Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
alt werden ohne alt zu werden? Dieses scheinbare Paradoxon hat sich in den Jahrzehnten steigenden Wohlstands unserer Gesellschaft zu einem erstrebenswerten Ziel vieler Menschen entwickelt. Ein undurchschaubares Knäuel aus Angebot und Nachfrage hat einen Spezialbereich medizinischer Forschung, Entwicklung und Praxis geschaffen, dessen Methoden von Heilberuflern auf der Suche nach klaren Abgrenzungen ihres Tuns immer häufiger ethisch hinterfragt werden. Die Forderung nach „ewiger Jugend“ impliziert Grundsatzfragen, die ein ganz anderes Selbstverständnis ärztlichen Handelns schaffen als nur das angestammte des Heilens, der Gesundheitsvorsorge und des Primum nihil nocere.
Dabei geht es weniger um den Umgang mit altersbedingter Multimorbidität. Dieses Thema ist werteimmanente Herausforderung im klassischen Sinn wohlverstandener medizinischer Versorgung. Sie muss medizinisch erarbeitet werden, die Gesellschaft muss sich auf die Folgen vorbereiten und das Ihre tun, qualitative Standards zu erhalten und Vorkehrungen zu treffen, dass die Versorgung Kranker auf dem heute erreichten Niveau erhalten werden kann.
Aber die innerhalb eines Jahrhunderts auf das Doppelte gestiegene Lebenserwartung der Menschen in den Industriekulturen der westlichen Welt bedeutet viel mehr. Sie hat eine Eigendynamik entwickelt, die ganz andere Bedürfnisse und Bestrebungen erzeugt hat. Der in einer zunehmend alternden Gesellschaft immer mehr erkennbare Hang „ewig jung zu bleiben“ – „ewiges Leben“ ist bereits zu wenig – provoziert medizinische Denk- und Handlungsweisen, die nach Ansicht mancher Ethiker das bisherige Selbstverständnis weit übersteigen.
Kulturell verschwimmen bereits Begrifflichkeiten, rekrutieren sich „neue“ Werte: Wo immer weniger junge Menschen leben, werden Gesundheit, Glück und Erfolg anscheinend zu Symbolen der Jugendlichkeit. Dem Alter verbleibt das schnöde Gegenteil. Wachsende Erkenntnisse der Medizin lassen sich nicht ausbremsen. Um so wichtiger ist es aber, dass jeder, der heute über „Anti-Aging“ redet, im Hinterkopf behält, dass die Suche nach „ewiger Jugend“ nicht durch die Würdelosigkeit des Alters erkauft werden kann und darf.
Eine Gesellschaft, die so denkt, verliert an Wert.
Mit freundlichem Gruß
Egbert Maibach-Nagelzm-Chefredakteur