2. Jahrestagung Deutscher Ethikrat

Eine interaktive Aufgabe

Auf seiner zweiten Jahrestagung widmete sich der Deutsche Ethikrat einem Thema, das eines zweiten Blickes bedarf, zumindest aber einer genauen Erklärung: „Migration und Gesundheit. Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die medizinische Versorgung“ fügt sich nicht selbsterklärend in den „üblichen“ Themenkanon des Deutschen Ethikrates ein. „Anliegen des Ethikrates ist es, das Thema in das breite gesellschaftliche Interesse zu rücken“, erklärte der Ethikrat-Vorsitzende Prof. Edzard Schmidt-Jortzig vor 300 Gästen in Berlin.

Zu Beginn der Veranstaltung stellte Prof. Axel Bauer, Mitglied des Deutschen Ethikrates, klar: Man wolle nicht mit Fachtagungen konkurrieren. Primäres Ziel sei, die Öffentlichkeit für die sehr heterogene Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund und die damit verbundenen ethischen Fragen zu sensibilisieren. Bauer: „Die Idee, das Thema „Migration und Gesundheit“ für die Jahrestagung 2010 vorzuschlagen, lag für mich, als Medizinethiker des Mannheimer Universitätsklinikums, [...] auf der Hand“. Im „melting pot“ Mannheim seien fast 23 Prozent (etwa 327 000 Einwohner) ausländische Staatsbürger – sogar 30 Prozent hätten einen Migrationshintergrund, die Mehrzahl komme aus der Türkei.

Bundesweit leben etwa 15 Millionen Menschen, sprich 20 Prozent der Deutschen mit einem Migrationshintergrund (Kasten). Bei den Kindern unter sechs Jahren ist es im Schnitt bereits ein Drittel, die einen Migrationshintergrund aufweisen – je nach Region unterschiedlich verteilt.

Für den Gesundheitszustand wie für die adäquate Nutzung der zur Verfügung stehenden medizinischen Angebote seien aber weniger die Nationalität oder der Zeitpunkt der Zuwanderung entscheidend. Vielmehr sei es der individuell spezifische sozio-kulturelle Kontext des einzelnen Menschen, der seinen Gesundheitszustand beeinflusst, sagte Bauer.

Grundsätzlich sei es wichtig, den interaktiven Charakter des Themas zu erkennen und in die Überlegungen mit einzubeziehen. Sowohl die Migranten als auch die Beschäftigten im Gesundheitssystem hätten jeweils Interessen und Wünsche. „Die sprachliche und kulturelle Vielfalt, der wir heute sowohl aufseiten der Patienten als auch zunehmend bei Ärzten und Pflegemitarbeitern begegnen, stellt für die Medizin eine zunehmende Herausforderung und – sofern sie gut genutzt wird – eine Bereicherung dar.“

Ein komplexes Problem ...

Staatsministerin Prof. Maria Böhmer, Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration der Bundesregierung zeigte sich erfreut, über die Themenwahl: „Ich bin sehr gespannt, welche Impulse von dieser Tagung ausgehen. [...] Ich würde mir wünschen, dass wir weiter aufeinander zugehen.“

Deutschland verstehe sich als Integrationsland und müsse sich daher besonderen Herausforderungen stellen, auch im Bereich Gesundheit. Böhmer hob die Komplexität des Themas hervor. Das fange schon beim Vergleich der demografischen Entwicklung an.

... verlangt eine detaillierte Analyse

Auch in der Pflege müsse man sich auf einen Anstieg von Menschen mit Migrationshintergrund einstellen: „Bei den mehr als 65-Jahre alten Migranten waren es im Jahr 2005 1,2 Millionen. Im Jahr 2008 wahren es schon 1,4 Millionen.“ In den Migranten-Familien gebe es oftmals noch ein anderes familiäres Verständnis von der Sorge um die älteren Familienmitglieder. Aber auch in dieser Gruppe stoßen die Menschen an Grenzen. Böhmer: „Von daher muss man auch die Gruppe der älteren Migranten besonders in den Blickwinkel nehmen.“ Sie plädierte für eine interkulturelle Öffnung im Bereich der Alterspflege. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen könne man aber nicht per se sagen, dass die migrantische Bevölkerung kränker sei, als die deutsche Bevölkerung. Gerade bei Zuwanderern aus dem Mittelmeerraum sei festzustellen, dass sie durch andere Ernährungsgewohnheiten besser präpariert seien als manche Deutsche. (Stichwort „Kreta-Diät“). Eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten in Deutschland habe dann auch einen Einfluss auf die Gesundheitssituation.

Erster Indikatorenbericht

Böhmer verwies auf den ersten Integrationsindikatorenbericht, den die Bundesregierung 2009 herausgegeben hat. Der Bericht erscheint alle zwei Jahre. Die Daten im Bereich Gesundheit seien gerade bei den Kindern unerfreulich. Böhmer: „Sie sind nicht nur seltener geimpft, sie durchlaufen auch zu einem sehr viel geringeren Teil alle angebotenen Früherkennungsuntersuchungen. Das halte ich für besorgniserregend.“

Dabei gehe es doch darum, „allen, die in unserem Land sind, die notwendige medizinische Hilfe zukommen zu lassen.“ Sie hob die Unverzichtbarkeit einer inter kulturellen Öffnung des Gesundheitswesens und der Förderung interkultureller Kompetenz in den Ausbildungskonzepten der Gesundheitsberufe hervor. Die sei nicht in der notwendigen Tiefe vorhanden. „Ich spreche mich sehr dafür aus, das wir die interkulturelle Kompetenz in den Ausbildungsverordnungen der medizinischen und pflegerischen Berufe verankern. Das muss heute Standard werden“, forderte sie.

Best Practice aus Hannover

Als Vorzeige-Projekt verwies die Staatsministerin exemplarisch auf das bundesweit verbreitete MiMi-Projekt, initiiert vom Ethno-Medizinischen Zentrum in Hannover. (Kasten nächste Seite).

Der bundesweite Arbeitskreis „Migration und öffentliche Gesundheit“ beschäftigt sich auf Regierungsebene mit dem Thema. Folgende Schwerpunkte stehen im Vordergrund:

• Gesundheitsberichterstattung

- Datenlage verbessern

• Kinder- und Jugendgesundheit

- gezielte Angebote für Migranten-Mütter entwickeln

• interkulturelle Öffnung des Gesundheitswesens

- Migranten sollen den Zugang zum Gesundheitswesen erhalten

- Ärzte müssen ihrer Aufklärungspflicht nachkommen

Zum letzten Punkt hat der Arbeitskreis für Migration und öffentliche Gesundheit Empfehlungen erarbeitet. Noch in diesem Jahr wolle die Regierung ein Anerkennungsgesetz für im Ausland erworbene Abschlüsse auf den Weg bringen. „Das schließt selbstverständlich diejenigen ein, die im medizinischen und im Pflegebereich einen im Ausland erworbenen Abschluss besitzen“, erklärte Böhmer.

Dünne Datenlage

Prof. Oliver Razum, Leiter der Abteilung Epidemiologie und International Public Health an der Uni Bielefeld thematisierte in seinem Vortrag die unzureichende Datenlage bei der Gesundheitsberichterstattung über Migranten. Seine Erklärung: „Die Gesundheitsberichterstattung unterliegt methodischen Einschränkungen und ist dadurch nicht migrantensensibel.“ Meist würden Routine- und Verwaltungsdaten zusammengeführt. Da Migranten aber vergleichsweise wenig zu Routineuntersuchungen gehen, werden sie auch statistisch weniger erfasst.

Neben der Problematik der mangelnden Daten wurden rechtliche Probleme im Arzt-Patienten-Verhältnis sowie die Gesundheit von Migranten aus sozialethischer und politischer Perspektive beleuchtet, darunter auch die Frage, inwieweit spezielle Regelungen für Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis etabliert werden sollten. Konkret wurde erörtert, wie eine kultursensible Medizin und Medizinethik aussehen sollte, welche Konsequenzen sich daraus für die Verbesserung der medizinischen Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund ergeben. Denn das Verständnis von Gesundheit und Krankheit sei kulturell unterschiedlich geprägt. Dies habe Auswirkungen auf Therapieentscheidungen und Gesundheitsverhalten.

In den Redebeiträgen wurde eins deutlich: Aufgrund der großen Heterogenität der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund greifen stereotype Vorstellungen nicht. Ein differenzierter Umgang mit diesem Phänomen ermögliche dagegen erst, den Menschen in seiner Individualität wahrzunehmen und nicht auf seine Migrationsbiografie zu reduzieren.

Bringschuld vs. Selbstsorge

Vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses von Solidarität und Eigenverantwortung wurden strukturelle Veränderungen eingefordert. So bestehe einerseits die Pflicht zur Selbstsorge, andererseits eine Bringschuld des Versorgungssystems. Dazu gehöre auch, den Einsatz von professionellen Dolmetschern in Kliniken und Arztpraxen zu verstärken, um sprachliche Barrieren abzubauen. Zu den Dolmetscherkosten erklärte Staatsministerin Böhmer: „Ich meine, es muss verankert sein bei den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt, so dass hier Hilfe nicht scheitert an mangelnden Verständigungsmöglichkeiten.“ 

www.ethikrat.orgwww.mimi-online.bkk-bv-gesundheit.de

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