Minimalinvasive Therapie singulärer und multipler Rezessionen
Die dauerhafte Deckung von vestibulären Gingivarezessionen ist spätestens seit den Untersuchungen Millers [Miller, 1985] als vorhersagbare Therapie anerkannt.
Seitdem wurden verschiedenste Operationsmethoden beschrieben, um Gewebe aus der Nachbarschaft der Rezession zu mobilisieren und die freiliegenden Wurzeloberflächen zu decken [Gruppe und Warren, 1956; Cohen und Ross 1968]. Die Techniken wurden zunächst immer invasiver und die Grenzen des Möglichen ausgelotet. Vor allem die zusätzliche Unterfütterung des mobilisierten Gewebes mit freien Bindegewebstransplantaten zeigte dauerhafte Erfolge [Langer und Langer, 1985; Pahle, 1998].
In den letzten Jahren wurden die Operationstechniken dann ständig verfeinert und weniger invasiv [Bruno, 1994; Allen, 1994]. Seit den Arbeiten von Wennström [Wennström, 1996] wurde auch die Erfordernis eines freien Bindegewebstransplantats erneut in Frage gestellt.
Insbesondere deshalb, weil die Untersuchungen von Ainamo und Pini Prato [Ainamo, 1992; Pini Prato 1996] Rückschlüsse ermöglichten, dass die Linea girlandiformis eine genetisch determinierte Übergangslinie von der keratinisierten zur nicht keratinisierten Mundschleimhaut im vestibulären Bereich darstellt und sich mit und ohne bindegewebiger Unterfütterung neu ausbildet. Auf der Grundlage dieser Untersuchungen verzichtet Zuchelli auf die Unterfütterung des mobilisierten Gewebes mit Bindegewebe [Zuchelli, 2000].
Auf der Suche nach einem operativen Äquivalent zwischen der Operationsmethode von Zuchelli [Zuchelli, 2000] und den Methoden mit freiem Bindegewebstransplantat wird deutlich, dass bei beiden Verfahren eine Verlagerung der marginalen Muskel - ansätze durchgeführt wird.
Zuchelli präpariert zu diesem Zweck einen reinen Mukosalappen [Zuchelli, 2000; Zuchelli, 2005] im Bereich der nicht keratinisierten Schleimhaut und dann in einem weiteren Schritt die Muskulatur in apikaler Richtung vom Periost ab. Der Mukosalappen liegt dann direkt auf dem Periost; der Zug der Muskulatur im Alveolen-/Rezessionsbereich wird damit verhindert.
Ein vergleichbares Ergebnis wird durch die Auflagerung von Bindegewebe auf den vestibulären Alveolenanteil, respektive die Rezessionsstelle erreicht. Die Muskulatur liegt dann auf dem Bindegewebe und hat keinen direkten Ansatz mehr im Alveolenbereich.
Fragestellung
Der hier vorgeschlagenen Klassifizierung [Pahle, 1998] der Operationsmethoden zur Rezessionsdeckung haben sich weitere Varianten dazugesellt [Allen, 1994; Bruno, 1994; Zuchelli, 2000]. Die Anzahl der propagierten Techniken macht es dem Praktiker schwer, die richtige auszuwählen. Heute kann eine neu entwickelte Technik vorgestellt werden. Bei geringem Schwellungsrisiko kann das Operationsergebnis direkt nach dem Eingriff beurteilt werden. Diese Methode leitet sich aus vielen zuvor veröffentlichten Operationsmethoden [Raetzke, 1985; Allen, 1994; Zuchelli, 2000] ab und wird von uns als „Sequentielle Pouchtechnik“ bezeichnet, weil auch bei multiplen Rezessionen jede Rezession für sich bewertet und therapiert wird (Abbildungen 1 bis 3). In der vorliegenden Arbeit sollte untersucht werden, ob dass nachstehend beschriebene operative Vorgehen für den universalen Einsatz empfohlen werden kann. Ebenfalls sollte untersucht werden, ob auf zuverlässige Art und Weise bereits präoperativ entschieden werden kann, ob zusätzlich subepitheliales Bindegewebe verwendet werden muss.
Material und Methode
Dem entsprechend wurde vor dem operativen Eingriff festgelegt, ob zusätzlich Bindegewebe verwendet wird. Zu diesem Zweck haben wir die Dicke des Gewebes um die Rezession mit einer Injektionsnadel und einem Endostopper ermittelt. Bei einer Gewebedicke von mehr als zwei mm wurde auf die Unterfütterung des mobilisierten Gewebes mit Bindegewebe verzichtet.
Zusätzlich musste sichergestellt sein, dass in den Fällen ohne Bindegewebsunterfütterung die Muskulatur in apikaler Richtung verschoben werden konnte. In allen anderen Fällen wurde weiterhin eine Verdickung des vestibulären Weichgewebes durch Bindegewebe aus dem Gaumen oder Tuberbereich durchgeführt.
Für die Präparation der vestibulären Pouch (Tasche) werden keine Skalpelle verwendet. Die Tasche kann als ringsum gestielter Lappen betrachtet werden und ist deshalb optimal an die Blutversorgung angebunden. Die ausschließlich stumpfe Präparation mindert die Schwellungsgefahr und das Risiko einer Lappennekrose. Diese klinische Erfahrung erklärt sich, da das Gewebe nicht zerschnitten, sondern zerrissen wird. Diese Methode der Gewebetrennung wird in der Gynäkologie als Misgav-Ladach-Technik bei der Sektio schon lange angewendet und gilt als besonders schonend [Joura, 2000].
Beim Durchschneiden von Gewebe werden Gefäße und Nerven durchtrennt. Dabei entstehen blutende Gefäßanschnitte und Endstücke, die nicht mehr mit Blut versorgt werden. Letztere können nekrotisch werden und müssen im Zuge der Wundheilung erst beseitigt werden. Bei sehr dünnen Geweben ist aufgrund der unterbrochenen Nährstoffversorgung deshalb mit Nekrosen zu rechnen.
Bei der vorsichtigen stumpfen Präparation lösen sich Gefäße und Nerven aus dem umliegenden Gewebe, ohne durchschnitten zu werden, so dass weniger blutende Gefäße auf der einen und nicht mehr versorgte Endstücke auf der anderen Seite entstehen. Dadurch resultiert eine deutlich geringere Blutung und eine verbesserte Durchblutung der Wundflächen.
Alle Eingriffe wurden von zwei Operateuren nach dem folgenden standardisierten operativen Vorgehen vorgenommen.
Operatives Vorgehen
1.Anästhesie des Operationsgebiets2.Ausmessen der Schleimhautdicke mit Injektionsnadel und Endostop3.Bei Schmelzdefekten: Legen einer Kunststofffüllung bis zur fiktiven Schmelz-Zement- Grenze4.Bearbeiten der Wurzeloberfläche mit feinkörnigen Diamanten5.Konditionieren der Wurzelfläche mit einprozentiger Zitronensäure6.Präparation des Empfängerbetts mit Miniraspatorien bis sich die Rezession spannungsfrei bedecken lässt. Das Zahnfleisch wird jeweils mindestens einen Zahn mesial und einen Zahn distal der Rezession gelöst. Bei multiplen Rezessionen wurde darauf geachtet, dass die präparierten Pouches in der gleichen Ebene korrespondieren, ähnlich der Tunneltechnik [Allen, 1994]. Bei Millerklasse 3 muss die Papillenbasis ebenfalls gelöst werden.7.Entnahme des Bindegewebes vom Gaumen oder wenn möglich aus dem Tuber - bereich. Das Bindegewebe aus dem Tuber ist kollagenreicher und besser zu verar - beiten.8.Anpassen der Bindegewebsstückchen für jede Rezession. Bei Millerklasse 3 muss das Bindegewebe weit in den Interdentalraum hineinreichen um die Papillenbasis ebenfalls zu unterfüttern.9.Anschlingen des Bindegewebes mit einem 5-0 monophilen Faden. Die Nadel kommt dabei von palatinal und fasst das Bindegewebe vestibulär. Im anderen Interdentalraum wird das Bindegewebe in identischer Weise gefasst. Beim Durchstechen des Interdentalraums ist darauf zu achten, dass die Nadel nicht das vestibuläre Epithel durchsticht, sondern innerhalb der präparierten Pouch bleibt. Auf der palatinalen Seite wird nun ein sehr lockerer Halteknoten geknüpft, der mit dem Nadelhalter zusammengehalten wird.10.Dieses Vorgehen wird an allen Rezessionen wiederholt, an denen eine Schleimhautdicke von weniger als 2 mm gemessen wurde.
11.Jetzt wird das Bindegewebe in die Pouches eingeführt. Erst nach dem voll - ständigen Einbringen des Bindegewebes wird dessen Lage ausgerichtet und der palatinale Knoten fertig geknüpft.12.Beginnend mit der tiefsten Rezession wird nun der epithelisierte Lappen mit Zahnumschlingungsnähten in koronaler Richtung fixiert. Die Knoten werden der Einfachheit halber vestibulär gelegt. Durch diese Naht kann die Lage des Deckgewebes ausgerichtet werden. Wenn die Rezession unsymmetrisch ist, wird an der flacheren Seite mit dem Nähen begonnen (ebenfalls mit 5-0 monophilen Fäden).13.Der erste Einstich erfolgt vestibulär in der Verlängerung der Papillenspitze. Die apikale Lage des Einstichs errechnet sich, indem man den vestibulär tiefsten Punkt der Schmelz-Zement-Grenze in den Approximalbereich projiziert. Von hier geht man 1x Rezessionshöhe +1mm weiter nach apikal.14.Die Nadel wird dann von palatinal scharf durch den anderen Interdentalraum nach vestibulär geführt und der Zahn damit ein erstes Mal umschlungen.
Ergebnisse
Im Zeitraum von vier Jahren wurden bei dieser Klientel 406 Rezessionen mit der oben beschriebenen Operationstechnik versorgt. Bei den 80 untersuchten Patienten handelte es sich um 63 weibliche und um 17 männliche Patienten. Die jüngste Patientin war 23 Jahre alt, der älteste Patient war 56.Alle Patienten hatten eine sehr gute Mundhygiene und Compliance.Zum Zeitpunkt der Auswertung waren die jüngsten Rezessionsdeckungen zehn Monate alt. Im Mittel lag der Zeitpunkt der Operation 29,18 Monate zurück.
Die Rezessionstiefe betrug durchschnittlich 3,6 mm bei einem Minimum von 2 mm bis maximal 7 mm.
Mit Bindegewebe unterlegt wurden 330 Rezessionsdeckungen.
Als Misserfolg wurde gewertet, wenn zehn Monate nach der Operation die marginale Gingiva apikal der Schmelz-Zement-Grenze lag.
Dies war in 18 Fällen zu erkennen. Die 18 Fälle verteilten sich auf sechs Patienten, drei davon waren weiblich.
13 dieser Fälle traten in der Millerklasse 3 auf, fünf Fälle in der Millerklasse 2. Bei 16 dieser Zähne handelte es sich um untere Frontzähne. Ein Zahn war ein endständiger oberer 3er, ein Zahn ein unterer 6er.
In allen Fällen mit Misserfolg wurde gemäß Operationsprotokoll Bindegewebe unterlegt.
In 28 Fällen wurde bei der Taschenpräparation die Interdentalpapille durchtrennt. In diesen Fällen wurde der Nahtverschluss nach Bruno oder Zuchelli durchgeführt.
Schlussfolgerung
Die Erfolgsquote der Sequentiellen Pouchtechnik zur Deckung gingivaler Rezessionen der Millerklassen 1, 2 und 3 liegt bei 95,56 Prozent. Bezieht man nur die Millerklassen 1 und 2 in die Auswertung ein, so beträgt die Erfolgsquote 98,76 Prozent.
Die Sequentielle Pouchtechnik ist somit eine sehr gut vorhersagbare Möglichkeit zur Deckung von Rezessionen der Millerklassen 1 und 2. Gewisse Einschränkungen ergeben sich bei der Millerklasse 3 vor allem bei unteren Frontzähnen.
Die präoperative Ermittlung der Schleimhautdicke hat sich als probate Entscheidungshilfe herausgestellt, ob eine Rezession zusätzlich mit Bindegewebe abgedeckt werden soll oder nicht. Bei ausreichend dicker Schleimhaut kann auf die Einbringung von Bindegewebe verzichtet werden.
Der geringe instrumentelle Aufwand und das beschriebene Vorgehen machen die Sequentielle Pouchtechnik zum Mittel der Wahl bei fast allen Formen der vestibulären Rezession. Aus geometrischen Gründen sind nur sehr tiefe und schmale Rezessionen, die in ihrer Morphologie einem „Stillman’s cleft“ entsprechen, besser mit lateralen Verschiebetechniken zu versorgen.
Die Sequentielle Pouchtechnik ist eine Weiterentwicklung der Envelope-Technik [Raetzke, 1985] und der Tunneltechnik [Allen, 1994]. Sie berücksichtigt die Vorteile der Zuchelli-Technik [Zuchelli, 2000], ist aber deutlich weniger invasiv. Im Gegensatz zur Tunneltechnik wird jede Rezessionihren Ausmaßen entsprechend therapiert. Durch die gezielte Bindegewebsunterfütterung wird dem dreidimensionalen Gingivarelief im Sinne der Juga alveolaria Rechnung getragen. Im Falle der Miller - klasse 3 kann die Papillenbasis ebenfalls aufgebaut werden.
Das Operationsprotokoll kann bis auf oben genannte Einschränkung bei allen Formen der vestibulären Rezession angewendet werden.
Wenn die interdentalen Papillen sehr schmal sind, ergibt sich in manchen Fällen eine Änderung des Operationsprotokolls, wie es von Bruno oder Zuchelli [Bruno, 1994; Zuchelli, 2000] beschrieben wurde.
Dr. Markus W. E. PahleUlmer Str. 489134 BlausteinDr.Pahle@t-online.de
Dr. Gerhard KochhanKönigsallee 1240212 Düsseldorf