kolonkarzinomen in ihrer Familie, weiterhin regelmäßig koloskopische Kontrollen durchführen zu lassen.

Sowohl Osteome des Kiefers als auch Zahnund Kieferanomalien, wie Hyperodontie, Transposition von Zähnen oder Odontome können erste Hinweise auf das Vorliegen eines Gardner-Syndroms sein. Diese wichtigen klinischen Marker treten oftmals vor der Entstehung von Adenomen des Kolons in Erscheinung.

Dem Zahnarzt kommt daher eine besonders wichtige Rolle in der Früherkennung des unweigerlich zum Kolonkarzinom führenden Gardner-Syndroms zu.

Katrin SchützUniv.- Prof. Dr. Dr. med. habil. Herbert DeppePriv.- Doz. Dr. Dr. Frank HölzleKlinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- undGesichtschirurgieTechnische Universität MünchenKlinikum rechts der IsarIsmaninger Str. 2281675 Münchenschuetzkatrin@googlemail.com

Dr. Karen BeckerInstitut für Allgemeine Pathologie und PathologischeAnatomieTechnische Universität MünchenKlinikum rechts der IsarIsmaninger Str. 2281675 München

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