Psychoonkologische Betreuung von Tumorpatienten im MKG-Bereich
Psychosoziale Onkologie ist eine Wissenschaft, die in den letzten 35 Jahren aus dem Zusammenwirken von Medizin, Klinischer Psychologie und Sozialwissenschaften entstanden ist. Vorrangiges Ziel der Psychoonkologie ist die Verbesserung der psychosozialen Unterstützung der an Krebs Erkrankten und ihrer Angehörigen in allen Stadien der Behandlung und Nachsorge.
Die Psychosoziale Onkologie ist wissenschaftlich begründet. Bei kritischer Würdigung der wichtigsten Forschungsergebnisse ist folgende Quintessenz festzuhalten:
• Die Annahme einer Krebspersönlichkeit („Typ-C-Persönlichkeit“) ist widerlegt [Schwarz, 1993; Kreitler et al., 1993].
• Die Psychogenese eines Tumors ist wissenschaftlich nicht haltbar [Locke u. Fox, 1992; Gibertini et al., 1992; Petticrew et al., 1999].
• Im Rahmen eines multifaktoriellen Modells kann der psychische Faktor einer von vielen sein (Psychoneuroimmunologie) [Reiche et al., 2004].
• Risikoverhalten erhöht die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken. Erwiesene Risikofaktoren sind: Rauchen, Alkohol, Ernährung und Übergewicht, Sonnenexposition, berufliche Exposition (schädigende Substanzen wie Asbest, Cadmium), Sexualpraktiken (Humane Papillomviren, Zervixkarzinom), Verzögerung von Arztbesuchen (Delay) [Duffy et al., 2002; Schwarz & Singer, 2008].
• Die Frage des Einflusses des Bewältigungsverhaltens auf den somatischen Verlauf maligner Tumoren wird kontrovers diskutiert [Faller, 1997, 2009]. Aktives Bewältigungsverhalten könnte einen günstigen, Resignation und Hoffnungslosigkeit könnten einen ungünstigen Einfluss auf die Prognose haben. Die möglichen Wirkmechanismen könnten sowohl direkt (über psychoneuroimmunologische Bindeglieder) als auch indirekt (über verbesserte Compliance mit der medizinischen Behandlung) erfolgen.
• Der derzeitige Forschungsstand erlaubt nicht die Aussage, dass psychologische Interventionen die Überlebenszeit verlängern [Cunningham et al., 1998; Edelman et al., 1999; Goodwin et al., 2001; Faller, 2009].
• Absolut sicher ist, dass psychosoziale Interventionen einen direkten Einfluss auf die Verbesserung der Lebensqualität von Krebskranken haben. Sie entlasten die Patienten, stärken ihre Bewältigung, fördern ihre aktive Mitarbeit, führen zu einer besseren Compliance mit der medizinischen Behandlung und mobilisieren die Ressourcen des Bezugssystems [Holland & Rowland, 1989; Schwarz & Singer, 2008; Mehnert, 2009].
Ein Literaturüberblick verdeutlicht die starke Beeinträchtigung der Lebensqualität von Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren [De Boer et al., 1999]. Die für den Patienten am meisten belastenden körperlichen Symptome sind Sprachprobleme, trockener Mund und Rachen, Schluckprobleme und Schmerzen. An psychologischen Belastungen werden Sorgen, Angst, Fatigue und Depression sowie negative Auswirkungen auf soziale Kontakte und Sexualität berichtet. Die psychologische Morbidität von Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren wurde mehrfach bestätigt [Hutton & Williams, 2001; Duffy et al., 2002; Hammerlid et al., 1999, 2001; Kugaya et al., 2000]. Auch die Angehörigen sind hoch belastet [Verdonck-de-leeuw et al., 2007].
Frauen von Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren hatten eine hohe Prävalenz von Angsterkrankungen, insbesondere von Agoraphobie [Drabe et al., 2008]. Patienten mit geringem Selbstwert und mit passivem Copingstil (pessimistische Haltung, Unfähigkeits- und Überforderungsgefühle) zeigten sich deutlich unzufriedener mit Nasenrekonstruktionen nach Tumorresektion als Patienten mit aktivem Copingstil (handlungs- und lösungsorientiertes Vorgehen) und entwickelten postoperativ soziale Ängste [Moolenburgh et al., 2009]. Die Autoren unterstreichen den hohen Stellenwert eines präoperativen psychologischen Screenings zur Identifikation der entsprechenden Risikopatienten. Eine prospektive Studie zur Rezidivangst von Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren zeigt den deutlichen Zusammenhang von psychischer Belastung und Rezidivangst sowohl bei Patienten als auch bei ihren Angehörigen und betont ebenfalls die Notwendigkeit einer im Behandlungsverlauf frühzeitigen psychologischen Intervention [Hodges et al., 2005]. Mehrere Untersuchungen ermittelten bei 40 Prozent der Patienten mit Tumoren im Kopf-Hals-Bereich eine behandlungsbedürftige Belastung [Morton et al., 1984; Epsie et al., 1989; Baile et al., 1992].
Eine Studie zur postoperativen Belastung von Melanompatienten [Cassileth et al., 1983] erbrachte das Ergebnis, dass die postoperative Belastung von zwei Faktoren abhängt: von der Tiefe des Defekts und davon, wie stark der postoperative Befund von der präoperativen Vorstellung abweicht, also vom Ausmaß des Unvorbereitetseins auf den Defekt. Eine sorgfältige und realistische präoperative Vorbereitung und eine psychologische Begleitung sind grundlegende Voraussetzungen für die postoperative Bewältigung [Macgregor, 1981; Strittmatter 2003]. Die präoperative Vorlage von Fotos erwies sich als nicht geeignet, die präoperativen Vorstellungen des postoperativen Befunds zu verbessern [Cassileth et al., 1984].
In einer eigenen Studie zur differenzierten Ermittlung des Betreuungsbedarfs [Strittmatter, 1997; Strittmatter et al., 1998, 2003] und zur gezielten Unterstützung betreuungsbedürftiger Patienten bei einer konsekutiven Stichprobe von 846 Patienten mit malignen Haut- und Gesichtstumoren hatten Patienten mit funktionellen Beschwerden im Kopf-Hals-Bereich einen deutlich höheren Betreuungsbedarf (58,9 Prozent) als Melanompatienten (45,4 Prozent, siehe Tabelle 1). Während bei den betreuungsbedürftigen Melanompatienten am häufigsten Interventionen wegen extrem großer Tumorangst (19,8 Prozent) und am seltensten wegen Selbstunsicherheit (7,3 Prozent) notwendig waren, war es bei den Patienten mit funktionellen Beschwerden im Kopf-Hals-Bereich genau umgekehrt: Sie benötigten am häufigsten Unterstützung wegen körperbildbezogener Selbstunsicherheit (21,7 Prozent) und am seltensten wegen Tumorangst (8,7 Prozent). An zweithäufigster Stelle standen Interventionen wegen beruflicher Probleme.
Neben den für alle Haut- und Gesichtstumorpatienten relevanten Belastungsbereichen (Tumorangst, psychisches Befinden, innere Unruhe und Anspannung, körperliches Befinden, körperbildbezogene Selbstunsicherheit, mangelnde soziale Unterstützung, mangelnde ärztliche Unterstützung, berufliche und finanzielle Probleme) leiden die Patienten mit funktionellen Beschwerden im Kopf-Hals-Bereich zusätzlich unter gravierenden Funktionsstörungen: von 56 Patienten 97 Prozent unter Schwierigkeiten beim Essen, weil sie ihre Lippen nicht richtig schließen können; 86 Prozent unter Sprachproblemen; 82 Prozent unter Schwierigkeiten beim mimischen Ausdruck; 71 Prozent unter Problemen beim Schlucken; 56 Prozent unter Schwierigkeiten beim Schmecken. Die meisten der betroffenen Patienten sind gleichzeitig durch mehrere Funktionsstörungen belastet. Die Belastungshöhen dieser Beschwerden sind erheblich, sie liegen in der Selbsteinschätzung der Patienten alle weit über der Hälfte der möglichen Maximalbelastung und erreichen bei der durch fehlenden Lippenschluss bedingten „Schwierigkeit beim Essen“ den zweithöchsten Einzelbelastungswert nach der Angst, die Arbeit zu verlieren [Strittmatter, 1997].
Bedeutung und Stellenwert des Gesichts
Das Gesicht ist Hauptmerkmal unserer Identität. Wir erkennen uns an unseren Gesichtern. Die Bedeutung des Gesichts für Individualität und Persönlichkeit des Einzelnen wird bereits deutlich an den umgangssprachlichen Formulierungen, wie zum Beispiel „sein wahres Gesicht zeigen“ oder „sein Gesicht verlieren“. Neben der Bedeutung für Identität und Persönlichkeit des Einzelnen hat das Gesicht eine zentrale Bedeutung für Kommunikation und Interaktion. Der Gesichtsausdruck zeigt den Gefühlszustand an, vermittelt interpersonale Einstellungen wie Sympathie oder Ablehnung. Einige emotionale Gesichtsausdrücke scheinen kulturunabhängig universal zu sein, wie zum Beispiel für Zorn, Abscheu, Trauer, Freude, Angst, Überraschung. Kulturelle Unterschiede bestehen aber in den Regeln, wer welche Gefühlsregung wem und wann in welchem Maße zeigt.
Eine Beziehung wird meistens auf der nonverbalen Ebene im „lautlosen Code“ verhandelt. Eine Geste oder eine Miene sagen uns mehr darüber, wie ein anderer über uns denkt als hundert Worte. Man denke dabei an Ausdrücke wie „jemandem mit Blicken durchbohren“ oder „dieser Blick spricht Bände“. Studien zeigen, dass nonverbale Schlüsselreize eine größere Bedeutung haben als Worte (so betragen zur Vermittlung dominanten Auftretens der Anteil des Gesichts 55 Prozent, des Tonfalls 38 Prozent, der Worte aber nur 7 Prozent ).
Neben der Mitteilung von Gefühlen und Einstellungen gibt der Gesichtsausdruck dem Sprecher Rückmeldungen und kommentiert das Gesagte. Er signalisiert Aufmerksamkeit, zeigt Interesse, Desinteresse, Verständnis, Unverständnis, er dient der Synchronisation beim Sprechen. Blicke zeigen, wer sprechen möchte, wann der Sprechende das Wort abgibt und mehr. Die regulative Funktion des nonverbalen Kommunikationskanals darf nicht unterschätzt werden.
Folgen eines Gesichtsdefekts
Ein Gesichtsdefekt hat dramatische Folgen sowohl für die Identität und die Persönlichkeit als auch für die Kommunikationsfähigkeit des Betroffenen [Ranking & Borah, 2003; Bull & Rumsey, 1988; Macgregor, 1990; De Boer et al., 1999].
Das Körperbild wird verletzt, der Selbstwert wird beeinträchtigt. Ein Gesichtsdefekt kann eine Identitätskrise auslösen bis hin zu einem Identitätsverlust. Der Betroffene wird selbstunsicher, fürchtet sich vor Blicken und Fragen anderer, und entwickelt soziale Ängste mit einem ausgeprägten Rückzugs- und Vermeidungsverhalten. Die Kommunikationsfähigkeit wird eingeschränkt, behindert und manchmal verunmöglicht. Dabei sind die Sprache und die nonverbalen Schlüsselreize des Gesichts betroffen.
Nach dem Klassifikationsvorschlag der WHO von 1980 erleidet der Gesichtsverletzte eine dreifache Beeinträchtigung:
• einen gesundheitlichen Schaden (impairment), wie Sinnesschädigung, Sprachbehinderung, Schluckbehinderung, Behinderung der Mimik,
• Funktionseinschränkungen (disability), wie Berufseinschränkungen, Minderung der Erwerbsfähigkeit und einen entsprechenden Grad der Behinderung,
• soziale Beeinträchtigungen (handicap), zum Beispiel Abweisung, Distanzierung, soziale Ausgliederung und soziale Stigmatisierung.
Die psychosoziale Stigmatisierung von Menschen mit Gesichtsverletzungen ist tief verwurzelt [Drepper & Ehring, 1975; Schwanitz, 1984]. Das Gesicht gilt als Spiegel der Seele. Vom Gesicht wird auf den Charakter eines Menschen geschlossen. Schon bei Aristoteles findet sich der Rückschluss vom Aussehen auf den Charakter. In Märchen und bildlichen Darstellungen wird böse mit hässlich gleichgesetzt (siehe die Hexe im Märchen oder die Darstellung von Teufelsfratzen). Die Arbeiten des Soziologen Erving Goffman (1922-1982) zu „Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“ [Goffmann, 1967] und zum „Stigma- Management“ im Umgang mit anderen sind grundlegend. Die tiefe psychologische Not von Menschen mit Gesichtstumoren wurde von einem erfahrenen Arzt (Dr. Hubert Drepper) treffend so zum Ausdruck gebracht: „In dem Moment, da er es bräuchte, sein Gesicht zu wahren, verliert er sein Gesicht.“
Grundlegende Bedingung für die Planung und Durchführung psychoonkologischer Interventionen ist die Identifizierung der Patienten mit psychosozialem Risiko. Nur wenige Patienten bitten von sich aus um Unterstützung. Ärzte und Pflegekräfte sind nur eingeschränkt in der Lage, die betreuungsbedürftigen Patienten zu erkennen. Die Durchführung adäquater Interviews ist im Klinikalltag zu zeitaufwendig und nicht realisierbar. Das Screening psychosozialer Risikopatienten muss auf standardisierten Instrumenten basieren. Diese müssen zugleich im klinischen Alltag leicht handhabbar sein, um überhaupt eingesetzt werden zu können. Um dies für Gesichts- und Hauttumorpatienten zu realisieren, wurde in einem größeren Forschungsprojekt das Hornheider Instrumentarium entwickelt (Hornheider Fragebogen, Kurzform des Hornheider Fragebogens, Hornheider Screening-Instrument) [Strittmatter, 1997; Strittmatter et al. 2000, 2003].
Das Hornheider Screening-Instrument (HSI) (siehe Abbildung Hornheider Screening- Instrument) wurde entwickelt, um schon im Erstkontakt die betreuungsbedürftigen Patienten zuverlässig und schnell identifizieren zu können, mit Fragen, die präoperativ nicht belasten und zugleich praktikabel für den routinemäßigen klinischen Einsatz sind [Strittmatter et al., 2000].
Aktuell stehen zwei Versionen des HSI zur Verfügung: die Interview-Version und die Fragebogen-Version [Strittmatter et al. 2000; Strittmatter, 2006; Strittmatter & Gerhards, 2009]. Beide Versionen bestehen aus sieben identischen Fragen, die in der Interview-Version dem Patienten im Rahmen des Erstgesprächs gestellt werden beziehungsweise in der Fragebogen-Version dem Patienten im Erstkontakt zur schriftlichen Beantwortung vorgelegt werden. Bei der Interview-Version kreuzt der Mitarbeiter (Arzt, Pflegekraft, psychosozialer Mitarbeiter) die vorgegebenen Antwortkategorien an, während bei der Fragebogen-Version der Patient den Bogen selber ausfüllt.
(Das Instrument wie auch die Auswertungsdatei können beim Autor via E-Mail kostenfrei angefordert werden:gerhard.strittmatter@fachklinik-hornheide.de).
Behandlungsintegrierter Interventionsansatz
Nach internationalem Konsens ist die Qualität eines behandlungsintegrierten psychoonkologischen Ansatzes an zwei Merkmalen zu erkennen (siehe Tabelle 2):
1. an der Bereitstellung einer Basisunterstützung für alle Tumorpatienten durch alle an der Behandlung Beteiligten und
2.am Angebot zusätzlicher Interventionen für Patienten mit akuten Überbelastungen in relevanten Belastungsbereichen durch psychosoziale Berufsgruppen.
Jeder Mitarbeiter nimmt an der Basisunterstützung teil. Eine Schlüsselstellung bilden tragfähige Arzt-Patient-Beziehungen nach dem Stil des informed consent, dem Konzept der geteilten Verantwortung. Der Kranke soll nicht (wie beim „complianceorientierten Behandlungsstil“) in seiner Mitmachbereitschaft, sondern in seiner Mitverantwortung angesprochen werden, indem Vor- und Nachteile der Therapieentscheidungen gemeinsam abgewogen werden und ein Konsens erzielt wird. Partizipative Kooperationsformen (geteilte Verantwortung, shared decision-making, informed consent) in der Arzt-Patient-Beziehung stärken die Selbstverantwortung und die Bewältigung des Patienten und seiner Bezugspersonen. Eine 61-jährige Patientin mit ausgedehnten Tumorrezidiven eines seit über 30 Jahren bestehenden Schweißdrüsenkarzinoms antwortete auf die Frage, was ihr bei der Bewältigung geholfen habe: „Die Qualität und Verlässlichkeit der Behandler, das Ernst-genommen-werden, das offene Sprechen, dass ich feste Ansprechpartner habe und jedes Mal sofort zu den richtigen Ärzten komme.“
Die sozialrechtliche Beratung sollte zumindest bei Patienten mit malignen Melanomen, Plattenepithelkarzinomen, Basalioma terebrans und Sarkomen obligatorischer Teil der Basisunterstützung sein. Die Informiertheit über die sozialrechtlichen Möglichkeiten ist Teil des offenen Umgangs mit der Krankheit und fördert einen aktiven Bewältigungsstil.
Die zusätzlichen Interventionen für Patienten mit Betreuungsbedarf dienen der gezielten Entlastung des Patienten in seinen überschwellig belasteten Dimensionen, das heißt, sie setzen an der tatsächlichen Belastungssituation an und sind für den Kranken spürbar entlastend (siehe Tabelle 3). Bemerkenswert dabei ist, dass die Interventionen zwar dem gezielten Abbau akuter Belastung dienen, gleichzeitig aber auch weitergehende Ziele beinhalten. So zielt zum Beispiel bei mangelnder sozialer Unterstützung die Führung eines Partnergesprächs nicht nur auf die momentane Entlastung des Kranken, sondern auch auf die Stärkung der Partnerbeziehung und die Mobilisierung der familiären Ressourcen.
Das veränderte Körperbild, die Beeinträchtigung des eigenen Selbstwerts und die Verunsicherung im Umgang mit anderen Menschen gehören zu den höchsten Belastungen der Patienten mit Tumoren im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich.
Deshalb sollte bei Patienten mit großen Gesichtsoperationen beziehungsweise gravierenden funktionellen Einschränkungen ein Behandlungsmodul zum Einsatz kommen, das folgende Interventionen beinhaltet:
• präoperative Kontaktaufnahme vonseiten des Psychoonkologen
• präoperativer Besuch der Epithesenabteilung
• Mitbeteiligung des Psychoonkologen an den Aufklärungsgesprächen
• Angebot eines Einzel-, Partner- oder Familiengesprächs
• postoperative Konfrontation mit dem Gesichtsdefekt („erster, zweiter und dritter Blick in den Spiegel“)
• Selbstsicherheitstraining (Gespräch, Rollenspiel oder Übung in Realsituationen)
Einen hervorgehobenen Stellenwert hat die postoperative Konfrontation mit dem Gesichtsdefekt. Es geht darum, den „ersten, zweiten und dritten Blick in den Spiegel“ so zu gestalten, dass Bewältigung möglich wird. Wichtig sind eine sorgfältige Vorbereitung und ein individuell vereinbartes Vorgehen, das flexibel dem Bewältigungsvermögen des Patienten angepasst wird. Für das Gelingen wesentlich sind ein hohes Einfühlungsvermögen und eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Patient und Psychoonkologe. Im geschützten Setting (wie Verbandszimmer) und in Anwesenheit gewünschter Personen (wie Partner, Verbandschwester, Operateur) nähert sich der Patient mithilfe einer schrittweisen Konfrontationstechnik seinem Befund. Da die Tiefe des Defekts (das „Loch im Gesicht“) die größte Belastung darstellt, bietet sich ein stufenweises Vorgehen an, indem zuerst die flächenmäßige Ausbreitung und danach erst die Tiefe des Befunds angeschaut wird. Der Patient bestimmt nach jedem Schritt, ob er noch weiter geht oder nicht.
Bewährt hat sich ein dreistufiges Vorgehen: In einem vorbereitenden Schritt findet eine Annäherung an den Defekt in der Vorstellung des Patienten statt, indem der Psychoonkologe sich zuerst den Befund anschaut und ihn beschreibt. Je nach Gesamtsituation besteht auch die Möglichkeit, den Patienten zu befragen, wie er sich den Befund vorstellt und ihn entsprechend zu bestätigen oder konkreter zu beschreiben.
In einem zweiten Schritt findet die Konfrontation mit der Fläche des Defekts statt. Wenn der Patient sich dazu in der Lage fühlt, kann er mit seinen Fingern die Defektränder abtasten, um eine Vorstellung von der Ausbreitung des Befunds zu bekommen. In jedem Fall soll der Defekt mit Tupfer ausgefüllt werden (um die Tiefe zu bedecken) und der Patient betrachtet je nach Wahl mit einem Hand- oder Wandspiegel die Defektfläche.
Im dritten Schritt findet dann die Konfrontation mit der Tiefe des Defekts, mit dem „Loch im Gesicht“ statt, indem Tupfer für Tupfer entfernt wird und der Patient sich wieder mithilfe eines Wand- oder Handspiegels seinen Befund anschaut. Auch hier bestimmt der Patient, ob er sich einen weiteren Schritt zutraut oder nicht. In der Regel bedarf es einer bis zweier Interventionen zur Konfrontation mit dem Gesichtsdefekt. Anschließend übt der Patient unter Anleitung der Verbandschwester, wie er den Befund selber täglich reinigen und pflegen kann. Wenn er sich dazu nicht in der Lage fühlt, wird – wenn möglich – eine Bezugsperson zur Pflege angeleitet. Wenn beide Möglichkeiten nicht zu realisieren sind, wird ein Pflegedienst beauftragt.
Die Intervention „Selbstsicherheitstraining“ ist ein verhaltenstherapeutischer Ansatz zur Entwicklung und Stärkung eines selbstsicheren Umgangs mit Fragen und Blicken anderer. Zum Grundrepertoire gehören: auf jede Frage eine Antwort geben können, die Beantwortung einer Frage ablehnen können, Nein sagen können, auf neugierige, unbedachte oder verletzende Äußerungen selbstbewusst reagieren können, Kontakt aufnehmen können, öffentliche Beachtung und Kritik ertragen können.
Eine 40-jährige Patientin hatte nach einer mikrochirurgischen Defektdeckung eines Basalioma terebrans auf der Stirnmitte Angst vor neugierigen Fragen von alteingesessenen Dorfbewohnern. Sie wollte nicht peinlich verstummen oder weinen, sondern etwas antworten, ohne sich inhaltlich äußern zu müssen. Nach einer gemeinsamen Suche legte sie sich zwei Sätze zurecht: „Das habe ich mir gedacht, dass Sie mich das fragen werden!“ Und die Umkehrung „Das habe ich mir nicht gedacht, dass Du mir diese Frage stellst.“ Sie berichtete, dass sie mit diesen Sätzen im Alltag gut klar gekommen ist.
Es ist wichtig, dass der Patient versteht, dass soziale Ängste normal sind, dass ihre Überwindung aber entscheidend für eine gelingende Bewältigung ist. Letztlich können sie nur über eine Konfrontationsstrategie überwunden werden.
Man kann dafür den Patienten zwei Regeln an die Hand geben:
Regel 1: „Tun Sie das, was Sie am liebsten vermeiden würden! Damit gehen Sie direkt auf die Angst zu und geben sich die Chance, positive Erfahrungen machen zu können.“
Regel 2: „Machen Sie keine Mutprobe. Das bedeutet, gehen Sie klug vor, fangen mit den leichtesten Übungen an und steigern dann Schritt für Schritt den Schwierigkeitsgrad so, dass Sie von einem Erfolg zum anderen gehen.“
Bei Patienten mit jahrelanger Behandlungsverzögerung (delay) sind aufgrund von Angst und Not der ganzen Familie familientherapeutische Interventionen dringend notwendig. Hintergrund der Behandlungsverzögerung sind neben der Angst vor einer Entstellung (die dann tatsächlich zur Entstellung führt) eine „Problemkommunikation“ in der Familie (dysfunktionales Familien-system). Die Familie wird als „problemdefiniertes System“ gesehen, das mithilfe familientherapeutischer Interventionen (Therapeuten sind „Prozessmoderatoren“) so „in Bewegung“ gebracht wird, dass eine Weiterentwicklung der einzelnen Familienmitglieder sowie der Familie als Ganzes möglich wird. Es findet eine Entpathologisierung des Einzelnen und der Familie statt, Tabus und Geheimnisse werden offen angesprochen, die Kommunikation verbessert, Konflikte und Missverständnisse geklärt, lineare Verursachungen und Schuldzuweisungen aufgelöst, der familiäre Zusammenhalt gestärkt und die familiären Ressourcen geweckt. Letztlich geht es um die Förderung der Entwicklungsfähigkeit jedes Einzelnen und der Familie als Ganzes [Strittmatter, 2010; Schlippe & Schweitzer, 2003].
Die Einbeziehung der wichtigsten Bezugspersonen des Kranken ist ein elementares Gebot der Psychoonkologie. Zum einen braucht der Kranke dringend die Unterstützung seiner Angehörigen, zum anderen sind die Angehörigen selber stark belastet. Der systemische Ansatz ist die logische Konsequenz auf die Überforderung des Kranken und der Angehörigen sowie die Belastung der Gesamtfamilie. Das Ziel dieses Ansatzes ist, die Ressourcen des Bezugssystems zu stärken und die Familie zu befähigen, zu einer konstruktiven Bewältigung zu finden. Gerade auch vor dem Hintergrund der Ressourcenknappheit und der erheblich verkürzten Verweildauern mit der zeitlich verdichteten psychosozialen Not der Kranken ist dieser Ansatz ein zukunftsweisender Lösungsansatz.
Die Grundregel des systemischen Ansatzes lautet: Vonseiten der Behandler muss alles getan werden, um das für den Kranken bedeutsame Bezugssystem zu stützen, und alles vermieden werden, was dieses System zusätzlich belasten könnte!
Das beinhaltet zum Beispiel
• die wichtigsten Angehörigen in die Behandlung mit einzubeziehen,
• keine widersprüchlichen Informationen an die Beteiligten zu geben,
• den Angehörigen nicht mehr Information zu geben als dem Patienten selbst,
• Kranke und Angehörige mit denselben Informationen zu versorgen.
Ein gegenteiliges Vorgehen treibt einen Keil zwischen Patient und Angehörige, belastet das Bezugssystem, bewirkt Distanz statt Nähe und behindert die gemeinsame Bewältigung.
Neben dieser Basisunterstützungg besteht zusätzlicher Interventionsbedarf für familientherapeutische
Interventionen bei Überforderung des Bezugssystems. Indikationen dafür sind:
• Vernachlässigung der Betreuung des Patienten durch die Familie,
• Dekompensation, schwere Angst, Depression oder Suizidabsichten eines Familienmitglieds,
• erhebliche Defizite in den für die Bewältigung drei wichtigsten Dimensionen Kommunikation, emotionaler Zusammenhalt und Konfliktlösung,
• Erhebliche Spannungen zwischen Krankem, Familienmitgliedern und Behandlern.
Es gehört zum Qualitätsstandard psychoonkologischer Betreuung, dass bei entsprechendem Interventionsbedarf den Betroffenen (wichtig sind neben den Partnern die Kinder und Jugendlichen!) ein gemeinsames Gespräch zur informativen Unterstützung und Aufklärung, zur emotionalen Unterstützung der Beteiligten, zur Verbesserung der Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern, zur Klärung von Konflikten und Missverständnissen, zur Förderung des wechselseitigen Verständnisses und der Stärkung des Zusammenhalts und zur Förderung der Entwicklungsfähigkeit des Einzelnen und der Familie angeboten wird. Das gilt insbesondere für die besonders belastete Zeit der Palliativbehandlung [Strittmatter, 2010].
Der systemische Ansatz will einen für die Bewältigung der Betroffenen günstigen Kontext herstellen. Das beinhaltet neben dem Angebot und der Vermittlung psychosozialer und psychoonkologischer Betreuung den Zugang der Patienten zu Selbsthilfegruppen in allen Stadien der Behandlung. Patienten werden als mündige Experten ihres Kontexts, als „Kooperationspartner auf Augenhöhe“ angesehen. Es geht um eine Stärkung der Eigenverantwortlichkeit, eine stärkere Orientierung an den Ressourcen des Patienten und eine Aufwertung der Patientenkompetenz. Diesbezüglich gibt es sehr gute Erfahrungen mit der Selbsthilfegruppe „TULPE e.V.“, dem Bundes-Selbsthilfeverein für Hals-, Kopf- und Gesichtsversehrte.
Dipl.-Psych. Dipl.-Theol. Dr. rer. medic. Gerhard StrittmatterPsychologischer PsychotherapeutKinder- und JugendlichenpsychotherapeutFachklinik HornheideAbteilung für Psychosoziale OnkologieDorbaumstr. 30048157 Münstergerhard.strittmatter@fachklinik-hornheide.de