Die neue Meinungsfreiheit
Anonymes Anschwärzen und Verunglimpfen blühen im Netz. So berichtete spiegel-online von einem Berliner Zahnarzt, der bei DocInsider, einem von etwa 20 Arzt-Bewertungsportalen, schlechte Noten bekommen hatte, unter anderem „… Finger weg und woanders hingehen“, hatte ein anonymer Nutzer geurteilt. Die Forderung des Zahnarztes, den Eintrag zu löschen, und die Androhung einer Klage fruchteten nicht. Ingo Horak, Gründer und Geschäftsführer von DocInsider, konnte sich auf das sogenannte „Spickmich-Urteil“ des Landgerichts Köln berufen, das die Klage einer Lehrerin gegen die gleichnamige Lehrer-Bewertungsseite als unzulässig und unbegründet abgewiesen hatte.
Schatten der Anonymität
Die Zahl der Internetfirmen, deren Geschäftsmodell die Bewertung von Zahnärzten und Ärzten durch Patienten ist, ist in den vergangenen Monaten sprunghaft angestiegen. Alle erheben den Anspruch, dem Nutzer bei der Suche nach einem „guten“ Zahnarzt oder Arzt zu helfen. Grundlage dafür sind mehr oder weniger ausgefeilte Bewertungssysteme, mit deren Hilfe Patienten ein Urteil über ihren Zahnarzt oder Arzt abgeben können.
Bei der Suche nach einem „guten“ Zahnarzt oder Arzt haben sich Patienten in der Vergangenheit oftmals auf Empfehlungen von Familienangehörigen, Bekannten und Freunden verlassen. Diese Mund-zu-Mund-Propaganda habe jedoch ihre Grenzen, erklärte Horak bei einem Symposion der Gesellschaft für Recht und Politik (GRPG) in München. Vielfach hätten die Befragten gar keine einschlägigen Erfahrungen, die genau auf das Problem zutreffen, zu dem der Patient medizinische Hilfe sucht. Und meist seien die Erfahrungen des Empfehlenden auch nicht so umfassend, als dass die Abwägung positiver und negativer Eindrücke aus verschiedenen Arztkontakten eine fundierte Entscheidung ermöglichen würde.
”Anonyme Beiträge tragen nicht zu einer transparenten Kommunikation über die Qualität ärztlicher Leistungen bei", Dr. Harald von Bose,, Landesbeauftragter für Datenschutz in Sachsen-Anhalt
Demgegenüber seien spezialisierte Bewertungsportale, die das mehr oder weniger unsystematisch und zufällig ausgetauschte Erfahrungswissen von vielen Menschen sammeln und nach bestimmten Qualitätskriterien ordnen, wesentlich besser geeignet, dem Einzelnen bei der Suche nach einem guten Arzt zu helfen, erklärte Horak. Wikipedia habe beispielhaft gezeigt, dass die „Vernunft der großen Zahl“ in Verbindung mit der sozialen Kontrolle durch die Community zu wesentlich besseren Ergebnissen führte, als die Meinung Einzelner.
Die Bewertung von Zahnärzten und Ärzten durch Patienten und die Veröffentlichung der Ergebnisse in jedermann zugänglichen Bewertungsportalen berühren unter anderem auch das Persönlichkeitsrecht des Betreffenden, erläuterte der Landesbeauftragte für den Datenschutz in Sachsen-Anhalt, Dr. Harald von Bose. Im Falle von Bewertungsportalen für Lehrer und Professoren habe die Rechtsprechung bereits einen Vorrang der Meinungsfreiheit der Portalbetreiber und der bewertenden Personen vor der informationellen Selbstbestimmung der Bewerteten festgestellt. Dies sei prinzipiell auch auf Ärzteportale übertragbar, erklärte von Bose.
Gleichwohl müssten von den Betreibern der Portale eine Reihe kritischer Punkte beachtet werden. So sei Schmähkritik nach wie vor verboten. Zudem verstärke sich die Gefahr der Stigmatisierung und der Prangerwirkung durch das Internet erheblich. Auch trügen anonyme Beiträge nicht zu einer transparenten Kommunikation über die Qualität ärztlicher Leistungen bei, gab von Bose zu bedenken.
Meinungsfreiheit von unten
Der Rechtsrahmen für die Bewertung ärztlicher Leistungen im Internet sei bislang noch weitgehend unklar, berichtete der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Philipp Plog. Im Moment gebe es keine klare Antwort auf die Frage, ob Bewertungen durch Laien überhaupt zulässig sind. So seien einige Datenschützer sogar der Ansicht, dass Bewertungen in Freitextfeldern unzulässig sind. Dem stehe jedoch die andere Auffassung gegenüber, dass es auch eine „Meinungsfreiheit von unten“ gibt, erläuterte Plog.
Die Späher der Kassen
Ungeachtet dessen verfolgen die Krankenkassen die Entwicklung sehr aufmerksam. Neben den harten Fakten der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität sei auch die subjektive Sicht der Patienten ein integraler Bestandteil der Behandlungsqualität, erklärte der Vorstandsvorsitzende der Siemens-BKK, Dr. Hans Unterhuber. „Weiche“ Urteile von Patienten, wie Vertrauen, Zufriedenheit, Schmerz oder Lebensqualität, würden heute vielfach noch zu gering geschätzt, seien aber für die Krankenkassen wichtige Entscheidungsgrundlagen beim Abschluss von Selektivverträgen, erklärte Unterhuber.
Jürgen StoschekFreier JournalistStarnberg