Gesundheit als Gemeinschaftsauftrag
Weil das traditionelle Gesundheitssystem angeblich nicht mehr dazu in der Lage ist, alle Bürgerinnen und Bürger gegen ihre zentralen Lebensrisiken abzusichern, soll nach dem Willen der Politik jeder Einzelne aktiver werden und mehr Eigenverantwortung für seine Gesundheit übernehmen.
Das Fördern und Fordern von Eigenverantwortung trägt einerseits dem Bedürfnis der Menschen nach Selbst- und Mitbestimmung Rechnung. Andererseits wird damit der finanzpolitisch motivierte Abbau des Wohlfahrtsstaats legitimiert [Hensen & Hensen, 2008]. Wenige Zahlen belegen die finanzpolitische Relevanz von privatisierter Verantwortung: In Deutschland ist der Anteil der öffentlichen Ausgaben für Gesundheit von 1995 bis 2008 von 20 auf 13 Milliarden Euro gesunken, die Privatausgaben sind von 19 auf 35 Milliarden Euro gestiegen [GBE-BUND, 2010]. Einkalkuliert sind hier nur klassische Privatausgaben; Ausgaben für den zweiten Gesundheitsmarkt (wie etwa Sportartikel oder Wellnessaktivitäten) werden nicht berücksichtigt – die Branchenumsätze lagen hier 2007 bei 43 Milliarden Euro [Henke, 2009].
Eigenverantwortung wird sowohl als Recht als auch als Pflicht konzipiert: Eigenverantwortliche Menschen dürfen nicht nur, sondern sollen auch mehr gesundheitliche Verantwortung übernehmen. Suboptimale Leistungserbringung wird sanktioniert: „Niemandem soll verboten werden, unbeweglich und Chips fressender Weise die Abende vor dem Fernseher zu verbringen, nachdem er den ganzen Tag auf einem Bürosessel klebte“ [Händeler, 2004, 778] liest man in der Zeitschrift „Gesundheitswesen“. Doch soll dieses Recht künftig stärker selbst verantwortet und gekoppelt werden an (vorwiegend) finanzielle Pflichten – etwa Selbstbehalte für „selbstverschuldete“ Krankheiten. In der Öffentlichkeit wird derzeit beispielsweise die Erhöhung der Arbeitnehmer-Krankenkassenbeiträge für Übergewichtige diskutiert, wobei mit gleichem Recht die Erhöhung der Arbeitgeber-Krankenkassenbeiträge von prekär beschäftigenden Unternehmern diskutiert werden: Prekäre Beschäftigung macht krank [Ducki & Busch, 2010] und liegt im Verantwortungshorizont von Arbeitgebern.
Verantwortung – von wem und wofür?
Wenn ein Ereignis geschieht, für das Verantwortlichkeiten zu klären sind, gehört zu den wichtigsten Fragen nicht nur: „Wer hat Verantwortung?“ und „Wer bekommt Verantwortung? Sondern auch: „Wer gibt Verantwortung?“ [Krauß, 1992].
Im deutschen Rechtswesen sind die Zuteilungsverfahren von Verantwortung zufriedenstellend gelöst. Das Gericht ist die öffentlich akzeptierte Instanz, die beurteilt, wer für was die Verantwortung trägt [Forst, 2006]. In weniger formalisierten Systemen – zum Beispiel im Gesundheitswesen – ist weniger klar geregelt, wer wofür Verantwortung trägt und wem die Zuweisung der Verantwortung obliegt. Hier basieren die Zuweisungsprozeduren auf gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen [Dubiel, 2006]. Die Akteure mit der größten Diskursmacht – also in der Regel die kommunikationsstarken Eliten einer Gesellschaft – verfügen typischerweise über die besten Optionen zu bestimmen, wer Verantwortung hat und wofür [Bienfait, 2006].
Je unübersichtlicher die Verantwortungsfelder sind, für die Verantwortung zugewiesen werden muss, desto größer wird die Macht derer, die über umfassende Argumentationskompetenzen verfügen, um beispielsweise zu begründen, dass frühe Zahngesundheit wichtig ist, aber zuckerhaltige Kindertees trotzdem nicht verboten werden sollten. Als scheinbar autorisierte Akteure definieren sie bestimmte Verhaltensweisen als angemessen oder unangemessen (derzeit gilt Rauchen als sozial unverträglich, eine private Krankenversicherung abzuschließen hingegen nicht) und legen fest, welche Handlungen zu tun oder zu lassen sind [Ziegeler, 2005]: Bewegungsarmes Fernsehen steht am Gesundheitspranger, bewegungsarmes Lesen guter Bücher nicht. Hengsbach [2005] bezeichnet den Verantwortungsdiskurs als Elitediskurs, der von jenen dominiert wird, die nicht nur über die erforderlichen Diskursfähigkeiten verfügen, sondern auch über die entscheidenden Ressourcen, um das eigene Leben selbstbestimmt zu meistern – für die es also plausibel erscheint, Eigenverantwortung als Standardlösung für gelingendes Leben zu propagieren.
Subjektive Trennlinie
Die Trennlinie zwischen denen, die Eigenverantwortung verordnen, und denen, die sie verordnet bekommen, verläuft nicht allein zwischen Gesundheitsprofis und -laien, sondern auch zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen [Bartens, 2008]. „Die Gebildeten bilden sich die Welt nach ihrem Bild“ [Pankoke, 2006, 88]. In ihrer Welt erscheint es sinnvoll, dass vor allem der Einzelne in die Pflicht zu nehmen ist. Ihm wird immer mehr Eigenverantwortung abverlangt, und ihm unterstellt man – obwohl alle Bevölkerungsumfragen das Gegenteil bezeugen [Klages, 2006] –, dass er unter Eigenverantwortungsschwäche leidet und eines Aktivierungsschubs bedarf.
Der Einzelne soll leisten, was scheinbar den übrigen Akteuren nicht abzuverlangen ist. Zumindest werden andere Gesundheitsakteure bislang eher zart zu mehr Verantwortung aufgefordert, obwohl sie zum Teil über deutlich mehr gesundheitsrelevante Gestaltungsmacht verfügen. Mehr Verantwortungsbewusstsein könnten zum Beispiel Gesundheitspolitiker zeigen (etwa bei der Durchsetzung von Lebensmittelkennzeichnung oder Tabakwerbeverbot). Mehr Verantwortungsbewusstsein könnte die pharmazeutische Industrie (produziert kostentreibende Scheininnovationen) zeigen, und auch die helfenden Berufe tragen durch gelegentliche angebotsinduzierte Überversorgung nicht zur Rationalisierung im Gesundheitswesen bei.
Doch die aktuelle Eigenverantwortungskampagne konzentriert sich fast ausschließlich auf den gesunden Versicherten beziehungsweise kranken Patienten. Kann es denn wahr sein, dass Eliten aus Politik und Industrie zu machtlos sind (Standort D!), um durchgreifend Verantwortung zu übernehmen und scheinbar nur noch der Einzelne wirkmächtig die eigene Gesundheit und das Gesundheitswesen optimieren kann?
Eine Frage der Machtverhältnisse
Weder die Auswahl der Verantwortungsakteure, noch die Auswahl der Verantwortungsthemen folgt rein gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern unterliegt außerdem soziokulturellen Übereinkünften und gesellschaftspolitischen Machtverhältnissen [Franzkowiak, 2008]. „Mehr Zähneputzen“ ist Bestandteil fast aller Gesundheitskampagnen, „Mehr Zebrastreifen“ hingegen nicht – als ob unregelmäßiges Zähneputzen für Kinder gesundheitsriskanter wäre als ungesicherte Wohnstraßen.
Das individuelle Verantwortungsbewusstsein sollte nicht weiter reichen als bis zur eigenen Haustür – der Kampf gegen die Soft-Drink-Industrie gilt bislang jedenfalls nicht als eigenverantwortliche Zahngesundheitsaktivität [Kuhn & Trojan, 2010]. Politische Entscheidungslogiken gehorchen nur bedingt dem Prinzip der gesundheitswissenschaftlichen Evidenzbasierung [Schmacke, 2007].
Die Forderung nach „Mehr Eigenverantwortung“ sollte nicht verwechselt werden mit „Mehr Selbstbestimmung“ [Allmark, 2006]. Die Menschen sollen nicht selbstbestimmt entscheiden, ob sie körperliche Gesundheit (das kariesfreie Gebiss) oder leiblichen Genuss (den süßen Schlummertrunk) für die wichtigere Zutat ihrer Lebensqualität halten, sondern sich freiwillig entscheiden für den unkritischen Nachvollzug dessen, was gesundheitlich vorgesehen ist [Keil, 2009]. Eigenverantwortung wird gesagt, wenn (körperbezogener) Gesundheitsgehorsam gemeint ist. Ausgewähltes Gesundheitsverhalten wird zum herrschenden Normalverhalten. Jede Abweichung wird begründungsbedürftig und in ein hierarchisches Gut-Schlecht-Schema eingepasst [Bittlingmayer, 2009]. Die modernen Zehn Gebote sind nicht mehr religiöser, sondern weltlicher Natur [Kettner, 2006]: I. Iss täglich Obst; II. Putze regelmäßig Zähne – und weitere.
Die Menschen werden mit der Eigenverantwortungskampagne nicht in die Freiheit entlassen. Denn Freiheit würde auch einschließen, „Nein zu sagen, zur Therapie, zur Krankheitsverarbeitung, zur Selbstverantwortung“ [Pflanz, 2004, 2443]. Eigenverantwortung verpflichtet die Menschen auf individuelle Selbstverantwortung für Gesundheit und größtmöglichen Verzicht auf Sozialverantwortung bei Krankheit [Holst & Laaser, 2003]. Eigenverantwortung suggeriert, dass Menschen selbstverschuldet erkranken und darum auch selbst bezahlen sollen [Rosenbrock, 2007]. Verschleiert wird die Aufweichung des Solidarprinzips, denn nicht mehr Gesunde zahlen für Kranke, sondern Kranke für sich selbst. Oder wie Prantl [2005, 18] es harsch pointiert: „Es heißt jetzt ‚Eigenverantwortung’, wenn die Schwächeren sich selbst überlassen bleiben“.
Spannungsfeld von Theorie und Praxis
Mit dem Ruf nach Eigenverantwortung sind zahlreiche Hoffnungen verbunden: Mehr Eigenverantwortung soll Gesundheit mehren, chronische Krankheit mindern, Gesundheits- und Sozialausgaben reduzieren, bürokratische Regularien verringern, die Zivilgesellschaft festigen und das Wirtschaftswachstum ankurbeln [zum Beispiel Meier, 2004]. Zumindest wird dies theoretisch angenommen – denn die empirischen Belege dafür stehen noch aus [Kals, 2001].
Im Folgenden werden vor allem die Risiken von Eigenverantwortung dargestellt, denn die erwarteten Vorteile wurden andernorts zahlreich beschrieben [z.B. Donges et al., 2002; Bertelsmannstiftung, 2004]. Die aktuelle Eigenverantwortungskampagne beruht auf bestimmten Annahmen, die kritisch zu beleuchten sind: Eigenverantwortung ist in der Bevölkerung nicht sehr ausgeprägt und lässt sich mittels politischer Programme stärken; mehr Eigenverantwortung führt zu mehr Gesundheit und zu weniger Gesundheitsausgaben; mehr Eigenverantwortung kann zumindest niemandem schaden.
Verantwortung schwach ausgeprägt
Die aktuelle Eigenverantwortungskampagne impliziert, dass das Verantwortungsbewusstsein der Menschen schwach ausgeprägt ist. Begründet wird dies einerseits mit dem vollversorgenden Wohlfahrtsstaat, der die individuelle Leistungsbereitschaft korrumpiert [Bahro et al., 2001]. Begründet wird dies andererseits damit, dass Versicherte sich gerne riskant verhalten, da der Schaden vom Versichertenkollektiv getragen wird [Musil, 2003]. Die Übertragung dieses Moral Hazard Konzepts aus dem Individual- in das Sozialversicherungssystem ist theoretisch plausibel, faktisch jedoch streben die meisten Menschen nicht nach einer Darmspiegelung oder Herztransplantation, nur weil andere dafür zahlen [Evans et al., 1993].
In Bevölkerungsumfragen lässt sich das eigenverantwortungsschwache Individuum kaum finden: „Der Wert Eigenverantwortung (stellt sich) über alle Bevölkerungsgruppen und Gebietsteile hinweg betrachtet als ein spektakulär konsensueller Wert der Deutschen dar, dem – ungeachtet aller pessimistischen Äußerungen, die diesbezüglich im Schwange sind – eine stabile Spitzenposition zukommt“ [Klages, 2006, 112]. Doch diese Tatsachen werden ignoriert, ebenso wie ignoriert wird, dass sich politische Programme zur Förderung der Eigenverantwortung nur mit erheblichem Aufwand durchsetzen lassen [Nullmeier, 2006]: Um eigenverantwortliche Menschen zu produzieren, bedarf es umfangreicher Schulungsmaßnahmen, Kontrollmechanismen und Disziplinierungsstrategien. Der Aufwand wird nicht reduziert, sondern nur dezentralisiert. Einsparpotenziale sind folglich fraglich [Schimank & Volkmann, 2008].
Nur unter Optimalbedingungen
Zweifellos bietet Selbstverantwortung zahlreiche Chancen. Nicht umsonst fordert die Ottawa-Charta, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen. Doch nur unter Optimalbedingungen ermöglichender Selbstbestimmung, nicht unter Realbedingungen verpflichtender Eigenverantwortung kann Gesundheit gedeihen: Zahlreiche gesundheitswissenschaftliche Studien belegen, dass potente Verantwortungsfähigkeit nicht nur abhängt von den individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten, sondern auch von sozialen und strukturellen Rahmenbedingungen [Schmidt, 2008].
Gelungene Eigenverantwortung ist voraussetzungsvoll. Niemand würde morgens aus dem neunten Stock seiner Wohnung springen, obwohl das der schnellste Weg zur Arbeit wäre [Weitkunat, 2004]. Nur in seltenen Fällen ist der Zusammenhang zwischen Gesundheitsverhalten und Gesundheitsfolgen so eindeutig. Üblicherweise sind gesundheitliche Zusammenhänge multidimensionaler Natur, und die Zweckmäßigkeit von Gesundheitsverhalten kann wenn überhaupt, erst sehr spät und mit nur gewisser Wahrscheinlichkeit geschätzt werden [Finerman & Bennett, 1995].
Dies gilt vielleicht nicht für das Rauchen, denn das Wissen über die Schädlichkeit des Rauchens ist fast so eindeutig wie das über die Schädlichkeit von Fenstersprüngen. Doch bereits die verfügbaren Daten – genauer gesagt Schätzungen und Hochrechnungen – zum Passivrauchen sind widersprüchlich, ebenso wie die Studien, die diese Daten bestreiten [Kuhn, 2009]. Auch zum Alkoholkonsum liegen widersprüchliche Erkenntnisse vor, abgesehen von drastischem Missbrauch sind kaum exakte Aussagen darüber verfügbar, ob, wie viel und welche Art von Alkohol für welche Personen unter welchen Bedingungen gesundheitsriskant ist [Room et al., 2005]. Gleiche Ungewissheit besteht bei Übergewicht, metabolischem Syndrom, Bluthochdruck oder dem Cholesterinspiegel [Moynihan et al., 2002; Niewöhner, 2008; Schorb, 2008;]. Die scheinbare Gewissheit darüber, was gesund ist und was krank macht, ist weniger tief als es die Gesundheitskampagnen glauben machen. Gesundheitswissenschaftliche Erkenntnisse beruhen nicht auf Wahrheit, sondern auf dem, was mit gewisser Wahrscheinlichkeit unter bestimmten Umständen in Grenzen für wahr gehalten werden kann [Timm, 2009]. Es gibt keinen Test, der belegen kann, dass eine gesunde oder kranke Zukunftsoption auch wirklich eintritt [Leanza, 2010].
Bekanntlich lebt der reiche Raucher länger als der arme [Braun et al., 1998]: Wer überdurchschnittlich mit Gesundheitskapital ausgestattet ist, hat überdurchschnittliche Chancen auf gesundheitsförderliche Lebensbedingungen, überdurchschnittliche Möglichkeiten für einen gesundheitsförderlichen Lebensstil und eine überdurchschnittliche Wahrscheinlichkeit, dass die gesundheitsförderliche Lebensweise zu einem guten Gesundheitszustand führt [WHO, 2008]. Sozial benachteiligte Menschen sind also nicht nur eingeschränkt in ihren Chancen, sich verantwortungsbewusst gesundheitsgerecht zu verhalten, sondern auch darin, den größtmöglichen gesundheitlichen Nutzen daraus zu ziehen.
Anbietermarkt
Mehr Eigenverantwortung wird weder die Gesundheit aller Menschen verbessern, noch das Gesundheitswesen optimieren, denn auch hier liegen die Probleme vorwiegend nicht im individuellen Verantwortungsraum des Einzelnen. Das Gesundheitswesen ist als Anbietermarkt konzipiert, das heißt, nicht die Leistungsnehmer, sondern die Leistungserbringer bestimmen das Angebot, und in weiten Teilen auch die Nachfrage [Haacke, 2001]. Die Kostenkrise im Gesundheitswesen basiert außerdem weniger auf einem Ausgaben- als einem Einnahmenproblem, das sich durch verantwortungsbewusste Inanspruchnahme kaum lösen lässt [Reiners, 2009]. Ohnehin stellt die Kostenkrise keine objektive Krisensituation dar, sondern eine politisch erzeugte, auf normativer Verteilungsentscheidung beruhende Knappheitssituation [Wille, 1999]. Mehr Eigenverantwortung wird nicht zu einem systematischen Rückgang unnötiger Überversorgung führen, sondern vor allem zu einem generellen Rückgang der Inanspruchnahme bei Personen mit niedrigem Sozialstatus und schlechtem Gesundheitszustand [Gerlinger, 2009]. Die Hauptverantwortung für die Effizienz des Gesundheitswesens liegt darum im Verantwortungshorizont professioneller Gesundheitsakteure [Dieterich, 2010].
Nicht alle gleichermaßen erreicht
Die Eigenverantwortungskampagne erreicht nicht alle Menschen gleichermaßen. Mehr Eigenverantwortung wird im besten Fall die Gesundheit der begünstigten Bevölkerungsgruppen verbessern. Im schlechteren Fall führt das Fördern und Fordern von Eigenverantwortung nicht zu mehr Gesundheit, sondern zu mehr Belastung [Bittlingmayer, 2008]. Besonders für nicht-begünstigte Bevölkerungsgruppen sinkt die Wahrscheinlichkeit, mit individuellen Anstrengungen erfolgreich zu sein [Schui, 2004]. Den Beladenen wird unterstellt, dass es ihnen an Willen, Wissen und Weitsichtig keit fehlt, um Wohlstand und Wohlbefinden zu erreichen. Leid wird als Scheitern und Schuld individualisiert und internalisiert.
Der Widerspruch zwischen Gesundsein- Sollen und natürlich auch -Wollen und dem Gesundsein-Können wird nicht nur zur persönlichen, sondern auch zur politischen Niederlage. Politik, die beispielsweise unwirksame verhaltensorientierte Übergewichtsreduktionsprogramme propagiert, wird Akzeptanz- und Glaubwürdigkeitsverluste erleiden. Außerdem pulverisiert sie den gesellschaftlichen Solidarkonsens. Kranke gelten nicht mehr als unterstützungswürdige Opfer von Pech oder gesundheitsriskanten Lebensbedingungen, sondern als tatverdächtig aufgrund ihrer mangelhaften Anstrengungen zur gesundheitlichen Selbstoptimierung [Kühn, 2001]. Ihre Handlungen werden in Fehlhandlungen umgedeutet, und die ehemalige Unterstützung wird durch Aktivierung und Sanktionierung ersetzt – Producing, Blaming, Activating the Victim [Bittlingmayer, 2008]. Da vor allem in den niedrigen sozialen Schichten Krankheit überzufällig häufig verbreitet ist, trifft die Täterkonzipierung besonders die benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Sie geraten in einen Stigmatisierungs-Disziplinierungs-Ausschließungs-Prozess. Davon sind nicht nur „klassische Abweichler“ betroffen. Auch chronisch Kranke fühlen sich exkludiert, weil sie den gesellschaftlichen Standards nicht vollkommen entsprechen [Boehnke, 2005].
Die bisher geltende social correctness, die es den etablierten Schichten herkömmlicherweise öffentlich verbietet, rücksichtslose Urteile über benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu fällen, erodiert. Die Unterschichten werden als Minderleister abqualifiziert, von denen sich die Mehrleister zwecks Selbstaufwertung abgrenzen [Lessenich & Nullmeier, 2006]. Gesundheit wird zum Markenzeichen der Leistungsträger und scheidet Masse von Klasse. Differenzen werden betont, und bestehende Herrschaftsverhältnisse werden reproduziert [Hahn, 2010].
Ausdifferenzierung von Verantwortung
Die Betonung der individuellen Verantwortung für Gesundheit ist offensichtlich unterkomplex. Erforderlich unter Komplexbedingungen sind differenzierte Prozeduren der Verantwortungszuweisung. Wenn die Gesundheit aller gefördert werden soll, dann müssen alle beteiligt werden an den Prozeduren der Verantwortungszuweisung.
Zum ersten bedeutet dies: Alle müssen beteiligt werden an den Aushandlungsprozessen darüber:
a) welche Themen in Gesundheitskampagnen bearbeitet werden (die zuckerfreie oder die armutsfreie Kindheit?);
b) welche Personen mehr Gesundheitsverantwortung übernehmen sollen (das Individuum und/oder der öffentliche Sektor?);
c) welche Lösungen gegen die gegenwärtige Kostenkrise verfolgt werden (Einführung einer Grundsicherung oder einer Bürgerversicherung?).
Zum zweiten bedeutet dies: Alle müssen Gesundheitsverantwortung übernehmen, allerdings nicht nach Maßgabe ihrer persönlichen Betroffenheit (Das Kind soll weniger Süßigkeiten essen), sondern nach Maßgabe ihrer Potenz zur Veränderung ungesunder Zustände.
Gesundheit als Gemeinschaftsauftrag zu verstehen heißt zu realisieren, dass Gesundheit nicht in Einzelanstrengung erbracht werden kann – und auch nicht muss. Die Unfallverhütung weist den Weg: Die Fahrbahnschwelle vor dem Kindergarten reduziert wirksam das Unfallrisiko: Weder das unaufmerksame Kind, noch der eilige Autofahrer sind hier alleinverantwortlich, sondern situativ überfordert. Sie werden darum aufgefangen in einem kooperativen Verantwortungssystem, das aus einem Team von Unfallforschern, Straßenbauern, Stadtplanern oder Lokalpolitikern besteht.
Kooperatives Risiko- beziehungsweise Fehlermanagement ist in der kurativen Medizin bereits etabliert: Hier wird nicht mehr gefragt: Wer ist verantwortlich? Sondern: Wer kann wirksam Verantwortung übernehmen? Internationale Erfahrungen, etwa in der Chirurgie, zeigen, dass verursacherunabhängiges systemisches Risikomanagement zu bedeutsamen Qualitätsverbesserungen im Gesundheitswesen beitragen kann [Lauterberg & Kolpatzik, 2005]. Hingegen führt die beharrliche Suche nach den ursächlich Verantwortlichen (‚Schuldigen’) eher zur Verantwortungsverschleierung und Verantwortungsverschleppung, statt zur effektiven Risikoreduktion [Schrappe, 2005].
Für die Gesundheitsförderung und Krankheitsprophylaxe steht diese Entwicklung im Grunde noch aus, obwohl die gesundheitsförderlichen Potenziale unverkennbar sind. Risikomanagement-orientierte Gesundheitsförderung (ROG) würde Zahnkaries nicht als eigenverantwortliches Fehlverhalten von Patienten betrachten, sondern als Fehler im komplexen System aus leicht verfügbaren zuckerhaltigen Nahrungsmitteln, unzureichender schul- und betriebszahnärztlicher Versorgung oder ungenügenden Regularien zur Beschränkung schädlicher Produktwerbung. Ganz praktisch zielt ROG darauf ab, Schulen und Betriebe mit attraktiven Waschräumen auszustatten, denn solche erleichtern das Zähneputzen nach den Mahlzeiten; Supermärkte, die an den Kassen Katzenfutter statt Schokoriegel vorhalten, erleichtern das Einkaufen mit Kindern und reduzieren die Anforderungen an die Selbstdisziplin; verbindlich organisierte und finanzierte zahnärztliche Versorgung in Altenheimen erleichtert betagten Menschen die Inanspruchnahme erforderlicher Leistungen. Der Grundgedanke der WHO wird hier konkret: Make the healthy choice the easy choice.
Prof. Dr. Bettina SchmidtEFH BochumImmanuel-Kant-Str. 18–20,44803 Bochumbschmidt@efh-bochum.de
• Der Artikel ist ein von der Autorin für die zm modifizierter Beitrag, der ursprünglich unter dem Titel „Der eigenverantwortliche Mensch“, in: „Gesundheitswesen“ 2010, 72, Seite 29 – 34 erschienen ist. Er gibt nicht die Meinung der Redaktion wieder.