zm-Interview - Ethik und Monetik
zm: Herr Professor Staehle, es ist festzustellen, dass die Budgets überall ausgeschöpft, vielfach deutlich überzogen sind. In fast allen Versorgungsbereichen haben wir zunehmend Therapiealternativen oder zumindest Alternativen im Behandlungsaufwand. Wie soll das finanziert werden?
Staehle: Gesundheitsökonomie ist ein wichtiges Fach. Die mit der Ökonomisierung verbundene Kommerzialisierung und Industrialisierung birgt aber die Gefahr einer Beschädigung des bisherigen ärztlichen und zahnärztlichen Selbstverständnisses. Es gibt in der Tat fast immer Therapiealternativen, wobei die teuersten bekanntlich nicht automatisch die besten sind. Ein zunehmend dem Wachstum des Medizinmarkts verpflichtetes Denken, Fühlen und Handeln, das aus dem objektiv beratenen Patienten einen unter Umständen einseitig manipulierten Kunden macht, wird immensen Schaden anrichten. Die Zahnärzteschaft ist in der Lage, dass sie vielfach sozial verträgliche Mischfinanzierungen anbieten kann. Es ist wichtig, dass sie diese Optionen mit Augenmaß verfolgt.
zm: Ist die zahnärztliche Versorgung Ihrer Meinung nach überhaupt eine umfassende Finanzierungsaufgabe der GKV oder sind hier auch Selbstbeteiligungen notwendig?
Staehle: Es ist das Verdienst vieler Zahnärzte-Generationen, dass sie in den letzten 100 Jahren für eine Akzeptanz der Zahnmedizin als vollwertiges medizinisches Fach gekämpft haben. Dabei ging es auch darum, den GKV-Anteil zahnärztlicher Leistungen zu erhöhen, um die Zugangsschwelle breiter Bevölkerungsanteile zur Zahnmedizin zu senken. Durch den Hinweis auf den unverzichtbaren Nutzen der Zahnheilkunde konnten auch in schwierigen Zeiten bemerkenswerte Erfolge erzielt werden. Damals ließ man sich nicht mit dem Argument entmutigen, „das ist doch alles nicht finanzierbar“. Diese zivilisatorischen Errungenschaften sollten wir bewahren. Es besteht die Gefahr, dass das in Jahrzehnten mühsam Erreichte durch eine seit geraumer Zeit um sich greifende Privatisierungsideologie in wenigen Jahren zunichte gemacht wird. Standesvertreter, die heute jegliche regulierende Einflussnahme von außen als „Staatsmedizin“ verteufeln und den Zahnärzten suggerieren, sie erhielten unter den Gesetzen eines ungezügelten Medizinmarktes „mehr Freiheit“, dürften sich künftig zurückhaltender äußern. Während noch vor etwa 20 Jahren die Haupteinnahmequelle des Zahnarztes die GKV war, liegt aktuellen Berechnungen zufolge derzeit im Bundesdurchschnitt das Verhältnis zwischen selbstfinanzierten und GKV-finanzierten Leistungen bei jeweils etwa hälftigen Anteilen. Nahezu alle standespolitischen Wortführer scheinen sich aber immer noch darin einig zu sein, dass der Privatanteil künftig deutlich weiter steigen muss, wenn auch nicht auf 100 Prozent. Um eine fachliche Diskussion führen zu können, sollten sie sich dazu äußern, welches Verhältnis sie eigentlich anstreben. Wollen sie einen Privatanteil von 75, 85 oder 95 Prozent und was möchte man mit den verbliebenen GKV-Anteilen von 5, 15 oder 25 Prozent noch bewirken? Das derzeitige Verhältnis von etwa 50 : 50 dürfte – bei zu berücksichtigenden regionalen Unterschieden – realistisch sein, um ein hinreichendes Versorgungsniveau sowohl in „guten“ als auch in „schlechten“ Zeiten zu erhalten.
zm: Kann Ihrer Meinung nach die GKV überhaupt eine am Stand der Wissenschaft orientierte Versorgung sicherstellen. Und wenn ja: Wer bestimmt dann die Preise?
Staehle: Wenn Mundgesundheit als wichtiges Gut angesehen wird, dem für die Allgemeingesundheit einschließlich der sozialen Einordnung eines Menschen eine überragende Bedeutung zukommt, dann müsste hier die GKV schon in die Pflicht genommen werden. Dass die Honorierung zahnärztlicher Leistungen auf der Grundlage belastbarer Daten erfolgen muss und nicht auf Willkürentscheidungen beruhen darf, ist selbstverständlich eine legitime Forderung. Die Erfahrung hat gezeigt, dass man mit Drohgebärden wie „raus aus der GKV“ bei Preisgestaltungen nicht viel erreicht, weshalb die Repräsentanten der Zahnärzteschaft von solchen Forderungen abgerückt sind.
zm: An welchen Kriterien sollen Ihrer Meinung nach die Preise zahnärztlicher Leistungen festgemacht werden?
Staehle: Es gibt dazu ausgeklügelte Modelle, die diverse Einzelbausteine einschließlich Zeit- und Materialaufwand einbeziehen. Wichtig ist es, die Preise so zu gestalten, dass stark invasive, Substanz opfernde Überversorgungen nicht gefördert werden.
zm: Wenn es zu Kostensteigerungen in der Versorgung kommt, wer sollte Ihrer Meinung nach diese Kosten tragen: die Krankenkassen, die Patienten oder der Zahnarzt über Honorarkompensationen?Staehle: Zunächst gilt: Nicht jeder Fortschritt ist mit erhöhten Kosten verbunden. Früher kam beispielsweise bei einer Schneidekantenfraktur oftmals nur eine Stiftkronenversorgung in Frage, heute lässt sich das einfacher direkt mit Komposit lösen. Es gibt etliche weitere Alternativen zu hoch invasiven Interventionen, die ein vergleichsweise günstiges Preis-Leistungs-Verhältnis aufweisen. Damit der Zahnarzt Anreize erhält, solche Alternativen anzubieten, muss die Honorierung stimmig sein. Ein Beispiel für ein erfolgreiches Modell im Bereich der Zahnerhaltungskunde ist die Mehrkostenleistung für Komposite, das man – eventuell modifiziert – auch auf andere Bereiche wie zum Beispiel die Endodontologie ausdehnen könnte. Dies führt dazu, dass die Kosten auf mehreren Schultern verteilt werden. Die Zahnärzteschaft wird nicht umhin kommen, bei der Frage der Bedarfsgerechtigkeit Flagge zu zeigen. Wenn man die zahlreichen Marketingzeitschriften, die einem ständig unaufgefordert zugesandt werden, betrachtet, so finden sich dort kaum Vorschläge für bedarfsgerechte Interventionen. Es überwiegen vielmehr Darstellungen von unnötigen Eingriffen im Sinne einer massiven Überversorgung mit fraglichem medizinischem Nutzen. Solange sich unsere Profession von solchen Entwicklungen nicht klar distanziert – etwa mit einem Wertekodex – hat sie es schwer, glaubwürdig für eine angemessene Honorierung unverzichtbarer zahnmedizinischer Leistungen einzutreten.