Schweigepflicht versus Fürsorgepflicht
Bei den nachfolgenden Kommentatoren handelt es sich um Zahnärzte, die über ihre fachliche Qualifikation hinaus ein besonderes Interesse für den Bereich „Klinische Ethik“ mitbringen beziehungsweise in diesem Bereich fortgebildet sind; dementsprechend sind die Kommentare als persönliche Meinungsäußerung und nicht als rechtsverbindliche Stellungnahme zu verstehen. Anregungen und konstruktive Kritik sind stets willkommen.
Der Fallbericht:
Die 17-jährige JL ist – ebenso wie ihre Eltern – seit sechs Jahren Patientin von Dr. TU, einem 50-jährigen, ebenso engagierten wie empathischen Zahnarzt. TU schätzt die herzliche, vollkommen unverstellte, wenn auch etwas naive Art der Patientin und er freut sich jedes Mal, sie wiederzusehen. JL erinnert ihn stark an seine 16-jährige Nichte, zu der er als Patenonkel ein ausgesprochen inniges Verhältnis hat, was nicht zuletzt auf der Tatsache beruht, dass er selbst kinderlos geblieben ist.
Seit einiger Zeit fällt ihm auf, dass er bei JL selbst mit zunehmend hohen Injektionsdosen keine Schmerzfreiheit erreicht. Auch am heutigen Tag gelingt trotz zweier Nachinjektionen keine suffiziente Anästhesie. Als die Fachangestellte kurz das Zimmer verlässt, konfrontiert TU – nach einer Zeit des Lavierens – JL mit der Frage, ob sie starke Medikamente oder Drogen konsumiere. JL reagiert auf die Frage höchst überrascht und fragt, wie er zu dieser Überlegung komme. TU erklärt den Zusammenhang zwischen Drogenabusus und Anästhesieversagen. JL, die zu ihrem Zahnarzt großes Vertrauen hat, erzählt nun, dass sie tatsächlich seit drei Jahren Drogen konsumiere. Sie habe die Drogen erstmals von einem Bekannten erhalten, der seit einigen Monaten nun auch ihr Freund und ihre „große Liebe“ sei. Stolz berichtet sie, dass dieser sie in die Praxis begleitet habe und hier auf sie warte. TU erinnert sich nun an einen ihm auf den ersten Blick gänzlich unsympathischen, auffällig gekleideten Mann Mitte 30, auf den die Beschreibung passt und der ihm Minuten zuvor auf dem Weg zur Toilette begegnet ist. Der Zahnarzt ist bestürzt und rät JL unverblümt, den Drogenkonsum einzustellen und sich Hilfe zu holen. JL bedankt sich für die angebotene Hilfestellung und beschwichtigt: Sie vertraue ihrem Freund, der sich mit Drogen gut auskenne und die Situation für absolut kontrollierbar halte. TU hakt ein und bittet um die Erlaubnis, kurz mit dem Freund sprechen zu dürfen, was JL mit erregter Geste verneint: Einen solchen „Vertrauensbruch“ würde der Freund ihr nie verzeihen. Deshalb bittet sie den Zahnarzt um vertrauliche Handhabung – dem Freund wie auch den Eltern gegenüber, zumal letztere weder vom Drogenkonsum noch von ihrer Beziehung wüssten.
TU ist innerlich aufgewühlt: Auf der einen Seite sieht er sich an die Schweigepflicht gebunden und will zudem das Vertrauen der Patientin nicht enttäuschen, auf der anderen Seite will er Hilfe geben. Auch vergleicht er die Patientin instinktiv mit seiner Patentochter: Er selbst würde keinem Arzt verzeihen, der bei seiner minderjährigen Nichte eine Drogenabhängigkeit feststellt und unter Verweis auf die Schweigepflicht „untätig“ bleibt. Was wäre das ethisch verantwortliche und rechtlich angemessene Vorgehen?
• Soll er den Freund doch zur Rede stellen?
• Darf er die Eltern informieren oder wäre dies sogar ethisch geboten?
Dominik Groß und Karin Groß
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik GroßDr. med. dent. Gereon SchäferInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinUniversitätsklinikum der RWTH AachenWendlingweg 252074 Aachen
Dr. med. dent. Karin GroßPraxisklinik für ZahnheilkundeAm LuisenhospitalBoxgraben 9952064 Aachenkdgross@arcor.deDr. med. dent. Hans-Otto BermannJoachimstr. 5440547 DüsseldorfMedizinpresse@t-online.de