Fehlerhafte Kodierung
Seit neun Jahren tragen die niedergelassenen Ärzte mit dem Kodiersystem ICD-10 die Krankheiten ihrer Patienten in eine gesetzlich vorgegebene Reihe aus Buchstaben und Ziffern ein. Kodieren nennt sich der Prozess. Zufrieden waren die Mediziner mit der Diagnosesystematik noch nie. Zu kompliziert, klagen sie, zu unübersichtlich und starr. Seit Jahresbeginn haben die Kodierungen dennoch massiv an Bedeutung gewonnen. Grund ist der Gesundheitsfonds: Er verteilt anhand der verschlüsselten Krankendaten die rund 167 Milliarden Euro im Gesundheitssystem. Basis der Morbiditätsabschätzung ist die berühmte Liste von 80 Krankheiten. Sie entscheidet, wie viel Geld jede der etwa 200 Kassen erhält.
Ohne Übereinstimmung
Dass es um die Kodierqualität nicht gut bestellt ist, zeigt jetzt eine neue Studie der Uni Leipzig und der Sächsischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Vielen Ärzten sind nämlich die Regeln für die Kodierung der Krankheitsbilder gar nicht klar.
Für die „Sesam-Studie“ wurden in 209 Hausarztpraxen die Daten von 8 877 Patienten zusammengetragen. Dasselbe Datenmaterial wurde parallel immer von zwei Ärzten verschlüsselt. Ergebnis: Nur wenn eine sehr grobe Einteilung gefragt war, stimmten die Ärzte in ihrer Zuordnung einigermaßen überein. Je präziser die Kodierung erfolgen sollte, desto weiter wichen die Tester indes voneinander ab. Wurde eine detaillierte Charakterisierung der Krankheit verlangt, also die höchste Stufe der Verschlüsselung, kamen die Tester nur noch ganz selten auf einen Nenner.
Selbst bei chronischen Krankheiten, die für die morbiditätsbezogene Vergütung von Ärzten und Kassen besonders wichtig sind, war die Übereinstimmung schlecht. Und zwar auch hier umso schlechter, je differenzierter kodiert wurde.
Augenscheinlich ist der ICD-10 nicht dazu geeignet, die Morbidität der Patienten so zuverlässig abzubilden, dass darauf eine faire Vergütung für Vertragsärzte und eine ausreichende Finanzierung der Kassen unter Beachtung von Gerechtigkeitsprinzipien aufgebaut werden könnte. Genau zu diesem Schluss kommen auch die Autoren. Eine morbiditätsorientierte Vergütung im Hausarztbereich führe zu großen, ungerechten Verwerfungen, heißt es in der Studie. Den ein oder anderen Fehler könnte man sicherlich verschmerzen, doch lag die Übereinstimmung je nach Krankheitsbild bei deutlich weniger als zehn Prozent. Mit anderen Worten: Die monsterhafte Umverteilungsmaschinerie namens Gesundheitsfonds beruht im Wesentlichen auf zweifelhaftem Datenmaterial.
Ein Umstand, den das Bundesversicherungsamt sogar freimütig einräumt, berichtet die „Süddeutsche Zeitung“. Trotzdem sei das Verteilungssystem nicht unfair, sondern vernünftig, heißt es dem Blatt zufolge unter den Fachleuten im Bonner Amt. Schließlich sei die Datenlage für alle Kassen gleich schlecht. Nur wenn eine Kasse versuche, die Qualität der Kodierungen einseitig zu verbessern, wie in den vergangenen Wochen vereinzelt geschehen, komme es zu Verwerfungen im System.
Auch der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen teilt die Einschätzung des Amtes: „So eigentümlich es klingt, wenn die Ärzte gegenüber allen Kassen gleichmäßig gut oder schlecht kodieren, wird das Geld trotzdem richtig verteilt”, sagte ein Sprecher.
Falsch aber fair
Geht es nach dem Vorsitzenden der AOKRheinland/Hamburg, Wilfried Jacobs, muss die Verteilung nach dem Motto „falsch aber fair” ein Ende haben. Verbindliche Richtlinien seien notwendig, damit die Ärzte ihre Diagnosen richtig kodieren.
Eine Forderung, mit der er bei der KBV offene Türen einrennt. „Wir haben ein hohes Interesse daran, dass die Ärzte bald eine gute Kodierhilfe bekommen”, so ein Sprecher. Bis Sommer dürfte das noch dauern. Dann erst soll ein solches Regelwerk vorliegen.