Ruin der freien Versorgung
Der zweite Beitrag beleuchtet Einzelschicksale in der Zeit des Kalten Krieges. Mühsam gelingt es den Kollegen und Standesführungen im Westen, die Not der geflüchteten Zahnärzte zu lindern und beim Aufbau einer neuen Existenz zu helfen. Immer fester setzt sich die Meinungsdiktatur der SED-Kulturfunktionäre durch, gleichzeitig mit der Zerstörung wissenschaftlicher Qualität, menschlicher und akademischer Lebensexistenzen. Beispielhaft für diesen Psycho-Druck sind die Schicksale der Professoren Wolfgang Rosenthal, Erwin Reichenbach und Walter Hoffmann-Axthelm.
Die Ostzone blutete aus. Es verdient, aus einer Grundsatzreflexion von Dr. Erich Müller (Altona) festgehalten zu werden: „Nach der Bildung des BDZ wurde die bis dahin bestehende ‚Flüchtlingsnothilfe der Deutschen Zahnärzte’, die in den Jahren 1945/46 von unserem ‚Flüchtlingsvater’ Kollegen Lehm, Göttingen, gegründet worden war, in das ‚Soziale Hilfswerk der Deutschen Zahnärzte’ umgewandelt. Dieses Hilfswerk, das – wie der Name besagt – zunächst nur Flüchtlinge betreute, hat später unendlich viel Not gelindert. Als es schließlich am 31. März 1958 aufgelöst und die noch vorhandenen Betreuten in die Obhut der Landeszahnärztekammern übergeben wurden, konnte mit Stolz festgestellt werden, dass im Laufe dieser zehn Jahre über drei Millionen D-Mark durch kollegiale Sammlungen notleidenden Kollegen oder deren Angehörigen zugeleitet worden waren. Wichtiger aber als diese materielle Hilfe war die Linderung der seelischen Not, die nur durch Aufrechterhaltung eines persönlichen Kontaktes möglich war. Der Name des vor fünf Jahren verstorbenen Kollegen Ferdinand Lehm wird immer mit dieser wahrhaft sozialen Tat verbunden bleiben“ (zm 1963 Ausgabe 6, Seite 234). Es sind die Unbekannten, die Vergessenen der Verbandsgeschichte.
Schmerzendes Element der Trennung
Aus den uns zugänglichen Quellen und Unterlagen geht hervor, dass den damaligen Vorständen des Bundesverbandes das schmerzende Element der Landesteilung bewusst blieb, auch wenn wenig darüber gesprochen wurde und die Sorgen im westlichen Deutschland alles andere zu überdecken schienen. Die Herren des Kalten Krieges sprachen ihr Machtwort. In den Protokollen, Nachrufen und Berichten deuten die Autoren und Sprecher auch verschiedentlich die Hoffnung an, dass Fritz Linnert, der mit fester, manchmal harter Hand zwischen 1945 und seinem Tod im Oktober 1949 den Aufbau der Selbstverwaltung koordinierte, die Teilung hätte lindern und die Kontakte einigermaßen aufrechterhalten können. Der Eiserne Vorhang trennte die Kollegenschaften und zwang, sich auf die Aufgaben des eigenen Terrains zu beschränken. Die Pression der kommunistischen Herrschaft setzte den Auszug der Wissenschaftler in Gang, ein geistiges Ausbluten, das zur Flucht zwang oder zu einem quälenden inneren Kompromiss mit dem Regime. Viele persönliche Mitteilungen unter vier Augen und zu ruhiger Stunde zwingen aber auch zur geschichtlichen Wahrheit, dass viele Richtungswechsel von Ost nach West wirtschaftlich-materiell bedingt waren, wodurch Familienangehörige allein unter den Segnungen der sozialistischen Sterne zurückgelassen und nie heilende Wunden aufgerissen wurden.
Einheit im Blick
Die Einheit lag Dr. Erich Müller immer am Herzen, nicht nur die der Stände, nicht nur die des kollegialen Zusammenschlusses unter dem Dach der Fédération Dentaire Internationale (FDI), die nach dem Krieg den deutschen Zahnärzten wieder großzügig Platz einräumte, sondern auch die Einheit Deutschlands.
1953 war in Düsseldorf der „Zahnärztetag der Einheit“. Müller: „Nicht nur, dass rund 5 000 deutsche Zahnärzte, darunter allein 400 aus der sowjetischen Zone, an ihm teilnahmen, gab ihm das Gepräge, sondern mehr noch die Tatsache, dass hier zum ersten Male die Wiedereingliederung der deutschen zahnärztlichen Organisationen in die FDI dokumentiert wurde“ (zm 1963, Ausgabe 6 Seite 236). Die Erinnerungen Hoffmann-Axthelms geben über die Spaltung der deutschen Zahnheilkunde und über die Verfilzung der medizinischen Wissenschaft mit dem Marxismus im SEDbeherrschten deutschen Teilstaat oft abgründigen Aufschluss. Sie gehören zu den zentralen Dokumenten der deutschen Universitätsgeschichte.
Passiver Widerstand
Der geniale Rachen-, Schlund- und Gaumen-Operateur Professor Wolfgang Rosenthal, chirurgischer Ordinarius der Charité in Ostberlin, politisch und menschlich schillernd, Wanderer zwischen den Welten, SED-Mann, holt Hoffmann-Axthelm 1950 als Oberarzt. Die traditionsreiche Klinik ist durchsetzt mit Agenten des amerikanischen Geheimdienstes CIA, SED-Aufpasser lauern im Hause, es herrschen Käuflichkeit und Opportunismus, aber auch beträchtliche Gruppen von Ärzten und Zahnärzten leisten passiv-renitenten Widerstand gegen die Kulturfunktionäre des Regimes, die wissenschaftliche Tagungen in politische Veranstaltungen umfunktionieren wollen. Rosenthal schirmt Hoffmann-Axthelm jedoch ab, dispensiert ihn von „politischer Schulung“, was ihm endlose Streitereien und Papierkriege nicht erspart. Wertvolle Zeit für Praxis und Forschung geht in ständigen Rechtfertigungen verloren. Hoffmann-Axthelm redigiert die wissenschaftlichen Zeitschriften und kämpft dabei einen redaktionellen Dauer-Clinch mit den ideologischen Kultur-Kalfaktoren aus, die ihm Lobhudeleien auf den großen Vorsitzenden Josef Stalin und marxistische Sprüche in die Hefte schmuggeln wollen. Zuckerbrot und Peitsche. Es werden ihm Ordinariatsstellen in Greifswald, Rostock und Jena angeboten, immer in der stillen Erwartung, dass der Umworbene mit dem SED-Staat seinen Frieden schließt und sich ihm aktiv anvertraut. Hoffmann-Axthelm lehnt ab, weil er immer noch Möglichkeiten in Westberlin sieht, dort Wohnung hat und seine Familie lebt, die er nicht dem Einfluss der Partei aussetzen will, der im Landesinnern ungleich stärker ist als in der Grenzstadt zwischen den beiden Blöcken. Nach der Emeritierung Rosenthals 1957, im immer eisiger werdenden Kalten Krieg, quittiert Hoffmann-Axthelm 1961 seinen Dienst in der Charité und beginnt im Westen Deutschlands als Historiker „im Schnittpunkt zwischen Geisteswissenschaften und Medizin“ [Professor Hans-J. Neumann, Charité] seine neue Laufbahn.
Wenig Solidarität
Es gehört zu den Unerfreulichkeiten der deutschen Wissenschaftsgeschichte, dass Solidarität unter universitären und professoralen Kollegen – wie zur NS-Zeit in den dreißiger Jahren – nicht zu den hervorstechenden Eigenschaften der Gelehrten gehört. Die Zeit der Göttinger Sieben, die sich in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts gegen restaurative Willkürherrschaft auflehnten und zündende Rechtsfertigungsschriften verfassten, ist in der deutschen Universitätsgeschichte eine einsame Spitze (Das schafften später nur die Studentengeschwister Scholl in München). Hoffmann-Axthelm bemerkt in seinen Erinnerungen bitter: „Meine Konsolidierung an der Freien Universität (Berlin) quält sich nur langsam weiter. Aber warum sollte es mir besser ergehen als allen meinen Kollegen von drüben, die hier im Westen nur schwer vorankommen. Wir sind und bleiben Fremdkörper, denn wir sind nach dem Erlebten andere geworden, auch haben wir drüben zu hohe Stellen bekleidet und sind daher bei gutem Willen nur schwer einzuordnen, werden aber über dem Warten zu alt.“
Es werden in den Jahren der Spaltung seltsame Leben zwischen links und rechts, braun und rot gelebt. Dank ihrer Glätte und ihrer Fähigkeit, je nach Wechsel des politischen Terrains sich chamäleonhaft den Farbton anzupassen, mieden diese Zeitgenossen jegliche Konfrontation und schafften die Passage zwischen den Fronten.
Passage zwischen den Fronten
So etwa besagter Professor Dr. Wolfgang Rosenthal, zeit seines Lebens rastloser Wanderer auch zwischen aktiv betriebener klassischer Musik und Zahnmedizin. Aufgrund einer problematischen eidesstattlichen Erklärung seiner Schwester ist er kein Abkömmling eines „volljüdischen“ Großvaters. Schließlich Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP); als „Mischling“ und Professor der Chirurgie 1937 entlassen, 1946 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), nach deren Zwangsvereinigung mit der KPD dann Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), dann dank seines internationalen Ansehens 1950 Ordinarius für Kieferchirurgie an der Charité.
Rosenthal, der unter großen Opfern und persönlichem Aufwand während des Krieges und in der Nachkriegszeit eine Klinik in Thallwitz bei Leipzig aufbaute und betrieb, schwankt politisch ständig, passt sich an, kämpft aber gegen die Zwangsexmatrikulationen Westberliner Studenten, hält zum großen Verdruss der SED guten Kontakt zu „bürgerlichen“ Kollegen, wird als „Hervorragender Wissenschaftler“ und „Arzt des Volkes“, schließlich als Nationalpreisträger ausgezeichnet. Er stirbt 1971 an einer Oberschenkelfraktur. Rosenthal, ein großer Konzert-Sänger, hat sich auch immer um die Versorgung wenig bemittelter Patienten bemüht (Eltern und Ärzte haben sich 1981 zu einer Rosenthal-Gesellschaft zusammengeschlossen, in der die Rachen- und Kieferchirgie gepflegt und gefördert wird).
Flucht in den Westen
Professor Dr. Ewald Harndt, ab 1951 an der Freien Universität Berlin, flüchtet im November 1950 durch ein Fenster aus der Charité, steigt am Bahnhof Friedrichstraße in die Bahn und entkommt in den Westen. Ein ihm gut bekannter und zugetaner Pförtner hatte ihn vor zwei Männern gewarnt, die im Anmarsch waren und ihn zu „sprechen“ wünschten.
Beispielhaft für die Zerstörung einer wissenschaftlichen Karriere unter der Kulturkolchose der kommunistischen Herrschaft und für die Spaltung der Kollegenschaft in einen östlichen und westlichen Teil ist das Leben und Wirken von Professor Dr. Erwin Reichenbach in Halle/Saale (1897–1973), vom 1. September 1947 bis zu seiner vom SED-Regime erzwungenen Emeritierung am 1. Januar 1962 Direktor der dortigen Universitätsklinik. Reichenbach war einer der letzten geistig polyglotten Polyhistoren und Einheitswahrer der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde und – wie sein Kollege Professor Hoffmann-Axthelm – ein Gelehrter im Schnittpunkt von Medizin, Geistes- und Kulturwissenschaften. Das neu gegründete Fortbildungsinstitut der Zahnärztekammer Sachsen-Anhalt trägt seinen Namen.
Reichenbach ist neben Hoffmann-Axthelm und Rosenthal der führende Protagonist der Zahnheilkunde in den SBZ- und späteren DDR-Jahren, seine Bibliographie umfasst am Ende seines Lebens 266 Einzelarbeiten, 58 Monographien und ungezählte Expertisen und Miszellen in Hand- und Lehrbüchern. Reichenbach pflegte wie Rosenthal in privaten Orchestern Kammermusik. Er war Literaturfreund und ein erstklassiger Kenner Goethes.
Reichenbach studiert in München Medizin und Zahnmedizin, habilitiert sich 1927 mit dem Thema „Die Umwandlung der Schmerzpulpa und der Schmerzepithelien während der Entwicklung des Zahnes“. In den dreißiger Jahren ist er kurze Zeit „Sanitäts-Sturmführer“ der SA, verweigert aber die Führerlaufbahn, scheidet 1937 aus und gibt seinen SA-Ausweis zurück. Im Frühjahr 1936 erfolgte die Ernennung zum ordentlichen Professor und Berufung an die Universität Leipzig. Im Zweiten Weltkrieg arbeitet er abwechselnd an der Front und in der zum Lazarett umgewidmeten Klinik. Eine Ordinariatslaufbahn in Berlin zerschlägt sich, weil er sich „nicht aktiv in nationalsozialistischem Sinn betätigt“ (Eine üble Rolle in der Berufungspraxis und Entscheidung über Linientreue spielte „Reichsdozentenführer“ Karl Pieper). Er übersteht den Krieg schwer verwundet.
Notdienstverträge
Nach 1945 schlägt er sich mit Notdienstverträgen mehr schlecht als recht durch und nimmt 1947 den Ruf als ordentlicher Professor auf das Direktorat des Zahnärztlichen Instituts der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg an.
Es folgen Jahre des Wiederaufbaus, Reichenbach bleibt in Halle, wenn auch auf Grund interalliierter Absprachen mit der US-Armee 30 Medizinkollegen und Naturwissenschaftler unter Mitnahme hochwertiger Forschungseinrichtungen und Instrumentarien Thüringen verlassen und nach Westen abwandern. Thüringen wird der Sowjetisch Besetzten Zone Deutschlands zugeschlagen. 1948 erfolgte die Gründung der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde des Landes Sachsen-Anhalt, Reichenbach wird ihr Präsident; in der Klinik ist er Allein-Direktor, eine Stellung, die er genau hütet. 1952 wird er Mitglied der 1652 gegründeten „Leopoldina“, einer der renommiertesten Gelehrtenvereinigungen, Sitz in Halle, auch von der Regierung in Ostberlin respektiert. Drei Jahre später wählt ihn der Senat der Akademie unter Professor Kurt Mothes zum Vizepräsidenten. Das Gremium konstatiert, „dass mindestens für die Dauer der Spaltung Deutschlands drei Vizepräsidenten gewählt werden, wovon einer sich in Westdeutschland befinden muss“. Reichenbachs Vize-Präsidentenkollege ist der Chemie-Professor und Nobelpreisträger Professor Adolf Butenandt, München.
DDR-Präsident Wilhelm Pieck verleiht Reichenbach 1956 den „Deutschen Nationalpreis II. Klasse für Wissenschaft und Technik in Anerkennung seiner hervorragenden Mitwirkung an der Entwicklung der Friedenswirtschaft“.
Aber „loyale Haltung“ zum DDR-Staat ist das Äußerste, was er sich abringen kann. Er muss um Reisegenehmigungen bitten, er beschwert sich über die Schwierigkeiten bei der Beschaffung ausländischer Literatur und Fachzeitschriften, Emissäre der Sowjetischen Militäradministration sind Gäste bei den akademischen Terminen, wenn die Forschungsergebnisse und Aufbauphasen vorgestellt werden. Seine „gesellschaftliche Entwicklung bleibt schwach“, heißt es in einer Beurteilung.
Dr. Ekkhard HäussermannGreifswalder Straße 950737 Köln