Prognosen für das Jahr 2020
Während die Vertreter von Union und FDP im Berliner Regierungsviertel in zähen Verhandlungen um den Koalitionsvertrag rangen, war im unweit gelegenen Ernst-Reuter-Haus beim Bundeskongress der DGIV am 22. Oktober 2009 von Kontroverse nichts zu spüren. Anstelle eines hitzigen Schlagabtauschs verfolgte das Plenum, wie die Teilnehmer der Podiumsdiskussion einträchtig ihre vorhersehbaren Prognosen zur Entwicklung des Gesundheitswesens bis zum Jahr 2020 formulierten und ihre Wünsche und Erwartungen an die neue Bundesregierung präsentierten.
Das Gesundheitswesen müsse sich darauf einstellen, dass der Anteil der über 60-Jährigen von heute 26 auf 30 Prozent im Jahre 2020 ansteigen werde, erklärte Dr. Jürgen Heinzerling vom ZVEI-Fachverband Elektromedizinische Technik: „Wir müssen daher für mehr Nachhaltigkeit, Prävention und Vernetzung in der Gesundheitsinfrastruktur sorgen.“ Das bedeute unter anderem auch, sich von der Einzelleistungsvergütung zu lösen und stattdessen Prozesse in der Gesundheitsversorgung zu vergüten.
Selbstmanagement
Auf die Folgen des demographischen Wandels machte auch Dr. Klaus Meyer-Lutterloh von der Deutschen Gesellschaft für bürgerorientierte Gesundheitsversorgung aufmerksam: „Ältere und chronisch kranke Patienten müssen zum Selbstmanagement befähigt werden. Derzeit sind die Complianceraten beispielsweise bei Herzinsuffizienz, Diabetes oder psychischen Erkrankungen allerdings sehr schlecht, dieser Mangel verursacht Jahr für Jahr horrende Kosten und unnötige Krankenhauseinweisungen.“
Vernetzung ist das Gebot der Stunde, darin waren sich alle Akteure auf dem Podium einig: „Medizinische Versorgungszentren (MVZ) können als Keimzelle für Kooperationsprojekte im ambulanten Bereich einen wichtigen Beitrag leisten, die Versorgung speziell älterer und multimorbider Patienten zu verbessern“, meinte Dr. Harald Katzberg vom Bundesverband Medizinischer Versorgungszentren (BMVZ). MVZ würden künftig auch auf dem Land die fachärztliche Versorgung prägen: „Ich denke da an Filialmodelle, in denen zum Beispiel montags der Augenarzt, dienstags der Urologe, mittwochs der Orthopäde Sprechstunde hält“, sagte Katzberg.
Bislang kämpften die Betreiber von MVZ darum, innerhalb der ärztlichen Selbstverwaltung als gleichberechtigte Partner akzeptiert zu werden, „von der neuen Bundesregierung erwarten wir daher, dass MVZ nicht länger unnötige Steine in den Weg gelegt werden“. Katzberg bemängelte damit die geplante Auflage, dass die Inhabergesellschaft eines MVZ mehrheitlich aus Ärzten bestehen muss: „Diese Einschränkung verhindert den Aufbau größerer Strukturen.“ Der Betrieb von MVZ sei erst ab einer gewissen Unternehmensgröße interessant, „und wenn nun versucht wird, diese Strukturen künstlich klein zu halten, dann ist das daneben“, kritisierte Katzberg.
Auch sonst hofften die Diskutanten auf neue und effizientere Strukturen: „In zehn Jahren wird in ländlichen Regionen das „Schwester AGnES“-Konzept Standard sein. Das heißt, die Pflegeschwester führt Hausbesuche durch, an denen der Arzt dann per Videokonferenz teilnimmt. Bis 2020 werden wir daher auch flächendeckend mit der elektronischen Gesundheitskarte arbeiten“, prognostizierte Wolfgang Loos von der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin (DGTelemed), obwohl viele Zuhörer im Plenum sich angesichts dieser ehrgeizigen Erwartung spöttisches Gelächter nicht verkneifen konnten.
„Die Telemedizin muss sich stärker an den Interessen der Anwender orientieren. Aktuell tummeln sich auf diesem Gebiet noch zu viele Informatiker“, meinte Loos. Es gebe bereits viele telemedizinische Projekte in Deutschland, „doch meist handelt es sich um Insellösungen und nicht um eine flächendeckende telematische Versorgung. Daher überstehen viele Projekte die Startphase nicht.“ Defizite beim Aufbau telemedizinischer Strukturen beklagte auch Meyer-Lutterloh: „Die bisherigen Planungen zur elektronischen Gesundheitskarte wecken den Eindruck, man beginne den Hausbau mit der Tür und dem Türschloss, anstatt zunächst ein Fundament und tragende Wände zu errichten.
Telematik
Die Organisationen der Leistungserbringer in der Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte (gematik) haben sich offenbar bereits ganz ähnliche Gedanken über die telematische Infrastruktur in Deutschland gemacht: Am 2. November 2009 veröffentlichten sie eine gemeinsame Erklärung, wonach eine Bestandsaufnahme des Projekts elektronische Gesundheitskarte (eGK) notwendig ist. „Es ist wichtig, dass wir endlich die Belange der Anwender in den Vordergrund stellen und die spezifischen Gegebenheiten in den einzelnen Versorgungssektoren“, erklärte Dr. Carl-Heinz Müller, Vorstand der KBV. „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, über diese Neuausrichtung nachzudenken.“ Um die Patientenversorgung zu verbessern, bedürfe es neuer Strukturen der Zusammenarbeit und eine bundeseinheitliche und sichere Telematikplattform, erklärte Müller.
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