Alters- und Behindertenzahnheilkunde

Packen wir es an

sg
Auch vor Deutschland hat der demografische Wandel keinen Halt gemacht. Viele Bereiche des täglichen Lebens haben sich bereits auf die alternde Gesellschaft eingerichtet, sodass sich auch die Zahnmediziner der Betreuung von Senioren nicht mehr verschließen können. Eine Einschätzung von Prof. Ina Nitschke, Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik, Universität Leipzig.

Die Senioren, die zwischen 60 und über 100 Jahren mehr als vier Jahrzehnte Altersunterschied aufweisen, fordern aufgrund ihrer Heterogenität von den Zahnmedizinern und deren zahnmedizinischen Teams neben den zahnärztlichen manuellen Fertigkeiten auch geriatrisches sowie gerontologisches Wissen. Wünschenswert ist, dass sich im Gebiet der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde die Fachrichtung Seniorenzahnmedizin weiter etabliert, so dass flächendeckend ein kompetenter Ansprechpartner für andere Fachrichtungen vorhanden wäre.

Wenn Zahnmediziner ältere Menschen in ihrer Praxis willkommen heißen wollen, sollten sie sich nicht nur den Erkrankungen des stomatognathen Systems widmen. Seniorengerechte Praxen erfordern ein spezielles Wissen zur Heterogenität der Patientengruppe, um den gerostomatologischen Wohlfühlfaktor der Praxis zu steigern. Neben einigen Ausstattungsmerkmalen und Hilfsmitteln ist besonders der Umgang mit den älteren Menschen zu trainieren. Die Einschätzung der physischen und kognitiven Leistungsfähigkeit sollte bewusst von den Teammitgliedern erfolgen, sodass die Therapieplanung und die Behandlung erfolgreich verlaufen können. Die zahnärztliche Behandlung von Älteren wandelt sich mit zunehmender Gebrechlichkeit der Patienten in eine zahnmedizinische Betreuung.

Fachgebiet Seniorenzahnmedizin

Die Seniorenzahnmedizin wird bisher nur von einem Teil der Kolleginnen und Kollegen als ein spezielles Fachgebiet wahrgenommen. Viele Zahnärzte meinen, dass sie ältere Patienten schon immer in der Praxis behandelt haben. Dabei übersehen diese Zahnärzte, dass sie nur die älteren Patienten betreut haben, die die Praxen aufsuchen konnten. Die anderen Älteren, die nicht mehr gekommen sind, fallen selten auf. Spezialisiert fortgebildete Gerostomatologen wissen, dass nicht jeder ältere Patient, der seinen regelmäßigen Kontrolltermin nicht wahrgenommen hat, verstorben ist. Zunehmende Gebrechlichkeit, Krankenhausaufenthalte, Tod des Ehepartners oder Kinder, oder auch der Umzug in ein Altersheim können Gründe sein, den eigenen Zahnarztbesuch aus den Augen zu verlieren. Das gerostomatologisch geschulte Team ist gefragt, Strukturen innerhalb der Praxis zu schaffen, um diese Patienten wieder für die zahnmedizinische Betreuung zu interessieren. Zurzeit wird die zahnmedizinische Versorgung der ambulant und stationär Pflegebedürftigen nicht ausreichend strukturiert vorgehalten.

Probleme der Behandlung

Folgende Erschwernisse sind bei der Behandlung von Pflegebedürftigen festzustellen:

• schwierige Patienten im zahnärztlichen Therapieentscheidungsprozess• zahnärztlich schwierig zu behandelnde Patienten, kaum vorhersehbare Behandlungssituationen aufgrund von Multimorbidität und Multimedikation• zahnärztliche Behandlung ist manchmal aufgrund eingeschränkter Kooperation nur unter Intubationsnarkose möglich• Patient ist oft nicht der Entscheidungsträger, Zahnarzt muss mit Angehörigen und Pflegepersonal kommunizieren.• Behandlungen mit einem höheren Zeitaufwand für Zahnarzt und Personal• Mehraufwand für die mobile Ausstattung• Mehraufwand für die zahnmedizinischen Fachangestellten• keine Finanzierung des Mehraufwandes durch GKV/PKV• zahnärztlich präventive Leistungen werden nicht bezahlt, obwohl viele Pflegebedürftige aufgrund ihrer Multimorbidität nicht in der Lage sind, eigenverantwortlich für ihre Mundhygiene zu sorgen• Leistungskatalog der GKV entspricht nicht ausreichend den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen

Eine adäquate zahnmedizinische Versorgung von ambulant und stationär Pflegebedürftigen ist durch das Fehlen tragfähiger gesundheitspolitischer Konzepte nicht gewährleistet. Die zunehmende Zahl von Menschen mit Pflegebedürftigkeit verschärft den Handlungsdruck in unserer Gesellschaft. Pflegebedürftige brauchen eine kompetente medizinische Versorgung, die auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist. Um dem grundgesetzlichen Auftrag, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf (Artikel 3 Abs. 3 GG), Geltung zu verschaffen, ist das medizinische Versorgungssystem so weiter zu entwickeln, dass Pflegebedürftigen eine ihren Bedürfnissen angepasste, gleichwertige medizinische Versorgung wie der übrigen Bevölkerung garantiert wird.

Lösungsansätze

Um eine gute Mundgesundheit der Hilfeund Pflegebedürftigen sicher zu stellen, gibt es folgende Angriffspunkte:

• Sicherstellung einer zahnmedizinischen Betreuung für Pflegebedürftige

Die erforderlichen Maßnahmen im Bereich der Individualprophylaxe sowie der zahnärztlichen Behandlung und der zahnmedizinischen aufsuchenden Betreuung werden im Konzept der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), der wissenschaftlichen Verbände, und zwar der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin (DGAZ) und des Bereiches Behindertenzahnmedizin im Bund der Deutschen Oralchirurgen (BDO) zusammengefasst.

Mundgesundheit in der Aus- und Weiterbildung von Alten- und Krankenpflege

Mit den heutigen Ausbildungsrahmenplänen könnte jeder Lehrende in Krankenpflege- oder Altenpflegeschulen Themen im Bereich der Mundgesundheit unterrichten. Die Realität zeigt jedoch, dass die Lehrenden selbst oft wenig über Mundgesundheit wissen. Es ist festzuhalten, dass Themen zur Mundgesundheit in jedem Ausbildungsjahr theoretisch und praktisch zu lehren sind. Die Deutsche Gesellschaft für AlterszahnMedizin (DGAZ) ist dabei, ein strukturiertes Ausbildungsprogramm umzusetzen.

Senioren als Thema in der zahnärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung

Ausbildung:Nach der derzeit gültigen Approbationsordnung von 1955 besteht keine Verpflichtung der Hochschulen, das Fach Seniorenzahnmedizin zu lehren. Dennoch unterrichten zwölf von 30 Universitäten das Fach teilweise theoretisch, teilweise praktisch, sowie auch vier Universitäten praktisch und theoretisch. Die Studierenden sollten auf die speziellen Aspekte der älteren, sehr heterogenen Patientengruppe im Studium vorbereitet werden. Dies würde helfen, Zahnärzten einen besseren Zugang zur Pflegesituation zu ermöglichen.

Fortbildung:Zahnmediziner, die Senioren in ihrer Praxis behandeln, sollten spezifische Kenntnisse auf dem Gebiet der Seniorenzahnmedizin erwerben. Neben dem Wissen in der Geriatrie sind Kenntnisse aus der Pflege-, Ernährungs- und Gesundheitswissenschaft sowie der Versorgungsforschung zu erwerben. Konsiltätigkeit setzt Kenntnisse über Pflegestufen und zur Pflegesituation älterer Menschen voraus. Auch sollten ethische und juristische Fragen Berücksichtigung finden. Die Therapieentscheidung und das Gewinnen älterer Patienten für eine partizipative Therapieentscheidung, insbesondere auch unter Einbeziehung von Dritten wie Angehörige, Pflegekräfte oder gerichtlich bestellte Betreuer, sind zu erlernen.

Einbindung des medizinischen Dienstes

Dem medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) sollte es ein Anliegen sein, die Mundgesundheit und die zahnmedizinische Betreuungsstruktur in den Senioreneinrichtungen und bei den ambulanten Pflegediensten festzustellen sowie zu bewerten. Das Vorhandensein zahnmedizinischer Bonushefte und die Organisation einer zahnärztlichen Reihenuntersuchung mit freiwilliger Teilnahmemöglichkeit für die Pflegebedürftigen könnte zur Qualitätssicherung herausgezogen werden. Der MDK sollte als Qualitätsmerkmal feststellen, ob die Pflegeeinrichtungen zahnmedizinisches Problembewusstsein entwickelt und eine zahnmedizinische Versorgungsschiene für die Anvertrauten organisiert haben.

Einbeziehen der zahnmedizinischen Versorgung in die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger MenschenGerostomatologen sollten auf der Ebene der Garanten der Charta der Rechte von hilfeund pflegebedürftigen Menschen dafür werben, dass die zahnmedizinischen Aspekte Berücksichtigung finden.

Gute Kooperation mit den Hausärzten

Eine gute Kooperation zwischen Haus- und Zahnarzt unterstützt, dass auch die älteren Patienten unabhängig von ihrer Gebrechlichkeit zur Inanspruchnahme zahnärztlicher Betreuung vom Hausarzt motiviert werden und daher einen besseren, kontinuierlichen Zugang zu einer hohen mundbezogenen Lebensqualität besitzen.

Aussicht

Die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Zahnärzten sowie deren Teams, die Verbesserung des Wissens zur Mundgesundheit der Pflegekräfte, die Entwicklung von praxisunabhängigen Versorgungsstrukturen mit den Gesundheitspolitikern und Verbänden sowie der Aufbau von Kooperation mit den medizinischen Kollegen werden die Zahnärzte in den nächsten Jahren fordern. Es wäre begrüßenswert, wenn sich die Zahnärzteschaft dieser wichtigen Aufgabe auch weiterhin intensiv widmen würde. Es gibt in der Seniorenzahnmedizin viel zu tun, packen wir es gemeinsam an.

Prof. Dr. Ina Nitschke MPHPoliklinik für Zahnärztliche Prothetikund WerkstoffkundeUniversitätsklinikum LeipzigEmail:ina.nitschke@medizin.uni-leipzig.de

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.