Im Wettlauf gegen die Zeit
„Wir sind die Nationalmannschaft von Haiti“, rufen Teenager im Straßenkinderzentrum von Lakou in Port-au-Prince. Mit einem gezielten Schuss ins Tor beweisen sie, wie geschickt sie mit dem runden Leder umgehen können. Fußball als Mittel zur Traumabewältigung, in Haiti scheint das zu funktionieren. Dass in Lakou und anderen Straßenkinderzentren knapp vier Monate nach dem schweren Erdbeben schon wieder Fußball gespielt wird und Schulunterricht stattfindet, ist auch der weltweiten Spendenbereitschaft zu verdanken, ohne die die umfassenden Soforthilfemaßnahmen nicht möglich gewesen wären.
Auch viele Unternehmen aus der Dentalbranche haben sich engagiert: „Das Leid der haitianischen Bevölkerung hat uns tief betroffen gemacht“, sagt Sylvia Wuttig, Geschäftsführerin der DAISY Akademie + Verlag GmbH. Gemeinsam mit dem Berliner Quintessenz-Verlag und dem Deutschen Zahnärztlichen Rechenzentrum (DZR), Stuttgart, spendete das Unternehmen rund 12 000 Euro an die Stiftung Hilfswerk Deutscher Zahnärzte (HDZ).
Die Hilfe ist vielfältig ...
Das HDZ unterstützt mehrere Straßenkinderzentren, Schulen und Berufsbildungseinrichtungen der Don-Bosco-Mission in Port-au-Prince. „Wir sind sehr glücklich und dankbar, dass die Dentalbranche uns in den vergangenen Wochen so toll unterstützt hat“, freut sich Dr. Klaus Winter, Leiter des HDZ. „Insgesamt sind inzwischen mehr als 150 000 Euro an Spenden eingegangen.“
Dass die finanzielle Unterstützung bei den Betroffenen auch ankommt, davon konnte sich die Spendergemeinschaft auf einer Reportagereise selbst überzeugen. „Als Erstes werden wir die Mauer um das zerstörte Schulzentrum ENAM wieder aufbauen, dann folgen Schulgebäude und Großküche“, sagt Pater Jacques Charles.
... und bitter nötig ...
Dass es ein langer, steiniger Weg wird, bis alles wieder so ist wie früher, ist dem Pater bewusst. Bereits vor dem Beben war das Land, das durch Kolonialkriege, Korruption und Misswirtschaft gezeichnet ist, fast vollständig von internationaler Hilfe abhängig. Hinzu kommt die große Zahl an Kindern und Jugendlichen. Bereits vor dem Beben lebten in Port-au-Prince tausende Kinder in Straßengräben, Kanälen oder unter Plastikplanen. Wie viele es jetzt sind, weiß niemand. „In Haiti hat die Armut ein ganz eigenes Gesicht“, beschreibt Winter die Situation auf der Karibikinsel. „62 Prozent der Bevölkerung sind unterernährt, über die Hälfte kann weder lesen noch schreiben und bis vor einigen Jahren hatte Haiti die höchste AIDS-Rate außerhalb Afrikas. Durch Abholzung und Erosion ist nur ein Drittel des Landes wirtschaftlich nutzbar. Ein Großteil der Nahrungsmittel muss importiert werden.“
„Die Don-Bosco-Einrichtungen waren in Port-au-Prince eine wichtige Anlaufstelle für die Ärmsten der Armen“, so Winter. Über 26 000 Essen gaben die Ordensbrüder täglich an Slum-Bewohner aus. In den Straßenkinderzentren von Lakay und Lakou bekamen 900 Kinder einen Platz zum Schlafen und eine warme Mahlzeit. Das ENAM-Zentrum bildete Jugendliche in Handwerksberufen aus und 54 Mini-Schulen unterrichteten Kinder im Lesen und Schreiben. „Wir haben über 30 Jahre gebraucht, um alles so aufzubauen, wie es vor dem Erdbeben war“, sagt Pater Jacques. „Die Natur benötigte gerade einmal 28 Sekunden, um alles zu zerstören.“ Über 500 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen fünf und 17 Jahren wurden unter den einstürzenden Missionsgebäuden begraben. Der Schock sitzt tief. Doch viel Zeit, das Trauma zu verarbeiten, haben alle nicht, denn der Wiederaufbau ist ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit. „Die Regenzeit naht und eine weitere Naturkatastrophe in Form eines Hurricans wäre „der Super-GAU“, so Winter.
Zerstörte Häuser säumen die Straßen, Trümmerberge soweit das Auge reicht, viele Wohngegenden in Hanglage sind komplett abgerutscht, Stromleitungen und Kanalisation wurden schwer beschädigt, Fäkalien und Müll türmen sich in stinkenden Wasserläufen und Straßengräben. „Immerhin sind der Leichengeruch, die Seuchengefahr und die Kontamination des Wassers mittlerweile gebannt“, sagt Pater Jacques optimistisch, „die medizinische Hilfe ist ebenfalls sichergestellt und auch die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser. Das ist ein großer Fortschritt, denn vor dem Beben war es in Port-au-Prince leichter eine Waffe zu bekommen, als ein Glas Milch.“
... um das Leid zu lindern
Obwohl die Zeltstädte der internationalen Organisationen Tag für Tag wachsen, ist die Nachfrage nach Notunterkünften kaum zu stillen – mehr als eine Millionen Menschen sind obdachlos, 200 000 Zelte fehlen noch. Meist teilen sich zwei Familien inklusive Kindern und Haustieren eine Unterkunft – und das bei über 30° im Schatten.
Währenddessen graben vielerorts Menschen mit bloßen Händen in den Schuttbergen. Sie suchen nach brauchbarem Baumaterial und anderen nützlichen Gegenständen. Einige haben es schon geschafft, Teile ihrer Häuser neu zu errichten, andere sind noch am werkeln. An der Grenze zur Dominikanischen Republik stauen sich kilometerlange Konvois mit Hilfsgütern, Baumaterial und schwerem Gerät. Fahrzeuge, die es über die staubigen Schlaglochpisten bis in die haitianische Hauptstadt geschafft haben, werden sofort belagert. Die Verteilung der Güter läuft mittlerweile aber friedlich ab. In Port-au-Prince ist auch Hoffnung spürbar. „Fliegende Händler“ preisen inmitten der Trümmerlandschaft ihre Waren an und überall wimmelt es von Menschen. Die meisten sind selbst in größter Not noch sauber gekleidet, man hilft sich gegenseitig und packt mit an, wo es notwendig ist. Bis tief in die Nacht tönt aus alten CD-Playern lautstark Musik. „Das Leben geht weiter“, sagt Pater Jacques. „Gott möge uns Kraft geben, diesen Alptraum zu überstehen. Dank Mitmenschen wie Ihnen vom HDZ sind wir wenigstens nicht ganz alleine.“
Yvonne SchubertFreie Journalistin in Mannheimy.schubert@textandimage.de