Europarecht und das deutsche Zahnheilkundegesetz
In zm 23/2001 wurde das als grobe Irreführung der Öffentlichkeit beklagt. Das Urteil (VG 3 E 1356/00(1) hatte keinen Bestand. Der Europäische Gerichtshof (EuGH), an den die Sache gelangte, entschied, Europarecht stehe einer nationalen Regelung entgegen, die Ärzten, gleich unter welcher Bezeichnung, generell die Ausübung der Tätigkeiten des Zahnarztes gestatte (Beschluss vom 17. Oktober 2003 – Rs-35.02). Der Autor hat hierüber unter der Überschrift „Europarecht rettet den deutschen Zahnarzt“ in zm 23/2004 S. 86 geschrieben.
Zahnheilkundegesetz
Als Folge des der Entscheidung des EuGH folgenden Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Januar 2004 (3 C 39.03) sind in § 1 Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde (ZHG) die Worte „oder als Arzt nach bundesgesetzlicher Bestimmung“ und bei der Strafdrohung des § 18 die Worte „als Arzt“ gestrichen worden (4. Gesetz zur Änderung der Bundesärzteordnung – Artikel 2 Änderung des ZHG – vom 2. Juli 2004). Diese Änderungen haben in der ärztlichen und zahnärztlichen Öffentlichkeit keine Beachtung gefunden. Im „Deutschen Ärzteblatt“ erschien ohne weitere Erklärung 2001 nach dem Darmstädter Urteil die Notiz „Ärzte dürfen zahnärztlich tätig sein“ und 2004 nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die genau gegenteilige Mitteilung „Arzt und Zahnarzt in einem festgestellt: Verstoß gegen europäisches Recht“, aber die Änderung des ZHG als Folge dieses Urteils wurde nicht für mitteilenswert gehalten; die Abschaffung des „Arztes im Praktikum“ durch das Vierte Änderungsgesetz nahm alle Aufmerksamkeit für sich in Anspruch. Selbst als eine Staatsanwaltschaft einen Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie wegen unerlaubter Ausübung der Zahnheilkunde anklagte, das Amtsgericht auch das Strafverfahren eröffnete und das Verwaltungsgericht Minden die Feststellungsklage des Arztes gegen die Landeszahnärztekammer abwies, dass er im Rahmen seines Fachgebietes als Mund-, Kiefer-Gesichtschirurg berechtigt sei, Zähne zu extrahieren, Augmentationen und das Einbringen von Implantaten durchzuführen, fand die Änderung des ZHG keine Aufmerksamkeit. (Wegen des noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verwaltungsgerichtsverfahrens ist das Strafverfahren ausgesetzt.)
Europa-Untauglichkeit
War die alte Fassung des ZHG wirklich nicht mit Europarecht vereinbar? Wenn das so wäre, würde das Verwunderung auslösen. Das europäische Recht war doch nach dem Vorbild des deutschen Zahnheilkundegesetzes gestaltet worden (siehe hierzu den Artikel „Für Zahnärzte hat Westeuropa keine Grenzen mehr“ zm 21/1978 und den Beitrag „Zahnärzte in Europa“ in der Festschrift „50 Jahre Bundeszahnärztekammer“ des Autors). Niemand sah nach dem Inkrafttreten der Zahnarztrichtlinien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Notwendigkeit, Ärzte aus dem Zahnheilkundegesetz zu entfernen. Das 1. Gesetz zur Änderung des Zahnheilkundegesetzes von 1983 begnügte sich damit, Zahnärzten aus anderen Mitgliedstaaten die Approbation zu ermöglichen, änderte aber nichts an der Grundkonzeption. Zu ihr gehörte, dass Ärzte sich nicht Zahnärzte nennen und folglich der Öffentlichkeit nicht generell die Ausübung der Zahnheilkunde anbieten durften. Das Reichsgericht, damals höchste Instanz des deutschen Gerichtswesens, hatte schon 1907 festgestellt: „Die Titelführung Zahnarzt oder die Führung eines ähnlichen Titels, durch den der Glaube erweckt wird, dessen Inhaber sei ein geprüfter Zahnarzt, ist demjenigen untersagt, der nicht die Approbation als Zahnarzt hat, also auch dem approbierten Arzt, der solche nicht besitzt“ (zm 1914 S. 464).
Ganz unbekümmert setzte sich das Verwaltungsgericht Darmstadt darüber hinweg. Der Gesetzgeber habe in § 1 ZHG dem Arzt einschränkungslos den Zugang zum Zahnarztberuf eröffnet. Es sei widersprüchlich, ihm die Bezeichnung als Zahnarzt zu verweigern, wenn sie dem Inhaber einer widerruflichen und Einschränkungen unterliegenden Erlaubnis nach § 13 ZHG gestattet werde. Schon dem Wortlaut des § 1 ZHG nach dürfe sich der Arzt Zahnarzt nennen, weil diese Befugnis an beide Approbationen anknüpfe.
Als Zahnarzt oder als Arzt
Das Argument, der Wortlaut des Gesetzes mache den Arzt zum Zahnarzt, schlägt nicht durch. Wenn zwei Begriffe durch „oder“ verbunden sind, kommt es auf den Sinn an, ob eine folgende Aussage auf einen oder beide zutrifft. Wenn vom Stall für Hühner oder Kaninchen gesagt wird, der Stall müsse das Eier-Einsammeln ermöglichen, sollte man nicht im Kaninchenstall suchen. „Die Approbation“ im Zahnheilkundegesetz ist die Approbation als Zahnarzt. Dr. Friedrich Koch, Ministerialrat im Bundesministerium des Innern und maßgeblich am Zustandekommen des Zahnheilkundegesetzes beteiligt, sagt in seinem Kommentar „Das Berufsrecht des Zahnarztes“ (Erich Schmidt Verlag 1955): „Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob der Wortlaut von Satz 2 auch den Arzt berechtige, die Bezeichnung als Zahnarzt zu führen. Der Sinnzusammenhang schließt diese Deutung aus.“ Bleibt man dabei, dann folgt daraus, dass der Arzt nicht generell die Zahnheilkunde ausüben kann. So argumentierte selbst der Arzt, der sich Zahnarzt nennen wollte. Die Führung der Bezeichnung sei unverzichtbar, um die Ausübung der Zahnheilkunde tatsächlich zum Mittelpunkt seiner ärztlichen Tätigkeit zu machen, ist im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu lesen. Da die alte Fassung des ZHG nach dem Verständnis seiner Urheber die Berufsbezeichnung nicht gestattete, versagte es Ärzten auch die generelle Befugnis zur Ausübung der Zahnheilkunde und war mit den europäischen Richtlinien vereinbar.
Generell oder partiell
Gemeint war mit der Erwähnung des Arztes in § 1, dass Ärzte im Rahmen der Ausübung ihres ärztlichen Berufs auch Maßnahmen an den Zähnen, im Mund und an den Kiefern vornehmen, die für sich allein betrachtet Ausübung der Zahnheilkunde, wenn man will: partielle Ausübung, sind, die dem Laien verboten sind. Der Dermatologe behandelt Erkrankungen der Mundschleimhaut, der Chirurg operiert Kiefer und der Kinderarzt wird in § 26 Sozialgesetzbuch für berechtigt erklärt, Zahnprophylaxe zu betreiben. Ärzte untersuchen das stomatognathe System und rechnen das nach Nr. 6 ihrer Gebührenordnung ab. Diese Maßnahmen, die dem Laien verboten sind, sollten dem Arzt rechtlich möglich sein.
Sind sie es nicht mehr, seitdem der Arzt aus dem ZHG gestrichen ist? Den rechtlichen Rahmen bestimmt die Bundesärzteordnung. Nach § 2 a Absatz 4 ist die Ausübung des ärztlichen Berufs die Ausübung der Heilkunde unter der Berufsbezeichnung „Arzt“. Die Einschränkung, das gelte nicht für die Zahnheilkunde, die das Heilpraktikergesetz vornimmt, findet sich hier nicht.
Beides Humanmediziner
Der Arzt hat den ganzen Menschen zu betrachten und kann Eingriffe im Mundbereich vornehmen. Das gilt umgekehrt für den Zahnarzt. Auch er hat wie der Arzt Humanmedizin, also den ganzen Menschen betrachtende Heilkunde (siehe hierzu den Beitrag des Autors „Zahnmedizin ist Humanmedizin“ in zm 16/2008 S. 72), zu betreiben und nimmt dabei auch Maßnahmen an anderen Körperteilen vor, zum Beispiel Injektionen. Er kann Arzneimittel verordnen, die systemisch, das heißt auf den ganzen Körper wirken. Die Gebührenordnung für Zahnärzte nennt in § 6 viele Maßnahmen ärztlicher Tätigkeit. Sie sind dem Laien verboten. Zwischen Laien und Zahnarzt ist bei der Anwendung des Heilpraktikergesetzes deutlich zu unterscheiden, ebenso bei der Anwendung der neuen Fassung des ZHG zwischen Arzt und Laien.
Man kann nicht einzelnen Maßnahmen die Qualität exklusiver ärztlicher oder zahnärztlicher Tätigkeit zuordnen. Aus dem Zusammenhang aller Maßnahmen und dem Bezug zu den Zähnen, dem Mund und den Kiefern ergibt sich, ob es sich um Zahnheilkunde handelt. Dann folgt daraus, dass Maßnahmen, die dem Laien verboten sind, dem Zahnarzt trotz des Verbotes des Heilpraktikergesetzes und dem Arzt trotz des Verbots des Zahnheilkundegesetzes erlaubt sein müssen.
Strafbarkeit
Es wird den Gerichten schwerfallen, bei der Strafdrohung des § 18 ZHG zu unterscheiden zwischen einer dem Arzt verbotenen generellen und einer erlaubten partiellen Ausübung der Zahnheilkunde. Im Mindener Fall haben es Staatsanwaltschaft und Amtsgericht jedenfalls zunächst nicht getan. Wenn nicht unterschieden wird, wird der Fachzahnarzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie bestraft, wenn er Zähne extrahiert und Augmentationen und Implantationen vornimmt. Dass es sich dabei um Zahnheilkunde handelt und dass die Kieferchirurgie nicht exklusiv der ärztlichen Behandlung zuzurechnen ist, haben das Oberlandesgericht Zweibrücken (2 U 29/97) und der Bundesgerichtshof durch Nichtannahme der Revision (siehe zm 1/1999) eingehend mit sorgfältiger Begründung dargelegt. Nur Chirurgen, die auch die zahnärztliche Approbation besitzen, würden der Bestrafung entgehen.
Facharzt ohne Approbation
Das sind aber nicht alle Ärzte für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Manche haben den Facharzttitel ohne erfolgreich abgeschlossenes zahnärztliches Studium erhalten. Aber auch nach diesem Studium bleibt die Ausübung der Zahnheilkunde verboten, wenn der Facharzt keine Approbation besitzt, denn § 18 neue Fassung ZHG bestraft, „wer die Zahnheilkunde ausübt, ohne eine Approbation als Zahnarzt zu besitzen“. Auch der Facharzt für Kieferchirurgie aus der DDR wäre bedroht. Nach der Vereinigung musste ihm wie auch dem Fachzahnarzt für Kieferchirurgie das ganze Feld der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie erhalten bleiben, obwohl sie nur eine Approbation besitzen. Deshalb wurde in § 10 a Bundesärzteordnung den Fachzahnärzten eine unbefristete Erlaubnis zur Ausübung des ärztlichen Berufs zugebilligt, weil sie ohne diese nicht über die Zahnheilkunde hinausgehen und traumatologische Gesichtsbehandlungen vornehmen konnten. Bei Fachärzten wurde Gleiches nicht für nötig gehalten, da sie nach der alten Fassung des ZHG ohnehin Zahnheilkunde ausüben durften. Sie haben diese Befugnis jetzt nicht mehr.
Fehlinterpretationen
Die Änderung des Zahnheilkundegesetzes war nicht nur unnötig, sie war ganz verfehlt. Sie diente weniger der Befolgung von Europarecht als der Abwehr von Fehlinterpretationen der Gerichte. Hätte das Verwaltungsgericht nicht leichter Hand entschieden, der Arzt dürfe sich Zahnarzt nennen und hätte nicht das Bundesverwaltungsgericht gesagt, es werde diese Entscheidung bestätigen, wäre es bei der wohlausgewogenen alten Fassung geblieben. Mit Europarecht war sie vereinbar. Das hat selbst das Bundesverwaltungsgericht gesagt. Sollte Europarecht verlangen, dem Arzt die generelle Ausübung der Zahnheilkunde zu untersagen, werde es die Passage „Arzt nach bundesgesetzlicher Bestimmung“ dahin interpretieren, dass ein Gesetz, das dem Arzt die Ausübung gestatte, nicht ergangen sei, folglich schon nach der alten Fassung dem Arzt die Ausübung verboten war. Eine tollkühne juristische Konstruktion, die nicht in Betracht zog, dass diese Passage ursprünglich dazu bestimmt war, in der Urzeit des Ost - West-Konflikts Approbationen aus der sowjetischen Besatzungszone die Anerkennung zu versagen (Koch, Anmerkung 4 zu §1 ZHG). Und dann heißt es im Urteil noch: „Dass diese Notwendigkeit“ – gemeint ist die Notwendigkeit, das ZHG in der vom Gericht angedeuteten Weise zu interpretieren – „in den hier interessierenden Fragen beispielsweise in der Kommentierung zunächst nicht erkannt worden ist, ändert nichts an der objektiv seither“ – nach den Richtlinien 78/686 und 687 – „bestehenden Rechtslage“.
Leichtfertig aufgegeben
Man kann diese Ausführungen kaum verstehen. Nur weil ohne Not gegen eine sorgfältig begründete, in Übereinstimmung mit dem Bundesministerium für Gesundheit ergangene Stellungnahme der Bundesanwaltschaft (3 R 298.01), gegen die Auffassung von Ärzte- und Zahnärztekammer, gegen alle dazu ergangenen Kommentierungen die Auffassung vertreten wurde, der Arzt dürfe sich nach der alten Fassung Zahnarzt nennen, ist es zu größeren Schwierigkeiten als zuvor gekommen. Die alte Fassung ist leichtfertig im Schnellverfahren – schon vier Monate nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wurde das Gesetz geändert – aufgegeben, Bewährtes durch Widersprüchliches ersetzt worden.
Dr. Heribert PohlEuskirchener Str. 950937 Köln