Ungünstige Voraussetzungen
EU-Gesundheitskommissar John Dalli macht sich Sorgen um den Forschungsstandort Europa. Denn die Zahl der klinischen Prüfungen für Arzneimittel ist in den vergangenen fünf Jahren um ein Viertel zurück-gegangen. Wurden 2007 noch rund 5 000 Genehmigungen beantragt, waren es 2011 nur noch 3 800. Dies liegt nicht etwa daran, dass immer weniger Medikamente entwickelt werden. Grund ist vielmehr, dass eine zunehmende Zahl von Studien wegen des geringeren bürokratischen und finanziellen Aufwands in Drittstaaten, hauptsächlich in Asien, Südamerika und Russland, stattfindet. Vor allem von der Pharmaindustrie unabhängige Forscher klagen über zu hohe Auflagen und Kosten in der EU.
Hinzu kommt, dass es die seit 2001 geltenden Anforderungen für die Durchführung klinischer Studien in der Europäischen Union den Sponsoren erschweren, multizentrische Studien in mehreren EU-Ländern durchzuführen, da die Staaten die Vorschriften uneinheitlich umgesetzt haben. Multinationale Studien sind gleichwohl bei der Erforschung bestimmter Medikamente, insbesondere für die Behandlung seltener Krankheiten und schwerwiegender Erkrankungen von Kindern unverzichtbar. „Ein schnelleres Verfahren für multizentrische klinische Studien im Bereich seltene Krankheiten wäre von großem Vorteil für die betroffenen Patienten“, sagt Flaminia Macchia, Leiterin für europäische öffentliche Angelegenheiten bei Eurordis, der europäischen Vereinigung für Patienten mit seltenen Erkrankungen.
Die Verlagerung solcher Untersuchungen in Entwicklungs- und Schwellenländer wirft nach Meinung von Experten und Europapolitikern wiederum zahlreiche ethische Fragen auf, zumal es nach den geltenden EU-Regeln für die Zulassung auf dem europäischen Markt egal ist, wo die klinische Prüfung für ein Arzneimittel stattgefunden hat.
Standards vernachlässigt
„Häufig werden wichtige Standards zum Schutz der Probanden in Drittstaaten nicht eingehalten“, moniert der CDU-Europaabgeordnete und Arzt Dr. Peter Liese. Die Zeitschrift „The Independent“ berichtet beispielsweise, dass westliche Pharmaunternehmen in den vergangenen fünf Jahren vor allem Indien als Testgebiet für Medikamente entdeckt haben. „Die perfekte Mischung aus einer großen Bevölkerung und lockeren Regelungen hilft, die Kosten für die Forschung an lukrativen Produkten für den Westen deutlich zu senken“, heißt es in dem Artikel. Derzeit seien mehr als 150 000 Menschen an mindestens 1 600 klinischen Studien im Namen von britischen, amerikanischen und europäischen Unternehmen, darunter AstraZeneca, Pfizer und Merck beteiligt.
Dieses Vorgehen gefährde nicht nur die Studienteilnehmer selbst, sondern auch die Gesundheit der Patienten in der Europäischen Union, denn Risiken und Nebenwirkungen der Medikamente würden dann möglicherweise falsch eingeschätzt, kritisiert Liese.
Bei klinischen Prüfungen werden Arzneimittel an Freiwilligen erprobt. Die Studien dienen dazu, die Unbedenklichkeit und Wirksamkeit neuer Medikamente beziehungsweise neuer Indikationen für bereits existierende Produkte zu untersuchen. Dies ist Voraussetzung für die Marktzulassung. Mitunter werden im Rahmen solcher Prüfungen auch zwei unterschiedliche Standardbehandlungen miteinander verglichen.
Die meisten Studien (rund 60 Prozent) werden auf Betreiben der Pharmaindustrie durchgeführt. Inzwischen veranlassen aber auch immer mehr nichtkommerzielle Sponsoren, wie Wissenschaftler, Stiftungen, Krankenhäuser oder Forschungszentren klinische Prüfungen, um Therapien mit bereits auf dem Markt befindlichen Arzneimitteln beispielsweise in der Krebsbehandlung zu verbessern oder zu vergleichen. Die Kosten können je nach Anforderungen zwischen 50 000 Euro und 5 Millionen Euro schwanken.
Vereinheitlichung geplant
Mit neuen, einheitlichen und einfacheren EU-Vorschriften für Arzneimittelprüfungen an Menschen will Dalli eine weitere Verlagerung klinischer Studien ins Ausland verhindern. Der Gesundheitskommissar reichte Mitte Juli in Brüssel einen entsprechenden Vorschlag ein. Statt einer Richtlinie soll künftig eine Verordnung für klinische Arzneimittelprüfungen gelten. Dies hätte zur Folge, dass die Vorschriften in allen EU- Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht sind. Nationale Sonderregelungen wären nicht mehr erlaubt.
Dallis Vorschlag sieht vor allem eine stärkere Koordinierung und Beschleunigung der Verfahren vor. Ferner sollen alle klinischen Prüfungen – auch solche, die in Drittstaaten stattgefunden haben – registriert werden. Die Registrierung soll Grundlage für die Marktzulassung sein. Dalli rechnet nach dem Inkrafttreten des neuen Regelwerks ab voraussichtlich 2016 mit einem Rückgang der Verwaltungskosten um rund 800 Millionen Euro pro Jahr. Das Europaparlament und die EU-Regierungen müssen allerdings noch über den Vorschlag beraten.
Petra Spielberg
Altmünsterstr. 1
65207 Wiesbaden
INFOEudraCT
EudraCT (European Union Drug Regulating Authorities Clinical Trials) ist ein seit 2004 bestehendes Register für klinische Studien mit Humanarzneimitteln in der EU. Betreiber des Registers ist die Europäische Arzneimittelagentur EMA in London. Genutzt wird EudraCT von den Arzneimittelbehörden der EU-Mitgliedstaaten. Das Register wurde eingeführt, um Transparenz über die in der EU durchgeführten klinischen Studien herzustellen und somit zugleich die Sicherheit für die Studienteilnehmer durch eine stärkere Überwachung zu erhöhen. Die gesetzliche Grundlage für den Aufbau bildet Artikel 11 der Richtlinie 2001/20/EG über die Anwendung der guten klinischen Praxis (good clinical practice, GCP). Die hierzulande gültige GCP-Verordnung schreibt vor, dass eine geplante klinische Arzneimittelstudie in EudraCT registriert sein muss, bevor ein Genehmigungsantrag für die Studie gestellt werden kann.ps