Zu groß, um zu sterben
Die Lage der gesetzlichen Krankenversicherung ist angespannt: Weil die finanziellen Zuteilungen aus dem Gesundheitsfonds zu knapp bemessen sind, droht den Krankenkassen 2011 ein Defizit von rund 11 Milliarden Euro. Derweil die Versicherer um ihre Kundschaft buhlen, tun die Zusatzbeiträge, die die Kassen direkt von ihren Versicherten erheben dürfen und teilweise auch müssen, ein Übriges, um die Attraktivität vieler Kassen zu schmälern: Zahlen aus dem Bundesgesundheitsministerium und der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) belegen, dass Zusatzbeiträge viele GKV-Mitglieder zum Wechsel der Kasse treiben.
So hatte die DAK im Februar dieses Jahres einen Zusatzbeitrag von acht Euro eingeführt und verlor im ersten Halbjahr 241 000 Mitglieder, das sind immerhin fünf Prozent des Versichertenstamms. Doch auch andere Kassen hatten einen Rückgang zu beklagen: Die KKH-Allianz büßte 7,6 Prozent ihrer Mitglieder ein, die BKK Gesundheit hat an die 20 Prozent ihrer Mitglieder verloren.
Nutznießer sind aktuell ganz offensichtlich jene Krankenkassen, die für 2010 keine Zusatzbeiträge erheben wollen – etwa die AOKen. Beim AOK-Bundesverband freut man sich daher über „eine erfreuliche Mitgliederentwicklung“. Die selbsternannte Gesundheitskasse konnte im ersten Halbjahr 500 000 Versicherte gewinnen, wobei ein großer Teil sich durch eine Fusion über Kassenartgrenzen hinweg ergab. Aber auch andere Kassen profitierten vom Wechselfieber deutscher Versicherter: Die Barmer GEK verzeichnete ein Plus von 69 000, die Techniker Krankenkasse sogar von 238 000 Mitgliedern.
Karl Lauterbach, gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, warnte in der „Passauer Neuen Presse“ vor „Drehtüreffekten“. „Rein in die Kasse, raus aus der Kasse. Mit einem Wettbewerb um Qualität in der Medizin hat das nichts zu tun“, sagte er. Lauterbach verwies darauf, dass, wenn 96 Prozent der Krankenkassenleistungen gesetzlich festgelegt sind, die Jagd nach der aktuell billigsten Kasse nicht zum Wettbewerbsfaktor werde.
Fusionen führen zu Kassengiganten
Um sich selbst in eine möglichst gute Position zu bringen, fusionieren immer mehr Krankenkassen. Laut dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung gab es 2008 noch 221 gesetzliche Krankenkassen, zum 1. Juli 2010 schmolz die Anzahl auf 163.
Zu Beginn des Jahres schlossen sich etwa die beiden ohnehin schon großen Versicherer Barmer und Gmünder Ersatzkasse (GEK) zusammen. Während die beiden Kassen für sich allein wohl keine Überlebenschance sahen, trauen sie sich fusioniert wohl eine gemeinsame Zukunft im Kassenmarkt zu. Denn die Marktmacht ist gestiegen – durch die Fusion entstand ein wahrer „Kassen- Tanker“ mit immerhin 8,6 Millionen Versicherten. Weitere Zusammenschlüsse sind bereits angekündigt oder wurden in Erwägung gezogen. So wollen etwa in Mitteldeutschland die AOK Plus für Sachsen und Thüringen mit der AOK Hessen zusammengehen, in neuer Stärke hätten sie dann über 4,2 Millionen Versicherte. Bereits zum Juli des Jahres fusionierten die Bank BKK und die Neckermann BKK sowie die IKK Nordrhein und die Signal Iduna IKK. Letztere hat als Vereinigte IKK 1,6 Millionen Mitglieder.
Mit jeder Fusion verringert sich die Anzahl der auf dem „Markt“ befindlichen Krankenkassen weiter. Damit redet dieser Trend der früheren Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt das Wort, die keinen Hehl daraus machte, dass sie fünfzig Versicherer für eine ausreichende Anzahl hält, um die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung über die GKV abzusichern. Und auch der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem schätzt, dass sich die Zahl der Kassen weiter verringern wird. Bereits in fünf Jahren, so Wasems Prognose gegenüber der Nachrichtenagentur dpa, „werden wir bei rund 100 Kassen sein“. Mit einem Anstieg der Zusatzbeiträge rechnet er ebenfalls: „Fest steht, dass 2012 und stärker noch 2013 vermehrt mit Zusatzbeiträgen zu rechnen ist“. „Die Zusatzbeiträge werden steigen, und die Spannbreite zwischen den Krankenkassen wird wachsen.“
Staat als letzte Rettung
Doch gerade die Fusionen von großen Kassen rufen derzeit die Kritiker auf den Plan. Hintergrund: Kann eine Krankenkasse ihre gesetzliche Aufgabe nicht mehr wahrnehmen und muss in Insolvenz gehen, müssen andere Kassen für sie einspringen. Da die Versicherer jedoch mit ihrem eigenen Wirtschaften zu tun haben, kann man davon ausgehen, dass darauf niemand erpicht ist. Gefährlich für das gesamte Versicherungssystem der GKV kann es werden, gerade wenn große Krankenkassen ins Strudeln geraten. Sollten nämlich die Mitbewerber der gleichen Kassenart, die zunächst einmal für die Übernahme einer Pleite-Kasse in die Pflicht genommen werden, die Aufgabe nicht schultern können, müssen alle gesetzlichen Krankenkassen zusammen dafür gerade stehen. Daher werden verstärkt Stimmen laut, die die Fusionswelle als ernst zu nehmende Gefahr sehen: Werden zusammengeführte Kassen so groß und mächtig, dass sie im Falle eines Zusammenbruchs niemand aus der Kassenlandschaft auffangen kann, bliebe nur noch der Staat, der sie vor einer Insolvenz retten könnte.
Einer der Kritiker ist Rolfs Stuppardt, Vorstandsvorsitzender des IKK-Bundesverbands. „Die Fusionen haben viel zu wenig mit gesundheitsökonomischen Zielen zu tun“, sagte er der „Frankfurter Rundschau“. „Ein Ziel bei den Elefantenhochzeiten ist, den politischen Level „too big to die“ zu erreichen.“ Es ginge einzelnen Krankenkassen darum, eine ausreichende Machtfülle zu erreichen, damit im Falle einer Insolvenz der Ruf nach dem Staat lauter werden würde.
Auch der Chef der Siemens Betriebskrankenkasse, Hans Unterhuber, warnte vor weitreichenden Folgen: Wenn Politiker beharrlich verkünden würden, dass wenige Krankenkassen genügen und Fusionen der allein richtige Weg sind, dann hätte man die Lehren aus der größten Wirtschaftskrise seit Kriegsende nicht gezogen. Müssten kleinere Kassen geschlossen werden, könnten andere Kassen die Versicherten noch problemlos aufnehmen. Bei großen Kassen mit vielen Millionen Versicherten sei dies schwer möglich. Schließlich drohe die Gefahr, dass der Steuerzahler (wieder) zur Kasse gebeten werde. Gerade vor dem Hintergrund der letzten Wirtschaftskrise, bei der große Banken wie etwa die HRE nur durch den Eingriff des Staates vor dem Zusammenbruch gerettet werden konnten, ist die Fusion von Krankenkassen für die beiden mit ähnlichen Risiken behaftet. Am Bankenwesen habe sich gezeigt, wie riskant es ist, überwiegend auf große und damit systemrelevante Einheiten zu setzen.
Doch während branchenintern auf die Gefahren der Kassen-Zusammenschlüsse hingewiesen wird, sieht das Bundesgesundheitsministerium die Fusionen mit demonstrativer Gelassenheit: „Wir setzen auf Wettbewerb“, sagte ein Ministeriumssprecher. „Und es ist nicht die Aufgabe der Politik, Anzahl und Größen der Krankenkassen zu bestimmen.“