Länger leben für die Wirtschaft
Gut 62 Jahre lang lebt der Durchschnittseuropäer heutzutage ohne größere Gesundheitsprobleme, die sich auf die Bewältigung seines Alltags auswirken. Das geht aus einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervor. Bis zum Jahr 2020 sollen es nach dem Willen der Europäischen Kommission zwei Jahre mehr sein.
„Ein längeres und gesünderes Leben bedeutet die Chance, auch weiterhin aktiv am sozialen Leben teilzunehmen und die Weichenstellung für ein besseres Europa für alle künftigen Generationen mitzugestalten“, begründet Neelie Kroes, Vizepräsidentin der EU-Kommission, die Vision ihrer Behörde.
Zahlreiche Maßnahmen auf nationaler wie europäischer Ebene, darunter eine „Innovationspartnerschaft für aktives und gesundes Altern“ sollen helfen, die Europäer diesem Ziel näherzubringen. Der Startschuss soll im kommenden Jahr, dem „Europäischen Jahr für Aktives Altern“, fallen.
Absatzförderung im Blick
Was vordergründig nach fürsorglichem Bemühen um das gesundheitliche Wohlergehen der rund 500 Millionen EU-Bürger aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung in erster Linie als Initiative zur Absatzförderung von Innovationen im Gesundheitswesen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Immerhin ist es um die Wettbewerbsfähigkeit und die finanzielle Nachhaltigkeit der Gesundheitsund Sozialsysteme in der EU nicht zum Besten bestellt. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die fortschreitende Überalterung der EUBevölkerung. Die gestiegene Lebenserwartung der Europäer belastet die Sozialkassen zunehmend, zumal viele Senioren frühzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden.
Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt zurzeit bei rund 78 Jahren. In den 1960er-Jahren waren es noch rund acht Jahre weniger. Prognosen zufolge wird es in den kommenden vierzig Jahren einen Anstieg um weitere fünf Jahre geben. Gleichzeitig gehen die Geburtenraten in fast allen 27 EU-Staaten stetig zurück. Die Folge: Im Jahr 2060 kommen auf jeden 65-Jährigen voraussichtlich nur noch zwei erwerbsfähige Bürger. Derzeit beträgt das Verhältnis vier zu eins. Den stärksten Schub erwarten Fachleute zwischen 2015 und 2035, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen.
Die EU sucht daher nach Lösungsansätzen, um älteren Menschen bei guter Gesundheit eine möglichst lange beziehungsweise längere Beteiligung am Arbeitsleben zu ermöglichen und dadurch auch die Sozialsysteme zu entlasten. Kroes und EU-Gesundheitskommissar John Dalli setzen dabei vor allem auf den Einsatz moderner Techniken: „Bahnbrechende Fortschritte in diesen Bereichen, die älteren Menschen länger ein gesünderes und unabhängiges Leben ermöglichen, wären nicht nur von beträchtlichem gesellschaftlichen, sondern auch von wichtigem wirtschaftlichen Nutzen“, so Dalli.
Ein Schwerpunkt der EU-Partnerschaft „gesundes Altern“ soll daher die Forschungsförderung neuer Therapien oder Diagnosen zur Verbesserung der Lebensqualität älterer Menschen sein. Dies gilt auch für Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) im Gesundheitswesen, wie telemedizinische Anwendungen, elektronische Patientenakten und Rezepte. Mehr Unabhängigkeit sowie Verbesserungen bei der häuslichen Betreuung und Selbstversorgung von Senioren erhofft sich die EU-Kommission darüber hinaus unter anderem durch den Einsatz von Alarm- und Sicherheitssystemen oder von Geräten zur Sturzprävention.
Gelder aus dem EU-Haushalt sollen ferner in Projekte fließen, die alten Menschen das Leben unter Einbeziehung von Betroffenen, Pflegekräften, Gesundheits- und Sozialfürsorgeeinrichtungen erleichtern.
Einseitigkeit befürchtet
Die Initiative stößt gleichwohl nicht überall auf Beifall. Dr. Günter Danner, Direktor der Vereinigung der Europäischen Sozialversicherungssysteme (ESIP), fürchtet eine zu einseitige industriepolitische Ausrichtung der Innovationspartnerschaft. „Noch mehr und noch teurere Pillen und Technologien sind weder hierzulande noch in EU-Staaten mit völlig unterfinanzierten Gesundheitssystemen die Lösung einer solch komplexen sozialethischen Herausforderung“, so Danner. Mitgliedstaaten mit finanzschwachen Gesundheitssystemen seien zudem als Absatzmarkt vielfach uninteressant, was die Ungleichheiten in der Versorgung verschärfen könnte, kritisiert der ESIP-Direktor.
Europäische Patientenverbände äußern ebenfalls Bedenken. Ein aktives und gesundes Altern müsse als gemeinsame Aufgabe der Gesundheits-, Sozial-, Beschäftigungsund Bildungspolitik unter Beteiligung von Interessenverbänden verstanden werden, mahnt der Dachverband der Patientenvertreter auf EU-Ebene, das Europäische Patientenforum.
Innovatives Denken
Auch die europäische Ärzteschaft fordert eine stärkere Fokussierung auf integrierte Betreuungsansätze. Innovatives Denken sei vor allem bei der Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Disziplinen und Sektoren erforderlich und weniger in Form neuer Telemonitoring- oder Telemedizinlösungen, auch wenn diese einen unverkennbaren Nutzen hätten, so der Ständige Ausschuss der Europäischen Ärzte.
Wie die Innovationspartnerschaft letztlich konkret ausgestaltet sein soll, ist allerdings noch ungewiss. Ein von der EUKommission eingesetztes und geleitetes Gremium, dem auch Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) angehört, soll in den kommenden Monaten eine Strategie zur Umsetzung der Initiative erarbeiten. Wichtige Impulse soll dabei auch die EU-weite Forschungsdatenbank „Share“ liefern, die Informationen darüber beinhaltet, wie sich die Alterung der Bevölkerung auf die öffentlichen Finanzen, Arbeitsmärkte und Sozialsysteme auswirkt.
Petra SpielbergAltmünsterstr. 165207 Wiesbaden