Seniorenzahnmedizin in Deutschland

Status quo und Ziele der nahen und fernen Zukunft

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Christian Bär, Thomas Reiber, Ina Nitschke

Ältere Menschen werden den Alltag in den Zahnarztpraxen in den kommenden Jahren immer stärker prägen: Der Anteil der Senioren an der Gesamtbevölkerung in Deutschland steigt. Der Verlust des letzten Zahnes tritt in der Regel erst in einem höheren Alter ein. Die Probleme bei der Versorgung dieser Bevölkerungsgruppe sollten auch im Gebiet der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde weiter in den Vordergrund gerückt werden.

Mit zunehmender Gebrechlichkeit der Betagten und Hochbetagten sollte sich die zahnmedizinische Behandlung in eine zahnmedizinische Betreuung wandeln. Auch bei einer im Vergleich zu früher erst später eintretenden Pflegebedürftigkeit sind in der Zukunft bei vielen Senioren die zweiten und dritten Zähne zu versorgen. Bezahnte Pflegebedürftige fordern nicht nur fachliches Können der Zahnärzte, sondern auch spezielle zahnmedizinische Kenntnisse im Bereich der Geriatrie und Pflege. Alle Berufsgruppen einer Pflegeeinrichtung, Geriater und Hausärzte sollten einen Überblick über die Grundlagen der zahnmedizinischen Betreuung erhalten.

Seniorenzahnmedizin: Begriffsklärung

„Ältere Patienten haben wir doch schon immer behandelt!“, wird von einigen Zahnärzten und den Mitgliedern des zahnmedizinischen Teams angeführt, die sich unter der wachsenden Fachrichtung „Seniorenzahnmedizin” nichts Konkretes vorstellen können. Seniorenzahnmedizin ist ein Sammelbegriff für ein zahnmedizinisches Fachgebiet, das auch als Gerostomatologie, Gerodontologie, Gerontostomatologie sowie Alternszahnmedizin, Alterszahnmedizin oder Alterszahnheilkunde bekannt ist.

Die Seniorenzahnmedizin hat die Aufgabe, ältere Menschen in allen direkt zahnmedizinischen Aufgaben und bei Fragestellungen aus den angrenzenden Bereichen während des Alterns zu begleiten, zu betreuen und wissenschaftlich die Alternsvorgänge aufzubereiten. Sie betreut somit nicht das Alter zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern begleitet einen kontinuierlich fortschreitenden Prozess, nämlich das Altern beziehungsweise das Älterwerden der Menschen. Unter Berücksichtigung der Lebenssituation und des Allgemeinzustandes der Senioren weist die Seniorenzahnmedizin auf die inter- und multidisziplinären Zusammenhänge und Fragestellungen, die durch ein orales Wohlbefinden beeinflusst werden, intensiv hin. Die Seniorenzahnmedizin setzt sich aus mehreren Teilgebieten zusammen (siehe Grafik rechts oben).

Der erste Bereich –Orale Gerontologie– beinhaltet die altersbedingten Veränderungen im orofacialen Bereich, zum Beispiel altersbedingte Strukturveränderungen der Speicheldrüsen, die im Zusammenhang mit dem gesamten Alterungsprozess im Körper stehen und sich im Bereich des stomatognathen Systems äußern.

Unter dem zweiten Bereich –Orale Geriatrie– werden Vorgänge in der Seniorenzahnmedizin zusammengefasst, deren Ursprung in einer krankhaften Veränderung beim älteren Menschen liegt. Hier sei als Beispiel der Einfluss von Medikamenten, die zur Therapie von allgemeinmedizinischen Erkrankungen eingesetzt werden, auf die Funktion der Speicheldrüsen genannt, die dann wiederum Einfluss auf das Kariesrisiko des älteren Menschen haben.

Als weiteres Gebiet in der Seniorenzahnmedizin ist der BereichGerostomatologische Gesundheits-, Ernährungs- und Pflegewissenschaftenzu nennen. In diesem Bereich werden die Zusammenhänge und die Einflüsse auf die zahnmedizinische Betreuung der alternden Menschen dargestellt, analysiert und gegebenenfalls versucht, konzeptionell auf notwendige Veränderungen Einfluss zu nehmen. Als Beispiel für ein gerostomatologisches Setting wäre die zahnmedizinische Betreuung in Senioreneinrichtungen zu nennen oder die Zusammenarbeit mit Alzheimer-Verbänden. Ein weiteres Teilgebiet stellt die „Geriatrische Zahnmedizin“ dar, die die zahnmedizinische Betreuung der hilfe- und pflegebedürftigen Menschen abdeckt. Die geriatrische Zahnmedizin ist kein Synonym für die Seniorenzahnmedizin, die die Mundgesundheit aller Senioren, egal ob fit, gebrechlich oder pflegebedürftig, als ihre Aufgabe betrachtet.

Demografie

Wie die Alterspyramiden der meisten Indust rienationen wird sich auch die deutsche in den nächsten Jahrzehnten erheblich verschieben und sich eher als Alterspilz in der Zukunft präsentieren. Aktuelle Berechnungen besagen, dass sich die deutsche Bevölkerung mit einer 80-prozentigen Wahrscheinlichkeit verringern wird. Die Geburtenzahlen bleiben rückläufig und die Zahl der Todesfälle wird trotz steigender Lebenserwartung zunehmen. Die Bevölkerungszahl, die bereits seit 2003 rückläufig ist, wird auf 74 bis 69 Millionen Einwohner im Jahr 2050 abnehmen. Die Relationen zwischen Alt und Jung werden sich dadurch verändern. Ende 2005 waren 20 Prozent der Bevölkerung jünger als 20 Jahre und 19 Prozent 65 Jahre und älter. Die übrigen 61 Prozent sind die Menschen im Erwerbsalter (20 bis unter 65 Jahre). Im Jahr 2050 wird dagegen nur etwa die Hälfte der Bevölkerung im Erwerbsalter sein, über 30 Prozent werden 65 Jahre oder älter und zirka 15 Prozent unter 20 Jahre alt sein.

Die Zahl der über 65-Jährigen steigt wahrscheinlich bis Ende 2030 um etwa die Hälfte: von aktuell knapp 16 Millionen auf zirka 24 Millionen. Danach wird sie leicht zurückgehen. Die Bevölkerung der 80-Jährigen und Älteren nimmt unablässig zu: von knapp vier Millionen im Jahr 2005 auf zehn Millionen im Jahr 2050. Dann werden über 40 Prozent der über 65-jährigen 80 Jahre oder älter sein [Statistisches Bundesamt, 2006].

Zahlen zur Pflegebedürftigkeit

Entsprechend der steigenden Anzahl der betagten und hochbetagten Menschen an der Gesamtbevölkerung wird auch die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland ansteigen. Im Jahr 2007 stieg die Zahl der Empfänger der Pflegeversicherung in der Bundesrepublik Deutschland um zirka fünf Prozent auf 2,25 Millionen. Von ihnen erhielten über zwei Drittel Pflege im Privathaushalt und etwa ein Drittel stationäre Pflege [Statistisches Bundesamt, 2008] (siehe Grafik).

Mundgesundheit von Senioren

Aufgrund der zahnmedizinischen Präventionsmaßnahmen sind auch in Deutschland die Zahnzahlen bei den Senioren gestiegen, und der Anteil der Zahnlosen hat sich gesenkt. So ist in der Vierten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS IV) bei den 65- bis 74-Jährigen die Anzahl der fehlenden Zähne seit 1997 von 17,6 auf 14,2 in 2005 gesunken. Auch der Anteil der Zahnlosigkeit ist bei den jungen Alten von 24,8 Prozent auf 22,6 Prozent rückläufig, der Kariesindex ist erstmalig gesunken. Hier liegt die Ursache darin, dass weniger Zähne als früher aus Kariesgründen extrahiert werden. Da immer mehr Zähne erhalten werden, ist jedoch die Wurzelkaries als besondere Erkrankungsform um 29,5 Prozent stark angestiegen; 45 Prozent der Senioren haben mindestens eine kariöse oder gefüllte Wurzelfläche. Weiterhin ist festzustellen, dass die jungen Senioren mehr Zähne zur Verfügungen haben als früher, diese aber auch oft parodontal erkrankt sind. 48,0 Prozent der Bezahnten sind von einer mittelschweren und 39,8 Prozent von einer schweren Ausprägung der Krankheit betroffen. Dies entspricht einer Zunahme von 23,7 Prozent im Vergleich zur letzten Erhebung im Jahr 1997 (DMS III). Hier zeigt sich auch der deutlichste Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Zahnverluste und der Zunahme von Parodontalerkrankungen.

Nach wie vor überwiegt bei Senioren der abnehmbare Zahnersatz, wobei es allerdings auch einen klaren Trend zum festsitzenden Ersatz gibt. Besonders auffällig ist, dass Implantat gestützte Versorgungen seit 1997 um mehr als das Dreifache angestiegen sind. Waren es 1997 noch 0,7 Prozent, so besaßen 2005 bereits 2,6 Prozent der Senioren implantatgestützten Zahnersatz [Micheelis und Schiffner, 2006].

Aufgrund der zunehmenden Multimorbidität im Alter sind Allgemeinmediziner und Fachärzte wichtig für die medizinische Versorgung von Senioren. 91 Prozent der über 70-Jährigen berichten, regelmäßig zum Arzt zu gehen. Die Zahl der Kontakte lag im Durchschnitt bei etwas mehr als sechs Besuchen pro Quartal [Linden et al., 1996]. Eine reduzierte allgemeine Gesundheit und die wachsende Multimorbidität sind Gründe zur Nichtinanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen. So konsultieren ältere Menschen, welche viel Zeit für Arztbesuche und viel Geld für Medikamente aufbringen, eher weniger den Zahnarzt [Kiyak und Reichmuth, 2005]. Gerade, wenn Patienten an mehreren chronischen Erkrankungen gleichzeitig leiden, treten für sie zahnmedizinische Belange zunehmend in den Hintergrund. So werden zum Beispiel regelmäßige Prophylaxeangebote nicht mehr wahrgenommen, was eine Vernachlässigung der Mundgesundheit zur Folge hat. Dadurch weisen Betagte und vor allem Hochbetagte, die der Zahnarzt meist erst nach einem medizinischen Ereignis sieht (wie in einer Rehabilitationsklinik mit Zustand nach einem Schlaganfall), mitunter massiv desolate Gebisszustände auf.

Ihren Behandlungsbedarf schätzen nur 39 Prozent der über 70-Jährigen korrekt ein. Viele dieser Hochbetagten suchen den Zahnarzt nur beschwerdeorientiert auf. Als Grund für eine Nichtinanspruchnahme geben 87 Prozent dieser Senioren an, dass alles in Ordnung sei. Bei der Beantwortung der Frage, warum andere ihrer Altersgruppe den Zahnarzt nicht aufsuchen, wurde von 32 Prozent der Hochbetagten angegeben, dass andere Hochbetagte glauben, dass alles in Ordnung sei. 43 Prozent glauben aber auch, dass die anderen nicht den Zahnarzt aufsuchen, weil sie Angst haben [Nitschke, 2005].

Zahnmedizinisch funktionelle Kapazität

Die vierstufige Einteilung zur zahnmedizinischen funktionellen Kapazität (ZFK), die die Belastbarkeit des älteren Menschen bei der zahnärztlichen Behandlung, seine Mundhygienefähigkeit und seine Eigenverantwortlichkeit berücksichtigt, eignet sich, um die zahnmedizinische Belastbarkeit von Senioren besser einzuschätzen sowie deren Behandlung besser zu planen [Nitschke und Hopfenmüller, 1996].

Bei der Therapiefähigkeit ist vom Zahnarzt abzuschätzen, ob eine zahnärztliche Therapie – wie bei einem allgemeinmedizinisch gesunden Patienten – durchgeführt werden kann oder ob und in welchem Maße bei der Behandlung wegen einer verringerten Belastbarkeit Einschränkungen (Anzahl und Länge der Behandlungstermine, Wahl des Behandlungskonzeptes und des prothetischen Behandlungsmittels) zu erwarten sind.

Bei der Beurteilung der Mundhygienefähigkeit ist die Frage zu beantworten, ob der Patient einer individualprophylaktischen zahnmedizinischen Maßnahme folgen kann und ob er die motorischen und kognitiven Fähigkeiten besitzt, die Instruktionen zur Mundhygiene zu verstehen und bei der täglichen Mund- und Prothesenhygiene umzusetzen.

Das Kriterium Eigenverantwortlichkeit beschreibt, ob der Patient in der Lage ist, die Entscheidung zu treffen, einen Zahnarzt zur Kontrolle oder zur Therapie aufzusuchen, und ob er diesen Besuch dann auch für sich selbst organisieren kann.

Diese drei KriterienTherapiefähigkeit, MundhygienefähigkeitundEigenverantwortlichkeitsind jeweils einzeln nach dem Anamnesegespräch für den Patienten abzuschätzen. Der am schlechtesten bewertete Parameter führt zur Festlegung der Belastbarkeitsstufe (BS 1, BS 2, BS 3, BS 4) des Patienten, die dann Ausdruck der zahnmedizinischen funktionellen Kapazität ist (oder Tabelle 1 oder Abbildung 3).

Zum Umgang mit älteren Patienten in der Praxis

Einige Zahnärzte empfinden den Umgang mit älteren Patienten als schwierig – nachlassende Sinneswahrnehmungen machen die Kommunikation mühsam, außerdem gelten alte Menschen mitunter als eigensinnig. Wer als Zahnarzt mehr über das Älterwerden weiß und sich gemeinsam mit dem Team auf Besonderheiten im Umgang mit dieser wachsenden Patientengruppe einstellt, kann diese Probleme meistern und damit den Zugang von Senioren zu zahnmedizinischen Dienstleistungen verbessern. Im Praxisalltag ist es zudem angebracht, die Mitarbeiterinnen gezielt für den Umgang mit Senioren zu schulen.

Folgende Punkte zur Schulung der Mitarbeiterinnen sind wichtig:

• Die Umgebung um den Behandlungsstuhl sollte die Konzentration fördern: Beruhigende Hintergrundmusik, wie sie in vielen Zahnarztpraxen üblich ist, kann Patienten, deren Hörvermögen nachlässt, irritieren und vom Gespräch mit dem Zahnarzt ablenken. Auch eine Zahnarzthelferin, die klappernd Instrumente aufräumt, lenkt die Patienten ab.

• Die Behandlungstermine sollten transparent sein: Sowohl in Bezug auf die Gesamtbehandlung als auch auf den nächsten Termin sollte der Patient Informationen über Ablauf, Dauer und Ziel erhalten. Sinnvoll sind Nachfragen, ob das Gehörte auch verstanden wurde.

• Man sollte sich in der Gesprächsführung auf die Belange und Ansprüche des älteren Patienten einstellen. Die Ansprache muss den kognitiven Fähigkeiten des Patienten entsprechen. Darüber hinaus hilft es, Mundschutz und Schutzbrille beim Gespräch abzunehmen.

• Eine möglicherweise vorhandene Schwerhörigkeit muss berücksichtigt werden. Das Gespräch Auge in Auge mit dem Patienten ist wichtig, er sollte die Möglichkeit haben, die Lippen des Behandlers beobachten zu können. Langsam und deutlich sprechen. Durch Rückfragen kann man sich vergewissern, ob das Gesagte verstanden wurde. Kurze Sätze sind hilfreich. Hilfreich ist auch die Empfehlung, wegen eines erforderlichen Hörgeräts einen Fachmann aufzusuchen. Mit einem konfektionierten Hörgerät, das für die Patienten bereitgehalten wird, kann die Verständigung zusätzlich unterstützt werden.

• Altersgerechte Kommunikationsmittel sind hilfreich – Broschüren und Flyer sollten beispielsweise in einer großen Schrift gedruckt sein.

• Es sollte bedacht werden, dass Patienten einer Mitarbeiterin möglicherweise mehr erzählen als dem Behandler, weil sie Ihre kostbare Zeit nicht über Gebühr strapazieren wollen. Die Mitarbeiterin kann dann gezielt nach Informationen gefragt werden, die sie im Gespräch mit dem Patienten gewonnen hat.

• Wichtig sind klare, überschaubare Kostenvereinbarungen: Zusätzlich zum Heilund Kostenplan sollte der zu erwartende Patientenanteil auf einem eigenen Blatt klar verständlich angegeben sein.

• Entscheidungsträger sollten mit einbezogen werden, wie Verwandte und/oder andere Vertrauenspersonen. Im Fall einer gerichtlich angeordneten Betreuung muss der Betreuer um Zustimmung gefragt werden.

• Die Patienten müssten gefragt werden, welche Termine für sie günstig wären. Gerade alte Menschen sind weniger flexibel, wenn es um Änderungen im regelmäßigen Tagesablauf geht. Werden Patienten von Angehörigen oder Nachbarn in die Praxis gebracht, sind auch deren Bedürfnisse zu berücksichtigen. Wenn für eine Behandlung mehrere Sitzungen notwendig sind, empfiehlt es sich, regelmäßig wiederkehrende Termine zu wählen – immer am gleichen Wochentag zur gleichen Zeit. Die Termine sollten in großer Schrift auf großen Zetteln festgehalten werden.

• Recall-Regelungen müssen vorab genau erklärt werden. Gerade ältere Menschen können mit diesem Prozedere häufig nichts anfangen. Informieren Sie sie über den Nutzen, den sie davon haben.

• Der Praxisinhaber sollte ebenfalls für sich entscheiden, ob er Senioren lediglich in der Praxis behandeln kann oder ob er auch mobil seine zahnärztliche Leistung anbieten möchte. Dementsprechend muss er sich ausrüsten. In einigen Bundesländern (wie unter anderen Hessen) stehen mobile Behandlungseinheiten zur Verfügung.

Seniorengerechte Therapie

Senioren sind über mehrere Jahrzehnte Experten für das eigene Leben, ihr Zahnarzt begegnet ihnen als ein Experte für Zahnmedizin. Diese beiden Experten sind sich jedoch nicht immer einig. Es ist sinnvoll, die Position des alten Patienten zu akzeptieren und seine Erfahrung in einer partizipativen Therapieentscheidung zu berücksichtigen. Der Zahnarzt sollte anbieten, dass der Senior zum Auf- und Abklärungsgespräch eine ihm vertraute Person mitbringt. So kann der Vertraute, der mit dem Senior eine Entscheidung trifft, die zahnmedizinischen Gründe direkt und nicht mit Kommunikationsverlust über den Patienten erfahren und mit den zahnärztlichen Informationen die Entscheidungsfindung besser unterstützen.

Bei der Durchführung einer zahnmedizinischen Therapie sollte besonders bei gebrechlichen Senioren vom Zahnarzt das Aufwand-Nutzen-Verhältnis beachtet werden. Hierbei ist nicht der finanzielle Aufwand gemeint, sondern der Aufwand, den ein älterer Patient auf sich nimmt, um die zahnärztliche Praxis zu erreichen (wie Transport organisieren durch ein Familienmitglied).

Besteht in der Praxis nicht die Möglichkeit, eine Therapie unter Narkose durchzuführen, sollte der Zahnarzt ein Netzwerk zur Verfügung haben, damit er den Angehörigen den Weg zeigen kann, wo diese Behandlungsmöglichkeit verfügbar ist.

Bei allen Therapieentscheidungen ist eine mangelnde bis fehlende Adaptationsfähigkeit abzuschätzen beziehungsweise einzuplanen. Neben den kognitiven Einschränkungen im Alter, ist bei der Therapieentscheidung auch besonders bei einer Zahnersatzversorgung darauf zu achten, ob der Zahnersatz einfach zu pflegen sowie zuverlässig durch den Patienten ein- und auszugliedern ist. Den Blick auf die Hände sollte der Zahnarzt nicht vergessen, so dass er die Art der Halteelemente richtig planen kann.

Seniorengerechte Praxis

Mit einem Arm in einem Dreieckstuch und einer Brille ausgerüstet, deren eines Glas mit Butterbrotpapier und das andere mit Klarsichtfolie abgedeckt ist, sollte der Zahnarzt einmal folgendes „Experiment“ wagen: Von der Busstation oder dem Parkplatz in seine Praxis gelangen, durch die Praxis gehen, die Toilette aufsuchen und die Praxis wieder verlassen. Der ein oder andere Kollege wird dann einen Eindruck davon haben, wie sich die Erreichbarkeit seiner Praxis für Senioren darstellt. Stolperkanten sollten beseitigt werden, an der Treppe sollte ein beidseitiger Handlauf befestigt sein. Ein Fahrstuhl ist bei höherer Lage notwendig oder Fußsymbole können als „Einstiegshilfe“ vor einem Behandlungsstuhl aufgeklebt sein, um dem Senior die Positionierung beim Hinsetzen zu erleichtern. Patienten, die im Rollstuhl sitzen, kann unter Umständen mit einer aufsetzbaren Kopfstütze das Umsetzen in den Behandlungsstuhl erspart werden. Die Ausrüstung einer seniorengerechten Praxis hat viele Details, die hier nur angerissen werden können, die aber meist leicht in den Praxisalltag integrierbar sind.

Mobile Zahnmedizin

Aufgrund der steigenden Anzahl der Pflegebedürftigen ist auch an mobile zahnmedizinische Versorgungen zu denken. Transportable Einheiten, Stirnlampen und weiteres Instrumentarium sind zu packen und zu transportieren. In Zusammenarbeit mit der Universität Zürich existiert durch den Verein für Alters- und Behindertenzahnmedizin in der Schweiz seit über zehn Jahren eine mobile Zahnklinik, die innerhalb von zwei Stunden in einer Senioreneinrichtung aufgebaut werden kann. Dann wird dort zwei bis drei Tage behandelt und die drei Behandlungsplätze, das Röntgengerät, die Sterilisation und vieles mehr werden nach Abschluss aller Behandlungen abgebaut und in dem Transporter wieder verstaut .

Nun steht eine derart gut organisierte Versorgungsstruktur bisher sehr selten zur Verfügung, so dass sich der Zahnarzt im Rahmen seiner Möglichkeiten und seines Interesses mobil ausstatten sollte. Als Beispiel eines mobilen Zahnarztdienstes ist das Mozartprojekt zu nennen (www.mozart-kassel.de). Es ist erfreulich, dass in einigen Landeszahnärztekammern das Interesse, mit den Kolleginnen und Kollegen eine strukturierte Versorgung der stationär Pflegebedürftigen zu etablieren, schon gute Ergebnisse gebracht hat. In München sei stellvertretend das Paten-Konzept in Zusammenarbeit mit dem Teamwerk-Projekt genannt. Das in Westfalen-Lippe erarbeitete Konzept des Betreuungszahnarztes hat im Detail einen unterschiedlichen Ansatz als die Patenzahnärzte, aber alle haben das Ziel, die Pflegebedürftigen strukturiert zahnmedizinisch besser zu versorgen. So haben sich auch Gruppen in den Kammerbereichen Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern zusammengefunden. Es ist erfreulich, dass sich, wenn auch langsam, in vielen Kammerbereichen gerostomatologisch denkende Kolleginnen und Kollegen zusammenfinden und nicht gleich aufgeben, wenn der Weg anfangs sehr holprig erscheint und ist. Die Zusammenarbeit mit der DGAZ kann in solchen Fällen hilfreich sein, da die Erfahrungen aus den verschiedenen Gruppen in Deutschland bei der Fachgesellschaft zusammenlaufen.

Aus- und Fortbildung für Pflegekräfte und Ärzte

Auch die Aus-, Fort- und Weiterbildung anderer, in der Pflege tätiger Berufsgruppen rückt mehr in den Mittelpunkt. Es ist wichtig, dass auch zahnmedizinisch Fachfremde in die Lage versetzt werden, ein krankes von einem gesunden Gebisssystem zu unterscheiden. Hieraus ergibt sich die Forderung, dass Ärzte, die sich in geriatrischer Weiterbildung befinden, einen Einblick in die für die Betreuung der älteren Menschen wichtigen zahnmedizinischen Grundkenntnisse erhalten. PD Dr. Alexander Hassel, Universität Heidelberg, hat hierzu ein Pilotprojekt ausgearbeitet und evaluiert [Hassel et al., 2008].

Auch Pflegekräfte, die täglich oralhygienische Maßnahmen durchführen sollen, werden in diesen meist unzureichend oder gar nicht ausgebildet. Für die Schulung hat sich ein dreistufiges Konzept bewährt. Beginnend sollten in einemTheorieteildie Grundlagen einer guten Mundgesundheit erläutert werden. Zusätzlich sollte dargestellt sein, wie diese erreicht werden können. Mitgliedern der DGAZ wird ein 45-minütiger Vortrag, den Prof. Dr. Benz und OA Dr. Haffner, München, zusammengestellt haben, zu den Versandkosten für diese Schulung bereitgestellt. An den Vortrag sollte sich sofort einpraktischer Teilvon rund 90 Minuten anschließen, wobei auch die Hilfsmittel vorgestellt und ihr Einsatz am Phantom oder Modell geübt wird.

Eine zweite Übungseinheit sollte aus einer rund zwei bis drei Stunden umfassendenIntensivschulungin kleinen Gruppen bestehen. Der Patientenkontakt ist in dieser Übungseinheit obligat. Zur Unterstützung dieser Fortbildung kann am Anfang das individuelle, interaktive Trainingsprogramm „Gesund im Alter – auch im Mund“ eingesetzt werden. Weitere Informationen zu diesen Fortbildungsprogrammen sind auf der Homepage der DGAZ (www.dgaz.org) zu finden.

Aus- und Fortbildung für Zahnärzte

Die aktuelle Approbationsordnung fordert heute den Zentren für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (ZZMK) noch keine spezielle Ausbildung der Studierenden im Fach Seniorenzahnmedizin ab. Obwohl sich 87,4 Prozent der Einrichtungsleiter universitärer Polikliniken eine Verankerung des Faches Seniorenzahnmedizin in der neuen Approbationsordnung wünschen, bieten lediglich sechs Einrichtungen (19,4 Prozent der ZZMK) eine eigenständige einsemestrige Vorlesung zur Seniorenzahnmedizin an [Nitschke et al., 2004]. Diese ist multidisziplinär angelegt und wird im Mittel mit drei Referenten gelesen. An der Universität Leipzig erfolgt die Lehre als duales Konzept. Sie beinhaltet zurzeit eine zweitägige Blockvorlesung mit neun verschiedenen Referenten und eine sechsmalige Teilnahme am gerostomatologischen Praktikum in einer kooperierenden Pflegeeinrichtung im vorklinischen und klinischen Studienabschnitt. Dem demografischen Wandel entsprechend wäre es, wie in der Schweiz, auch an der Zeit, in Deutschland einen Lehrstuhl mit einem Gerostomatologen zu besetzen.

Die Deutsche Gesellschaft für Alterszahnmedizin e.V. (DGAZ) (ehemals Arbeitskreis für Gerostomatologie e. V.) bietet ein strukturiertes Curriculum für Alterszahnmedizin in Zusammenarbeit mit den Landeszahnärztekammern an, welches in Bayern und Westfalen-Lippe bereits durchgeführt wurde und in Hessen derzeit 2009 angeboten wird. In weiteren Bundesländern ist das Angebot dieses Curriculums in Zusammenarbeit mit der Fachgesellschaft in Planung.

Daneben haben die ersten Kolleginnen und Kollegen als erster Jahrgang das Curriculum Alterszahnmedizin-Pflege, das in Zusammenarbeit zwischen der DGAZ und der APW der DGZMK angeboten wird, abgeschlossen. Die Veranstaltung richtet sich an Zahnärzte, die in Pflegeeinrichtungen tätig sind oder tätig sein wollen. Zur Fortbildung in der Gerostomatologie gehören auch praktische Ausbildungsinhalte, wie das Erlernen des Umsetzens eines Pflegebedürftigen aus dem Rollstuhl in den zahnärztlichen Behandlungsstuhl.

Im Juni 2009 startet der nächste Jahrgang in Berlin mit einem viertägigen Modul, in der zweiten Jahreshälfte in München ein sich auf das Berliner Modul aufbauender zweiter Veranstaltungsblock (www.dgaz.org/Fortbildungen).

Zukunftsaussichten

Im dritten Band des Gutachtens zur Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit des Sachverständigenrates für die Konzentrierte Aktion im Gesundheitswesen (2000 / 2001) wird auf die Unterversorgung im Bereich der zahnmedizinischen Betreuung von Pflegebedürftigen hingewiesen. Gefordert werden Strukturen, die eine zahnmedizinische Versorgung gewährleisten. Auch in einem vom Bundesministerium für Gesundheit im Juni 2002 veröffentlichten Gutachten „Gesund altern“ wird von Prof. Dr. Andreas Kruse die zahnmedizinische Versorgung von Senioren als ein spezielles Präventionsfeld benannt und die Integration der Alterszahnmedizin in die Gerontologie beziehungsweise in die geriatrische Versorgung angeregt. In Anbetracht der demografischen E ntwicklung, der endlichen finanziellen Ressourcen und der aktuellen gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnisse wäre es empfehlenswert, die Seniorenzahnmedizin weiter zu etablieren, um den zukünftigen Anforderungen bei der zahnmedizinischen Betreuung der Senioren gerecht zu werden. Voraussetzung ist es dabei, dass neben der DGAZ die anderen zahnmedizinischen Verbände erkennen, dass die Senioren in Zukunft eine große und sehr heterogene Patientengruppe sein werden: Diese stellt andere Anforderungen an eine moderne Zahnmedizin als bisher in der Regel die Zahnmediziner für die Senioren bereit waren zu erbringen.

Christian BärProf. Dr. med. dent. habil. Thomas ReiberPoliklinik für Zahnärztliche Prothetik undWerkstoffkundeUniversität LeipzigNürnberger Str. 57, 04103 Leipzig

PD Dr. med. dent. habil. Ina Nitschke, MPHKlinik für Kaufunktionsstörungenabnehmbare Rekonstruktionen,Alters- und BehindertenzahnmedizinUniversität ZürichPlattenstrasse 15, CH-8032 Zürich

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Belastbarkeitsstufe

Therapiefähigkeit

Mundhygienefähigkeit

Eigenverantwortlichkeit

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BS 1

normal

normal

normal

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BS 2

leicht reduziert

leicht reduziert

normal

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BS 3

stark reduziert

stark reduziert

reduziert

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BS 4

keine

keine

keine

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