Die Qualen des Wahljahrs
Martin Eberspächer
Leiter der Redaktion Wirtschaft und Soziales Bayerischer Rundfunk
In der schwierigsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten müssen neunzig Prozent der gesetzlich Versicherten höhere Kassenbeiträge bezahlen. Besonders betroffen vom Einheitssatz 15,5 Prozent sind Mitglieder jener Betriebskrankenkassen, die von günstigen Strukturen profitiert haben, zum Beispiel in der Autoindustrie. Der „Konjunkturkiller“ trifft Traditionswähler der SPD. Deshalb hat Ulla Schmidt ihre Politik im Superwahljahr 2009 kurzfristig geändert. Jetzt soll der Steuerzahler Milliarden aufbringen, damit die Beiträge im Juli wieder um 0,6 Prozent sinken. Im Zweifel wird auf Pump finanziert und von späteren Generationen abgezahlt. Andernfalls könnte der Zorn der Zwangsversicherten sich gegen den Gesundheitsfonds und seine Erfinder wenden.
Für die Subvention gibt es Argumente. Um Arbeitsplätze zu sichern, hat die große Koalition versprochen, Beiträge zu drücken. Und zwar deutlich unter 40 Prozent. Trotzdem hat sie den Krankenkassen zusätzlich Leistungen aufgebürdet. Wer anschafft, soll auch bezahlen!
Andererseits wächst die Abhängigkeit der Kassen von der Politik. Der Einheitsbeitrag unterscheidet sich kaum noch von einer Steuer. Der Gesundheitsfonds könnte den Weg für einen staatlichen Gesundheitsdienst bereiten. Dem widersetzen sich die Kassen durch eine aggressive Wettbewerbspolitik.
So hat sich die AOK in Bayern nach langem Streit mit den Hausärzten arrangiert. Zur Finanzierung höherer Honorare für Hausärzte will die AOK aus dem Gesundheitsfonds Mittel für chronisch Kranke gewinnen. Hausärzte sollen solche Patienten melden. „Nur eine AOK, die entsprechende Zuweisungen über den Risikostrukturausgleich erhält, kann diesen Vertrag auf Dauer bedienen“, zitiert die „Süddeutsche Zeitung“ den Hausärzte-Chef Wolfgang Hoppenthaller. Der Satz lässt ahnen, welche Nebenwirkung der Gesundheitsfonds entwickeln kann. Vor wenigen Jahren standen Kampagnen der „Gesundheitskasse“ AOK unter dem Motto: „Wir wollen, dass Sie gesund bleiben und gar nicht erst krank werden.“ Jetzt geht es darum, möglichst vielen Mitgliedern den Stempel einer Krankheit aufzudrücken.
Der ursprüngliche Gedanke war gut gemeint. Eine Kasse, die sich für alte und chronisch kranke Mitglieder engagiert, darf nicht benachteiligt werden. Wenn aber alle Hausärzte verpflichtet sind möglichst viele Chroniker zu gewinnen, wird der Aufwand für Patientenakten gewaltig steigen. Der Risikoausgleich setzt falsche Anreize. Niedergelassene Fachärzte sehen sich durch den Hausarztvertrag der AOK benachteiligt, weil sie für vergleichbare Leistungen weniger Geld erhalten. Der Patient steht vor einer schwierigen Entscheidung. Wer immer erst zum Hausarzt will, muss die AOK wählen. Wer je nach Bedarf den geeigneten Facharzt sucht, sollte zu einer anderen Kasse wechseln. Ist das wirkliche eine sinnvolle Alternative?
Bayern hat die Gesundheitspolitik der letzten Jahre mit Horst Seehofer gestaltet. Trotzdem wird der neue Gesundheitsminister Markus Söder den Gesundheitsfonds mit Argusaugen beobachten. Vor allem gut ausgerüstete Fachärzte in Süddeutschland sehen sich als Verlierer der jüngsten Reformen und machen mobil. Zur Bundestagswahl wird die CSU mit einem neuen Konzept antreten. Ihr neuer Vorsitzender Seehofer war 2004 gegen das Prämienmodell der Schwesterpartei CDU angetreten. Zusammen mit den Liberalen will die CSU in der Bundespolitik den „Arzt als freien Beruf“ stärken. Der als „Wadlbeißer“ anerkannte Söder soll in Berlin eine klare Position gegen medizinische Versorgungszentren vertreten. Das Recht auf freie Wahl von Arzt und Therapie will er in ein gemeinsames Wahlprogramm von CDU und CSU einbringen. Damit sollen Weichen für eine christlich-liberale Koalition in Berlin und gegen die Staatsmedizin gestellt werden. Eine Neuauflage von Seehofers „wunderbarer Sommernacht“ mit Ulla Schmidt ist 2009 nicht zu erwarten.
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