Die selbsthilfefreundliche Arztpraxis
Wie lässt sich die Kooperation von gesundheitlicher Selbsthilfe und ärztlicher Praxis verbessern? Dieser Frage widmete sich das im vergangenen Jahr vom BKK-Bundesverband geförderte Modellprojekt „Die selbsthilfefreundliche Arztpraxis“. Zahnärztliche Praxen wurden beim Projekt bislang nicht berücksichtigt und sind auch in näherer Zukunft dafür nicht vorgesehen. Der Grund hierfür liegt wohl in der geringen Anzahl von Selbsthilfegruppen, die für eine direkte Kooperation mit der Zahnarztpraxis in Frage kämen.
„Grundlage für die Kooperation der verschiedenen Projektteilnehmer aus der Wissenschaft, Selbsthilfe und Ärzteschaft waren die positiven Erfahrungen, die bereits mit dem Vorgängerprojekt „Selbsthilfefreundliches Krankenhaus“ in Hamburg gemacht wurden“, erklärt Dr. Peter Scholze, Vorstandsbeauftragter für Patientenorientierung bei der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB). „Ausgangspunkt unserer Überlegungen war, wie man diese Erfahrungen auch auf den ambulanten Sektor transferieren kann“, sagt Scholze, der auch im Beirat des bundesweiten Modellprojektes sitzt.
Grundsatzstudien
Ziel des Projektes: eine stärkere Verknüpfung der ambulanten medizinischen Versorgung mit den Selbsthilfegruppen. Um das zu erreichen, finanzierte die BKK zunächst einige Grundsatzstudien. „Es galt herauszufinden, wie aufgeschlossen die Ärzteschaft dem Thema gegenüber ist und inwieweit eine Implementierung der Selbsthilfefreundlichkeit als Kernelement der Patientenorientierung in den Qualitätsmanagementsystemen sinnvoll und machbar ist. Der Zeitpunkt hierfür erschien uns aufgrund des gesetzlich vorgegebenen Zeitrahmens für die im Aufbau befindlichen QM-Systeme besonders günstig“, sagt Dagmar Siewerts, Ansprechpartnerin für die Selbsthilfeförderung beim BKK-Bundesverband.
Hintergrund: An der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte sind verpflichtet, ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement (QM) einzuführen und weiterzuentwickeln. Gesetzliche Grundlage für diese Verpflichtung ist der Paragraf 135 a des Sozialgesesetzbuches V (SGB V).
Die Leistungserbringer müssen sich demnach nicht nur an einrichtungsübergreifenden Maßnahmen der Qualitätssicherung beteiligen, sondern auch ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement einführen und weiterentwickeln.
Ziel der gesetzlichen Vorgabe zum Aufbau von QM-Systemen ist es, die Qualität der medizinischen Versorgung kontinuierlich zu sichern und zu verbessern. Der Gesetzgeber hat dabei vorgesehen, das einrichtungsinterne Qualitätsmanagement unter Berücksichtigung der Praxisgegebenheiten schrittweise in drei Phasen einzuführen und weiterzuentwickeln. Dabei umfassen die Planungs- und Umsetzungsphase jeweils einen Zeitraum von zwei Jahren, die Überprüfungsphase soll ein weiteres Jahr beanspruchen dürfen. Seit Anfang 2008 müssen die Planungsprozesse, Anfang 2010 dann die Umsetzungsprozesse abgeschlossen sein. Dabei gilt es zu beachten: Eine systematische Patientenorientierung soll beim Aufbau der QM-Systeme berücksichtigt werden – so schreibt es der GBA in der entsprechenden Richtlinie.
Voll kompatibel
Die Universitätsklinik Hamburg, die bereits beim Krankenhausprojekt teilgenommen hatte, sollte den aktuellen Entwicklungsstand der wichtigsten ärztlichen QM-Systeme für die ambulante Versorgung analysieren und herausfinden, ob eine Implementierung des Parameters Selbsthilfefreundlichkeit überhaupt möglich ist. Das Ergebnis fällt eindeutig aus: „Selbsthilfeunterstützung und Selbsthilfefreundlichkeit sind mit der bisherigen Qualitätsentwicklungspolitik im ambulanten Bereich voll und ganz kompatibel“, bilanziert Studienleiter Professor Alf Trojan vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Für die Integration von Selbsthilfeunterstützung und Selbsthilfefreundlichkeit als Indikatorenset oder Qualitätsziel kämen vor allem die Dimensionen Patientenorientierung, Kundenorientierung oder Patientenbeteiligung in Frage. Besonders geeignet für die Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe, so die Hamburger Forscher, seien interdisziplinäre Netzwerke im Rahmen der neuen Versorgungsformen. Eine Aufnahme der Selbsthilfefreundlichkeit in Indikatorensysteme und Qualitätsmanagementsysteme könne, zusammen mit anderen Qualitätsmerkmalen, künftig auch zu zusätzlichen Einnahmen für zertifizierte Ärzte führen, da die Kassen ab 2009 für besonders gute Qualität Zusatzhonorare vereinbaren können.
Peter Scholze von der Kassenärztlichen Vereinigung in Bayern sieht die Ergebnisse der Hamburger Studien als wichtige Grundlage, um eine Implementierung von Selbsthilfefreundlichkeit in die QM-Systeme weiter voranzutreiben. Dabei stehen vor allem die Qualitätsmanagementsystem QEP (Qualität und Entwicklung in Praxen) und KTQ im Fokus. QEP ist das QM-System der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), das für alle Fachrichtungen und Praxisgrößen geeignet ist und alle gesetzlichen Anforderungen zu Qualitätsmanagement (QM) erfüllt. KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen) ist ein QM-System für Kliniken und Arztpraxen.
Neben der Analyse der vorhandenen QM-Systeme und einer möglichen Implementierung von Selbsthilfefreundlichkeit hat die Hamburger Forschergruppe parallel auch Ärzte befragt, um herauszufinden, ob an einer intensivierten Kooperation mit der gesundheitlichen Selbsthilfe von ärztlicher Seite überhaupt Interesse besteht. Die Forscher unter der Leitung von Professor Trojan befragten zwischen Juni und August 2008 1 643 Moderatoren von ärztlichen Qualitätszirkeln in Hessen, Bayern und Hamburg schriftlich. Entscheidungsgrundlage für die Auswahl dieser Gruppe, so Trojan, sei die Annahme gewesen, dass Moderatoren von Qualitätszirkeln überdurchschnittlich gut über Qualitätsmanagement informiert seien. Zudem seien sie besonders geeignet, Akzeptanz und Informationsbedarf über Selbsthilfefreundlichkeit als Qualitätsmerkmal auf ärztlicher Seite einzuschätzen. „Unsere Befragungen haben ergeben, dass bei den Ärzten durchaus eine große Bereitschaft für eine Zusammenarbeit mit der gesundheitlichen Selbsthilfe vorhanden ist. Es besteht jedoch ein Aktivierungs- und Motivierungsbedarf für die meisten Kooperationsformen“, bilanziert der Studienleiter. Anreize zur Förderung der Zusammenarbeit seien beispielsweise zusätzliche Honorierungen, Fortbildungspunkte und die Entlastung des Arztes durch eine größere Autonomie des Patienten. „Ein Prädikat „Selbsthilfefreundliche Praxis“ wird hingegen deutlich weniger als Kooperationsanreiz betrachtet.“
Positive Grundhaltung
Auch Dr. Peter Scholze von der KVB schätzt das Interesse der Ärzte an einer Kooperation grundsätzlich hoch ein: „Das Arzt-Patienten-Verhältnis hat sich in der Vergangenheit stark verändert. Die Ärzte sehen heute ihre Patienten in erster Linie als Partner in der Behandlung.“ Die Ergebnisse einer Befragung von bayerischen Haus- und Fachärzten sowie Psychotherapeuten belegen die positive Grundhaltung zur Selbsthilfe eindrucksvoll: 95 Prozent der Einzelpraxen und 97 Prozent der Praxisnetze halten Selbsthilfegruppen (SHG) für sinnvoll. 77 Prozent der Einzelpraxen und 92 Prozent der Praxisnetze denken, durch eine Kooperation mit SHG bei der Betreuung chronisch kranker oder schwieriger Patienten entlastet zu werden, 73 Prozent der Einzelpraxen und 73 Prozent der Praxisnetze sind der Meinung, dass neue Ansätze zur Patientenorientierung wichtig beziehungsweise dringlichst umzusetzen sind. „Die Ärzte stehen der Selbsthilfe absolut wohlwollend gegenüber. Daraus hat sich in der Vergangenheit aber zu wenig direkte Zusammenarbeit ergeben“, so Scholze. Dies habe man mit dem Projekt ändern wollen. „Der Wille zur Kooperation ist ja auf beiden Seiten da. Wir haben deshalb bei uns in Bayern versucht, Ärzte und Selbsthilfe zueinanderzuführen – fast ein bisschen so, wie ein Heiratsvermittler.“
Dafür kontaktierte die KVB nach einer Zielgruppenanalyse, welche Ärzte überhaupt Interesse an einer solchen Kooperation haben könnten, diese gezielt und lud sie zu verschiedenen regionalen Treffen mit Selbsthilfegruppen ein. Dabei kooperierte die KVB mit der „Selbsthilfekoordination Bayern“ (Seko). Scholze: „Bei diesen Treffen gab es dann einen regen Austausch darüber, wie man als Arzt ganz konkret seine Praxis selbsthilfefreundlicher gestalten kann – beispielsweise durch das Auslegen von Info-Materialien der Selbsthilfegruppen, durch gezieltes Verweisen an eine Selbsthilfegruppe oder auch durch Vorträge zu bestimmten Krankheitsbildern bei Gruppentreffen.“ Diese regionalen Treffen sollen auch in Zukunft in Kooperation mit der Seko ausgebaut werden.
Ein weiterer Strang des Projektes, der direkt über die Seko lief, war die praktische Umsetzung von Selbsthilfefreundlichkeit in Arztpraxen. „Das Projekt Selbsthilfefreundliche Arztpraxis richtet sich hier bei uns in Bayern ganz konkret an niedergelassene Ärzte und Praxispersonal. Unser Ziel ist es, das Interesse der Ärzte an Selbsthilfethemen zu wecken und zu intensivieren sowie Basisinformationen und Qualifizierungsmaßnahmen für Ärzte und Praxispersonal zusammenzustellen. Darüber hinaus entwickeln wir Konzepte und Anreize für Kooperationen“, erklärt Irena Tezak von der Selbsthilfekoordination Bayern in Würzburg. Die Seko habe in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass Ärzte für das Thema Selbsthilfe prinzipiell aufgeschlossen seien, aber oft keine genauen Vorstellungen davon hätten, wie eine Kooperation aussehen könnte.
Fortbildung für Ärzte
Im Herbst 2008 bot die Seko deshalb in Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte und Helferinnen niedergelassener Praxen an. Tezak: „Das Thema Selbsthilfe ist mittlerweile in der Ärzteschaft so anerkannt, dass es für die Veranstaltung von der KV Bayern Fortbildungspunkte gab. Das hat uns ganz besonders gefreut und kam auch bei den teilnehmenden Ärzten sehr gut an.“
Ziele der Fortbildungen seien gewesen, die Kooperation zwischen Ärzten beziehungsweise ihren Arzthelferinnen und den Selbsthilfegruppen zu stärken, Vorurteile abzubauen und eine konkrete Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen einzuleiten. Außerdem galt es herauszuarbeiten, wie die Praxen die Zusammenarbeit mit Selbsthilfezusammenschlüssen in das vorgeschriebene regelmäßige Qualitätsmanagement einbauen könnten. Tezak weiter: Die Reaktion der teilnehmenden Ärzte an den Fortbildungsveranstaltungen in Bamberg und Augsburg hat gezeigt, dass Ärzte durchaus ein großes Interesse an einer Kooperation haben. „Es ist allerdings wichtig, dass sie über die Vorteile einer solchen Zusammenarbeit konkret informiert werden. Schließlich profitieren sie von einer solchen Kooperation, etwa durch eine größere Autonomie des Patienten oder die Hinzugewinnung neuer Patienten über die Selbsthilfegruppe.“
Um den Kontakt zu Selbsthilfegruppen zu erleichtern, hat die Seko neben den Fortbildungsveranstaltungen auch eine Internetplattform aufgebaut, die sich insbesondere an Ärzte und Praxismitarbeiter wendet. Mithilfe dieser Internetseite soll Ärzten und medizinischem Fachpersonal, aber auch weiteren an Selbsthilfe Interessierten, eine schnelle Möglichkeit gegeben werden, sich darüber zu informieren, wo die nächste Einrichtung in Bayern zu finden ist, die an Selbsthilfegruppen weitervermittelt, und ob es zur entsprechenden Erkrankung eine Gruppe in Bayern gibt.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) begrüßt die Kooperation mit Selbsthilfegruppen: „Ärzte profitieren vom Erfahrungswissen einer Selbsthilfegruppe zu einem bestimmten Krankheitsbild. Dabei stärkt größeres Verständnis der spezifischen Probleme – besonders bei seltenen Erkrankungen – das Verhältnis zwischen Patient und Arzt. Es verbessert die Compliance und macht einen Therapieerfolg wahrscheinlicher. Selbsthilfegruppen wiederum profitieren vom Fachwissen der Ärzte“, betont Dr. Carl-Heinz Müller, Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV).
Otmar MüllerFreier JournalistNürburgstraße 650937 Köln