Gastkommentar

Biotech gegen Volkskrankeit

Dass Wohlstandskrankheiten nachdenklich machen und nach konservativen Methoden hergestellte Medikamente dagegen nicht mehr als gewinnbringend gelten, gibt der Auseinandersetzung mit biotechnischer Medikamentenherstellung neuen Raum – mit allerdings begründbarem Abstand, meint Parlamentskorrespondent Dr. Rudi Mews.

Der Begriff Volkskrankheit wird immer häufiger verwendet. Er bezeichnet ein gesellschaftliches Problem. Sich seiner genaueren semantischen Bedeutung zu vergewissern, kann nützlich sein. Die Gelegenheit dazu bot kürzlich anlässlich eines Parlamentarischen Abends in Berlin der Bayreuther Universitätsprofessor Eckhard Nagel. Er ist als Doktor der Medizin nicht nur ein erfolgreicher Arzt, sondern darüber hinaus in der philosophischen Fakultät promoviert, gehört dem Nationalen Ethikrat an, hat 2005 dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover präsidiert und wird 2010 Präsident des 2. Ökumenischen Kirchentages in München sein. Wer wäre mehr geeignet, Antworten zu vermitteln? Nagel bezeichnet Volkskrankheiten als nichtepidemische Krankheiten, die aufgrund ihrer Verbreitung und ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen sozial ins Gewicht fallen. Dazu zählt der Professor nicht nur die Behandlungskosten, sondern auch den Anspruch auf Lohnausgleich bei Arbeitsunfähigkeit und die Folgen möglicher Frühverrentung.

Zögerlich ist Nagel nur bei der begrifflichen Abgrenzung der Volkskrankheit zur Zivilisationskrankheit. Auch Wohlstandskrankheit genannt, herrsche über deren Ursachen, sagt er, keine Einigkeit. Sicher sei nur, dass diese Form der Morbidität in den Industrieländern häufiger vorkomme, nicht zuletzt auch, weil dort die Lebenserwartung höher sei als in der sogenannten Dritten Welt. Das eröffnet jenen Zeitgenossen, die in der sogenannten Ersten Welt zu leben Gelegenheit haben, offensichtlich den Spielraum, alle jene Einflussfaktoren wahrzunehmen, die nach Erkenntnis des Wissenschaftlers zur Wohlstandskrankheit führen. Dazu gehören Nikotin und Alkohol, Bewegungsmangel sowie Über- und Fehlernährung, aber neben übertriebener Hygiene auch soziale Faktoren wie Arbeitslosigkeit oder Vereinsamung. Den genannten Versuchungen und Herausforderungen sind – mehr oder minder – alle Wohlstandsbürger ausgesetzt. Bemerkenswert, vielleicht aber auch bedrückend, sind die Folgerungen, die Nagel – wohl vornehmlich als Christ – daraus zieht.

„Wir verändern die Lebenserwartung auf Kosten der Lebensqualität“, sagt er. Für viele Krankheiten stelle die heutige Medizin zwar eine „Explosion des Machbaren“ dar. Vieles stemmten in den Industrieländern auch noch die Sozialsysteme. Wo sie sich aber als nicht zulänglich erweisen, haben Molekularbiologen inzwischen auch neue Finanzierungsmöglichkeiten ermöglicht. Nach Angaben Nagels sind inzwischen 20 Prozent aller Arzneien biotechnisch hergestellt. Das umfasst das gesamte Spektrum, das die heutige Wissenschaft bietet, will sagen die integrierte Anwendung von Biochemie, Mikrobiologie und Verfahrenstechnik, um das Potential der Mikroorganismen, Zell- und Gewebekulturen zu erreichen. Ziel ist, neue diagnostische und therapeutische Verfahren nutzbar zu machen.

Aber, das sagte Nagel auch: Nicht einmal in den Industrieländern könnten alle neuen Medikamente, die für Patienten ersonnen wurden, bei letzteren auch ankommen. Wörtlich: „Neue Produkte, die allen zur Verfügung stehen, sind die Quadratur des Kreises.“ Das ist nicht zuletzt auch ökonomisch zu verstehen. Alles geht eben nicht. Überspitzt gesagt: Länger leben und die ganze Zeit auch noch prassen, können sich Durchschnittsmenschen weder physisch noch psychisch noch pekuniär leisten. Insofern sind die zurzeit vielfältig gewünschten, geforderten und teilweise sogar zugesagten Innovationen – ein Modewort! – gerade in der Gesundheitspolitik womöglich besser mit einem Gran Behutsamkeit anzuwenden.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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