Erstsemester bauen neues Gesundheitssystem
Ausgangssituation des Planspiels: Für den Aufbau des neuen Gesundheitssystems bleiben den Studierenden nur fünf Tage Zeit. Dazu wird die Gruppe der Erstsemester ohne Rücksichtnahme auf Vorkenntnisse und Fachrichtung in drei Kohorten zu je 600 Studierenden aufgeteilt. Jede Kohorte bildet wiederum 40 gleichstarke Arbeitsgruppen. Deren Ziel: im Entwicklungsprozess jeweils eine real existierende Interessengruppe des deutschen Gesundheitswesens zu vertreten.
Egal, ob Apotheker, Kassenärztliche Vereinigungen, Wohlfahrtsverbände oder gesetzliche Krankenkassen – jede größere Lobbygruppe der Leistungserbringer- wie auch der Kostenträgerseite wird in dem Planspiel berücksichtigt.
Besonderheit: Rund 140 Fachleute dieser Interessengruppen reisten nach Lüneburg, um den Studierenden Praxiserfahrungen zu vermitteln und zu informieren, welche Position ihre Planspielgruppe im neu zu schaffenden Gesundheitswesen einnimmt – und welche Bedürfnisse und Probleme im Einigungsprozess mit anderen Arbeitsgruppen zu berücksichtigen sind. „Wir haben unser Briefing von Dr. Jürgen Peter, dem Vorstandschef der AOK Niedersachsen bekommen“, erklärt Lehramtsstudent Roman Kalex, der später den Siegerentwurf aller drei Kohorten vor der fünfköpfigen Jury präsentieren wird.
Vorher muss er mit den 14 Kommilitonen seiner Arbeitsgruppe aus der Perspektive der Ortskrankenkassen eine erste Grobkonstruktion des neuen Gesundheitssystems entwerfen. „Dazu haben wir von Herrn Peter gute Infos erhalten, worauf es ankommt“, sagt Kalex. „Dabei hat er uns gefühlt wirklich nur wenig beeinflusst.“ Sie seien schließlich vorgewarnt worden, aufzupassen, welcher der Multiplikatoren in der Informationsphase des Planspiels was sagt – und warum. Dazu hatte Holm Keller, hauptamtlicher Vizepräsident der Universität, quasi als Nachhilfeunterricht, wie versteckte Einflussnahme und Interessenvertretung in der Praxis aussehen können, am ersten Tag des Planspiels eine Vortragsveranstaltung organisiert. Geladen vor das Plenum der Studienanfänger waren zu diesem Zweck Prof. Peter T. Sawicki, Chef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IGWiG), Ethiker Prof. Nils Ole Oermann und Arthur Brothag vom Londoner Private-Equity-Unternehmen Apex Partners, die jeweils ausführlich ihre Perspektive auf das deutsche Gesundheitssystem darstellten. „Und das jeder für sich schlüssig und nachvollziehbar – aber völlig überlappungsfrei“, sagt Keller.
Erst im Anschluss an diese Lektion, den Expertenmeinungen stets mit einer gesunden Portion Skepsis zu begegnen, wurden den Studierenden die Gesundheitssysteme der engsten Nachbarstaaten Deutschlands erklärt. Dann gingen die 120 Gruppen an die – für sie ungewohnte – Arbeit. „Hinter allem steckt die Idee, dass junge Menschen erfahren, dass sie in dieser Gesellschaft einen Unterschied machen und Dinge mitentwickeln können“, sagt Keller, „und das, obwohl sie auf diesem Gebiet keine Experten sind.“ Ganz bewusst konstruiere man für die Studierenden der verschiedensten Fachrichtungen vom Lehramts- bis zum BWL-Studenten mithilfe des komplexen Themas und dem künstlichen Zeitdruck ein schier unlösbares Problem.
„Wenn Sie am Beginn ihres Studium sowas auf den Tisch bekommen, die Aufgabe aber trotzdem lösen können, ist das ein Riesen-Erfolgserlebnis“, erklärt der Vizepräsident. „Dabei versuchen wir das Thema so zu wählen, dass es für jeden Einzelnen unmittelbar relevant ist.“ Deshalb gehe es diesmal also ums deutsche Gesundheitssystem. Das könne schließlich frische Ideen gebrauchen, findet der ehemalige McKinsey-Unternehmensberater. „Durch ihren Blick von außen stellen die Studierenden endlich die Fragen, die sich viele Systemteilnehmer schon vor 20 Jahren abgewöhnt haben“, schwärmt er, „und wundern sich ernsthaft über die historisch gewachsenen Partikularinteressen.“
Um das Gelingen der Startwoche zu garantieren, enthielten die Vorgaben des Projekts ein paar „dramatische Vereinfachungen“, die es den studentischen Vertretungen der realen Interessengruppen erlaubten, so manchen, in der Realität unmöglichen Kompromiss zu schließen.Keller: „Damit allen auch zu jedem Zeitpunkt klar ist, dass es sich um ein Planspiel handelt, haben wir die Namen der beteiligten Organisationen leicht verändert.“
Studium beginnt mit riesiger Herausforderung
So arbeitete Kalex beispielsweise nach der Einführung von Dr. Jürgen Peter in der Gruppe 12 der Kohorte A mit dem Namen „AOK Nordland“ – die später zur Keimzelle des Siegerentwurfs wurde. „Unser Grundgedanke war, einen Leistungskatalog zu definieren, der alles beinhaltet, was medizinisch notwendig und ethisch vertretbar ist“, beschreibt er. Die Lösung: Eine für jeden verpflichtende Basisversicherung, deren Beitragslast gleichmäßig auf Arbeitnehmer und -geber verteilt wird (siehe Kasten) und die das ureigene Geschäftsfeld der gesetzlichen Krankenversicherungen ist.
„Die PKV spielt aber trotzdem weiterhin eine große Rolle“, sagt Kalex. „Sie ist künftig der alleinige Anbieter von Zusatzleistungen.“ Von diesem Gedanken überzeugten der Lehramtsstudent und seine Mitstreiter nach und nach immer mehr der anderen 39 Gruppen ihrer Kohorte. „Erst haben wir uns mit den anderen Krankenkassen zusammengetan, dann im Laufe der Woche andere Partner gewonnen und gemeinsam mit ihnen die Idee weiter entwickelt“, sagt Kalex. Solange, bis 380 der etwa 600 Stimmberechtigten der Kohorte A schließlich den Entwurf unterstützten.
Dieses Ergebnis musste Moderator Jakob von Weizsäcker den Studierenden bei der Abstimmung im Hörsaal 2 der Leuphana-Universität jedoch mühsam abringen. Immer wieder verwickelten Zwischenrufer aus Minderheitsbündnissen sowie einzelne Querulanten den studierten Volkswirt und SPD-Politiker in argumentative Schaukämpfe. Kalex: „Zugegeben, es ging zwischenzeitlich relativ hoch her. Er hatte ja auch den unbequemen Auftrag, alle Meinungen auf zwei konsensfähige Entwürfe zu reduzieren.“ Sichtlich erschöpft quittierte Weizsäcker den erfolgreichen Abschluss dieser Aufgabe: „Jetzt haben sie mal am eigenen Leib miterlebt, wie mühsam es ist, Politik zu machen.“
Publikum prämiert Sieger per SMS
Dass sich die Mühe gelohnt hat, zeigte der Freitagvormittag. Der zweite, von Kalex vorgestellte, Entwurf der Kohorte A überzeugte nicht nur die fünfköpfige Jury um Peter Clever. Während sich der Ministerialdirektor a.D., der heute in der Geschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) arbeitet, mit Ursula Engelen-Kefer, Axel Heinemann, Jürgen Kluge und Raimund Becker zur Abstimmung zurückzog, wählte eine deutliche Mehrheit der 1 800 Erstsemesterstudenten per SMS-Abstimmung Kalex’ Entwurf als ihren Favoriten. Einigkeit herrschte vor allem über den Ansatz, eine Grundversorgung einzurichten, in der jeder Bundesbürger Pflichtmitglied ist und deren Beitrag paritätisch finanziert wird. Kalex: „Darüber waren wir uns schon von Beginn an mit allen späteren Koalitionspartnern einig: Wir brauchen ein solidarisches Gesundheitssystem. Und darum mussten wir einiges verändern, denn das bisherige Modell ist nicht solidarisch.“
Für diesen Ansatz bekamen die Studierenden von allen Seiten dickes Lob: So hob Engelen-Kefer die „werteorientierte Diskussion“ hervor und sagte: „Ganz wichtig war, dass ihr euch bei der Abstimmung nicht in den Grabenkäpfen der Institutionen verzettelt habt.“ Als Preis haben die 600 Studierenden der Siegerkohorte einen Kurztrip nach Brüssel gewonnen, wo sie kommenden Frühsommer ihren Entwurf einer Vertretung der EU-Kommission vorstellen.
Auch im Gesundheitsministerium will man sich nun vertieft mit den Ergebnissen des Planspiels auseinandersetzen. Staatssekretär Thomas Ilka lobte, dass von den Studierenden etliche „neue und sehr bemerkenswerte Vorschläge“ zur Reform des Gesundheitswesens gemacht worden seien. „Man muss nicht alle Vorschläge befürworten“, sagt er, „aber sicher alle diskutieren.“