Loyalitätskonflikte in der Gemeinschaftspraxis
Die Zahnärztin Dr. DG und der Zahnarzt Dr. KH führen seit rund zehn Jahren eine Gemeinschaftspraxis. DG und KH haben bereits miteinander studiert und stehen in einem guten persönlichen Einvernehmen, entwickeln sich allerdings fachlich zunehmend auseinander.
KH ist sehr fortbildungsorientiert, nimmt an den Wochenenden häufig an APW-Kursen teil und integriert regelmäßig neue Behandlungskonzepte, während DG ihre Wochenenden vorzugsweise privat verbringt und die nach dem Staatsexamen eingeschlagenen Diagnose- und Therapiepfade kaum verlässt.
DG verbindet eine private Freundschaft mit der in der gemeinsamen Praxis tätigen Zahnmedizinischen Fachangestellten (ZMF) HG – diese Freundschaft hat dazu geführt, dass mit den Jahren nahezu alle Familienangehörigen von HG Patienten bei DG geworden sind.
An einem Freitagnachmittag stellt HG ihrer Chefin und Freundin DG als letzte, kurzfristig „eingeschobene“ Patientin ihre Mutter vor, die über akute Zahnschmerzen im rechten hinteren Oberkiefer klagt. Bei der Untersuchung reagiert der Zahn 16 aufbiss-, kälte- und (leicht) klopfempfindlich. DG diagnostiziert nach klinischer und radiologischer Befunderhebung eine umschriebene Längsfraktur im Kronenbereich, schlägt eine Überkronung des Zahnes vor
und verlässt danach wegen eines konkurrierenden privaten Termins eilig die Praxis. HG nutzt indes noch die Gelegenheit, um bei ihrer Mutter einzelne Beläge zu entfernen. Patientin und Tochter sind gerade fertig geworden und im Begriff, einen neuen Termin zu vereinbaren, als der zweite Praxisinhaber, KH, hinzutritt: Er hat gerade seinen letzten Patienten verabschiedet, begrüßt nun die ihm bekannte Mutter von HG freundlich und erkundigt sich ganz allgemein nach ihrem Befinden. HG berichtet dienstbeflissen von den Beschwerden der Mutter und den Befunden.
KH wirft nun selbst einen Blick auf das erstellte Röntgenbild. Er vermutet eine Längsfraktur bis in den Wurzelbereich und fragt die Patientin, ohne groß zu überlegen, ob er kurz auf den Zahn schauen dürfe. Er untersucht den Zahn und dankt der Patientin freundlich, ohne einen fachlichen Kommentar abzugeben. Tatsächlich ist er sich sicher, dass sich der diagnostizierte Zahnriss bis in den Wurzelbereich fortsetzt. Die vorgeschlagene Therapie, eine Überkronung, hält er eindeutig für falsch. Vielmehr fürchtet er eine Pulpitis und stellt für den Zahn eine sehr kritische Prognose.
Nun ist KH allerdings unschlüssig. Soll er die Diagnose seiner Kollegin DG anzweifeln – noch dazu vor der gemeinsamen ZMF? Bringt er HG damit in Loyalitätskonflikte gegenüber ihrer Freundin DG? Hält die ZMF seine Reaktion womöglich für einen Ausdruck von Eifersucht, weil diese nahezu ihre gesamte Familie DG „anvertraut“ hat? Welche (moralischen) Verpflichtungen hat er gegenüber der Patientin, die – bei Lichte betrachtet – gar nicht um seine Diagnose ersucht hat? Und wie begründet er gegenüber der Kollegin, dass er ihre Patientin ohne ihr Einverständnis untersucht hat.
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik GroßInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinUniversitätsklinikum der RWTH Aachen Wendlingweg 252074 Aachengte-med-sekr@ukaachen.de
Dr. med. dent. Brigitte UtzigSaarbrücker Str. 6366901 Schönenberg-Kübelberg
Prof. Dr. med. dent. Ralf VollmuthOberfeldarzt – Leiter Zahnarztgruppe Fachsanitätszentrum HammelburgRommelstr. 3197762 Hammelburgdr.ralf.vollmuth@t-online.de