Osteochondrom des rechten Processus condylaris
Ein 49-jähriger, ansonsten gesunder Patient, wurde von seinem Hauszahnarzt überwiesen zur Abklärung einer unklaren Raumforderung im Bereich des rechten Kiefergelenks (Abbildung 1).
Die klinische Untersuchung zeigte eine Gesichtsasymmetrie mit deutlicher Deviation des Unterkiefers nach links mit lateralem Kreuzbiss links und eine Mittellinienverlagerung von über 10 mm im Schlussbiss. Bei maximaler Mundöffnung (SKD 45 mm) war die Mittellinienverlagerung nicht so stark ausgeprägt (Abbildung 2). Bei manueller Führung in die Retralposition lag eine schmerzhafte Blockade des rechten Kiefergelenks vor, eine Laterotrusion nach rechts war nicht möglich. Anamnestisch war dem Patienten der Fehlbiss vor drei Monaten zum ersten Mal aufgefallen. In den letzten 14 Tagen hatte er zunehmende Beschwerden im rechten Kiefergelenk beim Mundschluss bemerkt. Ein adäquates Trauma beziehungsweise eine andere Affektion der Gelenkregion ließen sich nicht eruieren. Sowohl in der alio loco angefertigten Panoramaschichtaufnahme als auch in der durch uns initiierten DVT-Untersuchung zeigte sich eine etwa 2 cm x 2 cm x 2,5 cm große, knochendichte, exophytisch wachsende Raumforderung, die dem rechten Capitulum colli anterior aufsaß und zu einer fixierten Luxation aus dem rechten Kiefergelenk führte (Abbildungen 3 bis 5). Über einen extraoralen Zugang wurde das polypoid gestaltete Gewebsstück, das breitbasig (circa 1,5 cm) knöchern gestielt war und einen knorpeligen Überzug aufwies, problemlos gelenkerhaltend entfernt (Abbildung 6). Die pathohistologische Aufarbeitung des Resektats ergab ein Osteochondrom des Processus condylaris mit gleichmäßig aufgebautem Knochengewebe mit Übergang in Knorpelgewebe ohne Anhalt für Malignität (Abbildung 7). Eine postoperative Kontroll-DVT-Untersuchung zeigte eine gute Rekonturierung des Gelenkköpfchens mit deutlich verbesserter Postionierung in der Gelenkpfanne (Abbildung 8). Im Folgenden kam es zu einem Rückgang der Beschwerdesymptomatik mit einem verbesserten, nicht mehr schmerzhaft eingeschränkten Bewegungsumfang des Unterkiefers. Die Unterkieferfehlstellung in Ruhelage war zwar direkt postoperativ noch verblieben, bildete sich im weiteren Verlauf jedoch kontinuierlich zurück. Eine Kontrolluntersuchung drei Monate postoperativ zeigte eine noch bestehende Mittellinienverlagerung von etwa 5 mm im Schlussbiss. Bei maximaler Mundöffnung zeigte sich die Mittellinienverlagerung als fast korrigiert (Abbildung 9). Radiologisch ergab sich kein Hinweis auf ein Rezidiv. Weitere Kontrolluntersuchungen sind geplant, wobei eine weitere Verbessung des Fehlbisses erwartet wird.
Diskussion
Primäre mesenchymale Tumore des Kiefergelenks stellen eine seltene Entität dar. An benignen Varianten werden Exostosen und Osteome, Chondrome, Osteochondrome, Osteoidosteome, reparative Riesenzellgranulome, Hämangiome und eosinophile Granulome beschrieben.
Osteochondrome, auch als osteokartilaginäre Exostosen bezeichnet, gehören zu den häufigsten gutartigen Tumoren des Achsenskeletts, wo sie 35 bis 50 Prozent aller gutartigen Knochentumore ausmachen. Eine Erklärung für die Prädilektionsstellen könnte in der Histopathogenese dieser Entität liegen. Obwohl Osteochondrome in der Regel vor allem knöcherne Gewebeanteile besitzen, liegt hier eine pathologische progressive enchondrale Ossifikation vor; diesem Entstehungsmechanismus unterliegen physiologischerweise zum Beispiel die langen Röhrenknochen des Achsenskeletts. Da die Gesichtsschädelknochen vor allem durch desmale Ossifikation entstehen, treten Osteochondrome im Gesichtsskelett sehr selten auf [8; 2]. Diese Ausnahmen betreffen häufig den Processus coronoideus des Unterkiefers, da er embryonal knorpeligen Ursprungs ist [7; 9]. Osteochondrome des Processus condylaris sind extrem selten [3; 5]. Als weitere sehr seltene Manifestationsorte von Osteochondromen im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich wurden Schädelbasis, posteriore Maxilla, Sinus maxillaris, Ramus und Corpus mandibulae sowie die Unterkiefersymphyse beschrieben [4].
Wie bereits oben erwähnt, unterscheiden sich Osteochondrome von den reinen Exostosen durch das Vorhandensein knorpeliger Anteile, wobei die Differenzierung zu anderen gemischt knöchern-knorpeligen Entitäten oft schwer fällt. Charakteristischerweise zeigt sich exophytisch wachsendes Knochengewebe, das von einer hyalinen Knorpelschicht bedeckt ist. Bezüglich der Pathogenese werden unterschiedliche Mechanismen diskutiert, sei es rein entwicklungsbedingt, neoplastisch oder reaktiv/ reparativ. Zum einen kann eine metaplastische Veränderung des Periosts und/oder der knorpeligen Bedeckung des Kondylus mit gesteigerter Knorpelproduktion und konsekutiver Verknöcherung in Frage kommen [6], zum anderen könnten Traumata und/oder Entzündungsreaktionen Auslöser einer Osteochondromentstehung oder Katalysator einer Progression sein [3; 5]. Im gesamten Skelettsystem wird die Entartungsrate mit einem Prozent für singuläre Prozesse und mit rund zehn Prozent bei multiplen Osteochondromen angegeben. Eine maligne Entartung eines Osteochondroms des Kiefergelenks wurde noch nicht beobachtet. Die generelle Rezdivrate beträgt etwa zwei Prozent, bis dato wurde über ein Rezidiv eines Osteochondroms des Processus condylaris berichtet [1].
Zur charakteristischen Symptomatik eines Osteochondroms des Processus condylaris gehören eine Gesichtsasymmetrie, lokalisierte oder ausstrahlende Schmerzen variierender Intensität, Knackgeräusche oder Krepitationen, eine eingeschränkte Unterkieferbeweglichkeit mit Mundöffnungsbehinderungen und Okklusionsstörungen (in der Regel ipsilateraler posterior offener Biss und kontralateraler Kreuzbiss). Diese Symptome können klassische Gelenkbeschwerden (TMD) imitieren. Bedingt durch das eher langsame Wachstumsverhalten treten die Symptome in der Regel protrahiert auf.
Auch bei dem hier vorgestellten Kasus führten Gesichtsasymmetrie und Okklusionsstörungen zur gezielten weiteren Diagnostik. Therapie der Wahl ist die Resektion des Befunds. Hierbei ist bei ungünstiger Position des Tumors unter Umständen eine komplette Kondylektomie mit folgender autologer oder alloplastischer Rekonstruktion erforderlich. In dem hier beschriebenen Fall ließ der gestielte, klar abtrennbare Prozess eine kondyluserhaltende Operation zu.
Dr. Dr. Marcus Oliver KleinKeyvan SaghebDr. Dr. Christian WalterProf. Dr. Dr. Wilfried WagnerKlinik für Mund-, Kiefer-, und GesichtschirurgieJohannes Gutenberg-Universität MainzAugustusplatz 255131 MainzWalter@mkg.klinik.uni-mainz.de