Selbstverpflichtende Prinzipienethik hat hohe Praxisrelevanz

Patientenautonomie als Norm

Dass ärztliche Aufklärung aufgrund der Wissensasymmetrie zwischen Behandler und Patient in paternalistischer Art erfolgen darf, gilt in Zeiten des „mündigen Patienten“ nur noch als Relikt längst vergangener Zeiten. Patientenautonomie fusst auf klar definierten Prinzipien, deren Grundlagen für den Zahnarzt verpflichtend und keineswegs frei interpretierbar sind, erklärt Dr. Peter Weißhaupt, M. Sc., Mitglied im Vorstand des Arbeitskreises Ethik der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde.

Ärzte berufen sich auf einen allgemein verbindlichen ethischen Wertekodex, der seine Wurzeln im hippokratischen Eid, in der Genfer Deklaration sowie in der Mitte der 70er-Jahre von Beauchamp und Childress formulierten Prinzipienethik findet. Die amerikanische Prinzipienethik gilt heute als weltweit akzeptierte Moraltheorie für die Medizin, da sie versucht, trotz aller Wertepluralität für die meisten Menschen akzeptabel zu sein. Dazu greift sie auf vier moralische Prinzipien zurück, über deren Geltung erfahrungsgemäß ein großes Maß an Einverständnis für medizin-ethische Diskussionen hergestellt werden kann, in denen trotz unterschiedlicher Grundorientierung ein Konsens erzielt werden muss. Dies sind die Prinzipien

• des Wohltuns (Beneficence),

• des Nichtschadens (Nonmaleficence),

• der Autonomie (Respect for Autonomy),

• sowie der persönlichen und sozialen Gerechtigkeit (Justice).

Insofern sich Zahnärzte als Ärzte verstehen und ihre Profession nicht auf eine angebotsbeziehungsweise verkaufsorientierte Dienstleistung reduziert wissen wollen, gelten diese medizin-ethischen Prinzipien auch für die Zahnmedizin als moralisch verpflichtend.

Zudem sind sie praxistauglich und zielführend, insbesondere mit Blick auf die Kommunikation von Diagnose, Therapieplan, Therapierisiken sowie Therapiealternativen und Prognosen. Indem der Patient über diese Aspekte aufgeklärt wird, sollen ihm Art, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs grundsätzlich erkennbar gemacht werden, damit er eigenverantwortlich im Rahmen seines Selbstbestimmungsrechts entscheiden kann, ob der geplante Eingriff durchgeführt werden soll oder nicht. Der (zahn-)ärztlichen Verpflichtung zur Wahrung der Patientenautonomie gilt daher das Ansinnen dieses Beitrags.

Der Patient darf sich zu keinem Zeitpunkt zu einer bestimmten Therapieentscheidung gedrängt sehen, obschon es bei vorliegenden Befunden unterschiedliche Behandlungsempfehlungen und Prognose-Einschätzungen geben kann.

Der aufgeklärte Patient

Dies sei am Fallbeispiel einer 59-jährigen Patientin verdeutlicht, die sich – mit zwei ästhetisch und funktionell nicht beeinträchtigenden Seitenzahnlücken im Unterkiefer – in die Klinik begab, nachdem sie aufgrund stark differierender Therapievorschläge von verschiedenen Zahnärzten erheblich verunsichert war (Staehle, zm 7/2010).

Aus Sicht der Patientin bestanden keine ästhetischen und kaufunktionellen Beeinträchtigungen; demgegenüber waren jedoch Empfehlungen ausgesprochen worden, sich dringend rechtzeitig implantologisch behandeln zu lassen, „bevor es zu spät“ sei. Die Patientin gab daher an, falls eine medizinische Notwendigkeit bestehe, bereit und auch in der Lage zu sein, die Kosten einer umfangreichen implantologischprothetischen Intervention zu tragen. Durch Prof. Staehle wurde ihr nach umfassender Diagnostik aufgrund der günstigen Prognose geraten, von entsprechenden Therapievorschlägen eher Abstand zu nehmen und stattdessen zum Erhalt der stabil erscheinenden Gebiss-Situation von regelmäßigen Verlaufskontrollen Gebrauch zu machen.

Es drängt sich somit die Frage auf, wie und nach welchen – offensichtlich unterschiedlichen – Kriterien die Patientin bisher aufgeklärt und beraten worden war.

Die Auffassung, der (Zahn-)Arzt als Wissender sei der beste Anwalt des Patienteninteresses, weil dieser ohnedies nicht verstünde, was zu seinem Wohle angeordnet wird, ist als traditioneller Paternalismus in heutigen Zeiten der Informationsfreiheit sowie mündiger und aufgeklärter Patienten obsolet.

Zentraler Punkt zahnärztlich-ethischer Diskussionsnotwenigkeit ist daher die verbreitete Auffassung über eine vermeintlich freie, beliebige Interpretationsmöglichkeit des Begriffs der Patientenautonomie. Diese ist jedoch mitnichten frei interpretierbar, noch flexibilisierbar, noch ist sie individuellen Konzepten, Tätigkeitsschwerpunkten oder ökonomischen Überlegungen des Praxisinhabers, oder sich wandelnden gesellschaftlichen Strömungen nachzuordnen.

Das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung des Patienten in der medizinischen Versorgung folgt aus dem durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, Art. 2 Abs. 1 GG die freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 2 GG das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie Art. 104 Abs. 1 GG das Recht auf Schutz seelischer und körperlicher Unversehrtheit.

Das Gebot zur Wahrung der Patientenautonomie beinhaltet die Verpflichtung, die Fähigkeit des Patienten zu selbstbestimmten Entscheidungen anzuerkennen und zu fördern. Das Prinzip schließt das Verbot ein, eigene Entscheidungen von selbstbestimmten Patienten zu behindern oder zu über gehen. Zudem beinhaltet der Respekt vor der Autonomie das Gebot, Patienten in die Lage zu versetzen, wirklich selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können.

So müssen Patienten über ihre Diagnose, Therapiealternativen und Prognosen auf geklärt werden, um sich sinnvoll erklären zu können, was sie wollen, oder nicht wollen. Es handelt sich hier um Spezifizierungen des (zunächst abstrakt erscheinenden) Autonomieprinzips, das heißt Anreicherungen mit kontextspezifischen Inhalten und Regeln. Darüber hinaus enthalten die Regeln konkrete Ausführungsbestimmungen. Für die Regel der informierten Einwilligung wären dies zum Beispiel Standards der Aufklärung, Kriterien der Einwilligungs fähigkeit, et cetera.

Die Auffassung, der (Zahn-)Arzt als Wissender sei der beste Anwalt des Patienteninteresses, weil dieser ohnedies nicht verstünde, was zu seinem Wohle angeordnet wird, ist als traditioneller Paternalismus in heutigen Zeiten der Informationsfreiheit sowie mündiger und aufgeklärter Patienten obsolet.

„Informationsasymmetrie“ und auch der „subjektive Patientenwunsch“ können daher nur Ausgangsmomente einer Beratungssituation sein (die in der Folge zu einer selbstbestimmten – weil aufgeklärten – Patientenentscheidung führen kann), jedoch nicht als Begründung dafür herhalten, den Patienten in eine vom Behandler gewollte Entscheidungs-Findung zu führen. „Angebotsorientierung“, „anbieter-induzierte Nachfrage“ oder auch „zielgerichtete Beratungsgespräche“ im Sinne einer „Nachfragesteuerung“ sind daher synonym und symptomatisch für eine am Behandlerinteresse ausgerichtete – jedoch nicht die Patientenautonomie wahrende – Gesprächsführung.

Kein „Gummiparagraph“

Die Pflicht zur Wahrung der Patientenautonomie ist kein „Gummiparagraph“, sondern ein Prinzip ärztlicher Selbstverpflichtung, das durch spezifizierende Regeln und Ausführungsbestimmungen in Aussage und Intention eindeutige und zielführende Vorgaben definiert. Trotz – oder gerade aufgrund – der Beachtung dieses Prinzips kann es zu unterschiedlichen Therapieansätzen und prognostischen Einschätzungen kommen, die jedoch für den Patienten nicht mit einer alleinstellenden, noch dazu vermeintlich dringlichen Behandlungsempfehlung verbunden sein dürfen.

Als Folgen unterbliebener Aufklärung können den Zahnarzt zudem strafrechtliche Konsequenzen treffen: Nach herrschender Auffassung ist jeder ärzt liche Heileingriff tatbestandlich eine Körperverletzung, die durch die Einwilligung des Patienten nach ordnungs gemäßer Aufklärung gerechtfertigt ist.

Fehlt es an dieser Aufklärung, kommt eine strafrechtliche Haftung des Zahnarztes wegen Körperverletzung in Betracht, wenn zusätzlich noch Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) gegeben waren.

Der Respekt vor der Patientenautonomie erweist sich somit als ethisches Handlungsprinzip mit sehr konkretem Bezug zum Versorgungsalltag. Die Beachtung dieses Prinzips dient nicht nur dem Schutz des Patienten, sondern bewahrt den Zahnarzt auch vor juristischen Anfechtungen und führt vor allem zu einer nachhaltig gelingenden Arzt-Patienten-Beziehung.

Abschließend sei die Frage in den Raum gestellt, welches Bild über unseren Berufsstand die ge neigte Öffentlichkeit respektive Patientenschaft vermittelt bekommt, so sie sich regelmäßig aufgrund einer Diagnose mit derart kontroversen Befundinterpretationen, Therapieempfehlungen und Prognose-Einschätzungen, wie oben ausgeführt, konfrontiert sieht. Wenn ein in wesentlichen Fragen einheitlicher und berechenbarer Außenauftritt unserer Profession ein standespolitisches Ziel sein soll, so gilt es, zunächst über das Prinzip der Patientenautonomie einen verbindlichen Konsens zu erzielen.

Dr. Peter Weißhaupt, IserlohnMaster of Science in Oral ImplantologyMitglied im Vorstand des Arbeitskreises Ethikder DGZMK

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