Hohe Erwartungen
Die richtige Diagnostik und Therapie zum richtigen Zeitpunkt beim richtigen Patienten – was Experten unter dem Schlagwort „personalisierte Medizin“ zusammenfassen, käme einem Paradigmenwechsel in der medizinischen Versorgung gleich. Denn Wissenschaften wie die Genomik, Pharmakogenomik oder Nutrinomik lassen es zumindest grundsätzlich möglich erscheinen, Patienten individualisiert und zielgerichtet zu diagnostizieren und zu behandeln. Die personalisierte Medizin wird nicht als Ersatz zu den traditionellen Therapiemöglichkeiten gesehen, sondern als wichtige und sinnvolle Ergänzung.
Eine routinemäßige Entschlüsselung jedes Menschen zum Zweck gezielter Prävention, Früherkennung oder maßgeschneiderter Therapie ist allerdings noch Zukunftsmusik, auch wenn einige Unternehmen bereits individuelle DNA- Sequenzierungen für weniger als 1 000 Dollar auf absehbare Zeit in Aussicht stellen. Kritiker warnen derweil vor überzogenen Erwartungen an die so genannte individualisierte Medizin. Denn noch gibt es keine Therapien oder Medikamente, die auf ein einziges Individuum abgestellt sind.
Seit aber im Jahr 2000 eine menschliche DNA mit ihren sechs Milliarden Nukleotiden und Genbausteinen erstmals vollständig entschlüsselt wurde, macht die Genomik, die Wissenschaft von der Entschlüsselung der genauen Zusammen setzung des menschlichen Genoms, immerhin Fortschritte.
Individueller Zuschnitt
Auf die individuellen Bedürfnisse einzelner Patienten (-gruppen) zugeschnittene Strategien in Prävention, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten könnten somit vielleicht irgendwann einmal tatsächlich Realität sein. Alistair Kent, Direktor der Genetic Alliance UK, machte auf dem Europäischen Gesundheitsforum Bad Hofgastein (EHFG) Anfang Oktober deutlich: „Patienten können von der personalisierten Medizin positive Auswirkungen auf die Diagnostik und mehr Effizienz in der Behandlung von Krankheiten erwarten: Innovative Therapien können zielgenauer eingesetzt und Erkrankungen können effizienter und effektiver bekämpft werden, mit einem geringeren Risiko von Nebenwirkungen.”
Große Hoffnungen setzt die Medizin beispielsweise in die Potenziale einer personalisierten Medizin bei der Behandlung von Krebspatienten. Mit einem modernen Bluttest, der winzige Rückstände von bösartigen Zellen aufspürt, sind Forscher der Vision einer personalisierten Krebstherapie bereits ein Stück nähergekommen. Mit Hilfe des genetischen „Fingerabdrucks“ des Tumors, so ihre Hoffnung, lassen sich maßgeschneiderte und nebenwirkungsärmere Therapie für die Patienten entwickeln.
dDabei nehmen Wissenschaftler nicht nur die genetische Disposition immer genauer unter die Lupe, sondern auch die Wechselwirkungen zwischen Erbanlagen und Umwelteinflüssen: „Die Krankheiten unseres Jahrhunderts sind komplex und haben ihre Ursachen meist in einem Zusammenspiel von genetischen Anlagen und Umwelteinflüssen oder Lebensstil“, so Professor Dr. B. Serdar Savas, Leiter des GENAR Institute for Public Health and Genomic Research in Istanbul. Dies umfasse Faktoren wie Stress, Ernährung, toxische Substanzen oder Viren.
Rahmen schaffen
Um dem neuen, ganzheitlichen Verständnis von der Entstehung und Entwicklung von Krankheiten ausreichend Rechnung tragen zu können, forderten Experten in Bad Hofgastein die EU-Staaten dazu auf, geeignete rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen. „In der Gesundheitspolitik sind klare Strategien zur Beurteilung und Richtlinien zur Umsetzung genombasierter Erkenntnisse und Technologien gefordert“, so Professor Dr. Angela Brand, Direktorin des European Centre for Public Health Genomics an der Universität Maastricht. Dabei müsse ein Mittelweg zwischen dem Schutz individueller Interessen und dem gesellschaftlichen Nutzen von Erkenntnissen der Genomik gefunden werden. Politische Entscheidungsträger sollten sich bewusst sein, dass diese Erkenntnisse sowohl für gesundheits-, sozial- und umweltpolitische Ziele als auch die Prävention und die individuelle sowie öffentliche Gesundheitsförderung eingesetzt werden müssen, so Brand weiter.
Auf dem EHFG wurde ferner die Forderung laut, durch wirtschaftliche Anreize für die pharmazeutische Industrie auch die Entwicklung von Medikamenten für seltene Genprofile voranzutreiben, damit auch kleine und kleinste Patientengruppen von den Fortschritten der personalisierten Medizin profitieren könnten.
Netzwerk gegründet
Antworten darauf, wie die Gesundheitspolitik auf die neuen Herausforderungen reagieren kann, liefert das Public Health Genomic Network (PHGEN). „Eine der Kernaufgaben von PHGEN ist es, die europäische Gesundheitspolitik und die Gesundheitssysteme der europäischen Länder auf den Paradigmenwechsel in Richtung personalisierte Medizin und Gesundheitsversorgung vorzubereiten“, so Brand.
Das Netzwerk stellt den EU-Staaten und EFTA-Ländern Richtlinien für den verantwortungsvollen Umgang und die Qualitätssicherung Genom-basierter Informationen und Technologien zur Verfügung. Eine erste Ausgabe der European Best Practice Guidelines for Quality Assurance, Provision and Use of Genome-based Information and Technologies ist bereits erschienen. Das European Centre for Public Health Genomics an der Universität Maastricht koordiniert das Projekts, das finanzielle Unterstützung durch die Europäische Kommission erhält.
Petra SpielbergChristian-Gau-Straße 24, 50933 Köln