Netzwerken hilft
In Deutschland leben rund vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung. Europaweit sind es schätzungsweise 27 bis 36 Millionen. Genauer lässt sich ihre Zahl nicht beziffern, da bislang nicht alle seltenen Erkrankungen medizinisch erforscht und erfasst sind. Als selten gilt eine Krankheit, wenn weniger als einer von 2 000 Menschen von ihr betroffen ist.
Die meisten dieser Krankheiten sind genetischen Ursprungs und gelten als nicht heilbar. Obwohl Krankheitsanzeichen schon bei der Geburt oder in Kindheitsjahren erkennbar sein können, treten über die Hälfte der seltenen Krankheiten erst im Erwachsenenalter auf. Sie sind häufig lebensbedrohlich oder führen zu chronischer Invalidität. Für die meisten dieser Krankheiten gibt es überdies in der Regel keine wirksamen Behandlungsmöglichkeiten. Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung sowie eine angemessene Pflege können jedoch dazu beitragen, die Lebensqualität und die Lebenserwartung der Patienten zu verbessern.
Zu den bekannteren seltenen Erkrankungen gehören die Lungenkrankheit Mukoviszidose, die Glasknochenkrankheit, Muskeldystrophien, genetisch bedingte Stoffwechselstörungen oder angeborene Störungen der Blutbildung.
Da die Patientenzahlen bei den einzelnen Leiden in der Regel klein sind, mangelt es in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern an Spezialisten und an spezialisierten Einrichtungen für die Behandlung der Betroffenen. Die Folge ist eine mitunter jahrelange Odyssee von Arzt zu Arzt, bis die richtige Diagnose gestellt wird. „Vielen Ärzten fehlt das Bewusstsein, dass der Patient an einer seltenen Erkrankung leiden könnte“, so Dr. Christine Mundlos von der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE), einem deutschen Netzwerk von Patientenorganisationen.
Falschdiagnosen
Bei rund 40 Prozent der Betroffenen werde mindestens eine Falschdiagnose gestellt, bis feststeht, woran sie tatsächlich leiden. Im Schnitt dauert es sieben Jahre bis zur korrekten Diagnose. „Das ist für die Patienten sehr frustrierend“, so Mundlos.
Da seltene Krankheiten für die öffentliche Gesundheit ein ernstes Problem darstellen, gehören sie zu den Prioritäten der Gesundheits- und Forschungsprogramme der EU. Ein EU-weit gültiges Gesetz soll beispielsweise die Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Krankheiten, sogenannte Orphan- Drugs, voranbringen. Auch fördert die Gemeinschaft Forschungs- und Entwicklungsprojekte in diesem Bereich. Beispiel hierfür ist das EU-Expertennetzwerk zu Mukoviszidose unter der Federführung des Frankfurter Uniklinikums (ECORN-CF), das im Oktober 2007 an den Start ging.
Im Rahmen des Netzwerks tauschen Experten in Europa auf einer qualitätsgesicherten Grundlage Informationen über die Krankheit sowie deren Diagnose- und Therapieoptionen aus. „Indem sie auf diese Weise ihr Wissen auf die Reise schicken, kann dem Patienten der Besuch eines Zentrums im Ausland erspart bleiben“, erklärt Prof. Dr. Thomas Wagner, Leiter der Abteilung für Pneumologie, Allergologie und Mukoviszidose an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt.
Vorbild
ECORN-CF könnte zum Vorbild für eine engere EU-weite Zusammenarbeit zwischen Experten auch für andere seltene Erkrankungen werden. Immerhin will die Gemeinschaft den Zusammenschluss von nationalen Fachzentren zu sogenannten europäischen Referenznetzen auf freiwilliger Basis fördern. So sieht es die neue EU-Richtlinie für die Rechte der Patienten bei Auslandsbehandlungen vor.
Das entsprechende Fachwissen über die einzelnen Erkrankungen soll mithilfe elektronischer Tools EU-weit zwischen Fach- und Hausärzten sowie spezialisierten Einrichtungen verbreitet werden. EU-Gesundheitskommissar John Dalli hofft, dass die Betroffenen dadurch schneller Zugang zu einer korrekten Diagnosestellung und zu möglichen Therapien erhalten.
Voraussetzung hierfür ist, dass die EU-Staaten bis Ende 2013 Strategien entwickeln, um die Versorgung der Patienten vor Ort gewährleisten zu können. Noch gibt es erst wenige solcher nationalen Aktionspläne.
Erste Bemühungen des in Deutschland im März 2010 gegründeten Nationalen Aktionsbündnisses für seltene Erkrankungen (NAMSE) weisen nach Ansicht von Mirjam Mann, Geschäftsführerin bei ACHSE, indessen in die richtige Richtung. „Wichtig ist eine systematische Herangehensweise an das Thema und eine Vernetzung aller Beteiligten.“ Nur so sei es möglich, auch im föderalen deutschen Gesundheitssystem eine bedarfsgerechte Versorgung für Patienten mit seltenen Krankheiten anzubieten.
Petra SpielbergChristian-Gau-Str. 2450933 Köln
Zum Netzwerk ACHSE siehe auch den Bericht in den zm 11/2010, S. 26-28.