System in der Krise

Die zahnärztliche Versorgung in den USA steckt in einem Dilemma: Wer gut versichert ist, erhält gute Leistungen. Wer sich solch eine Versicherung aber nicht leisten kann, wird allein gelassen. Oft wird bei der Zahnversorgung gespart – mit verheerenden Folgen für die Patienten und für das Gesundheitssystem.

Zahnärztliche Versorgung in den USA

Das amerikanische Gesundheitswesen steckt voller Gegensätze. Wer im Besitz einer guten Krankenversicherung ist, hat in der Regel Zugang zu exzellenten Leistungsanbietern. Die Crux: Längst nicht jeder ist in der glücklichen Lage, versichert zu sein. Rund 50 Millionen Amerikaner stehen ohne Absicherung gegen Krankheit da.

Noch extremer ist die Lage im Bereich der zahnärztlichen Versorgung. Hier sind es 130 Millionen Menschen, die Prophylaxe- und Behandlungskosten allein tragen müssen. Die Zahlen sind alarmierend: Mehr als 35 Prozent der 21- bis 64-jährigen Amerikaner haben keine Zahnversicherung. Unter den Senioren (ab 65) sind es 70 Prozent. Bei Minderjährigen, die oft vom Staat aufgefangen werden, beträgt der Anteil der Nichtversicherten über 22 Prozent.

Nach Ursachen für die Misere muss man nicht lange forschen. Die meisten Amerikaner unter 65 Jahren (knapp 60 Prozent) sind über einen Arbeitgeber versichert. Welche Krankenversicherungen die Unternehmen aber ihren Mitarbeitern anbieten, liegt bisher völlig in ihrem Ermessen. Aus Kostengründen schließen viele eine zahnärztliche Versorgung aus dem Versicherungspaket aus (obwohl der Staat das Angebot steuerlich bezuschusst). Kostenbegrenzung ist ohne Zweifel auch der Grund, warum die gesetzliche Krankenversicherung für Senioren, Medicare, nicht für Zahnbehandlungen aufkommt.

Routinemäßig in die Notaufnahme

Millionen von Amerikanern schultern ihre Zahnarztrechnungen allein. Wen wundert es da, wenn sie so lange wie möglich vermeiden, zum Zahnarzt zu gehen? Viele warten, bis sie von Zahnschmerzen gepeinigt werden und suchen dann die Notaufnahme eines Krankenhauses auf – weil sie dort nicht abgewiesen werden dürfen. Die Notfallstationen sind aber in den wenigsten Fällen darauf eingerichtet, Zahnprobleme effektiv zu behandeln. Sie schicken die Betroffenen in der Regel mit entzündungshemmenden und schmerzlindernden Medikamenten nach Hause. Da damit die Ursache des Zahnschmerzes nicht beseitigt ist, kommen die Patienten oft nach kurzer Zeit wieder – ein unproduktiver und teurer Kreislauf. Studien belegen das Dilemma: 830 590 Amerikaner suchten im Jahr 2009 eine Notaufnahme wegen Zahnschmerzen auf, die präventiv vermeidbar gewesen wären, schätzt das Pew Center on the States, ein Zweig der in Philadelphia ansässigen Non-Profit-Organisation Pew Charitable Trusts, die gesundheits- und gesellschaftspolitische Forschung betreibt.

Unversorgt bis in den Tod

Öffentliche Aufmerksamkeit erregt das Problem dann, wenn ein solcher Fall tödlich endet. So machte im vergangenen Jahr das Schicksal eines 24-Jährigen Schlagzeilen, der wegen Zahnschmerzen sogar erst einen Zahnarzt aufgesucht hatte, es sich aber wegen seiner Arbeitslosigkeit nicht leisten konnte, den schmerzenden Weisheitszahn ziehen zu lassen. Als die Schmerzen unerträglich wurden, ging der junge Mann in die Notaufnahme, wo ihm Antibiotika und Schmerzmittel verschrieben wurden. Aus Kostengründen entschied er sich, nur das Schmerzmittel zu nehmen. Die Zahnentzündung breitete sich daraufhin auf das Gehirn aus, was den Patienten letztlich das Leben kostete. Das gleiche Schicksal ereilte im Jahr 2007 einen zwölfjährigen Jungen. Er war ebenfalls von einer Notaufnahme mit schmerz- und entzündungshemmenden Mitteln heimgeschickt worden. Als die Infektion das Gehirn angriff, versuchten Ärzte, mit einer Notoperation sein Leben zu retten. Die Kosten für die letztendlich vergebliche Aktion: zwischen 200 000 und 250 000 US-Dollar.

Unattraktive Patienten

Mit einfacher Prophylaxe könnten solche Horrorszenarien vermieden werden. Und es gibt durchaus Bemühungen, das Problem in den Griff zu bekommen. Der amerikanische Gesetzgeber hat die Priorität gesetzt, Kinder und Jugendliche besser zu schützen. So steht seit 2009 zum Beispiel allen Minderjährigen, die über das öffentliche Armenprogramm Medicaid oder die Kinderversicherung CHIP (Children’s Health Insurance Program) abgedeckt sind, eine zahnärztliche Behandlung zu. Trotz dieses gesetzlichen Anspruchs ergeben sich aber auch hier Zugangsprobleme.

Denn für Zahnärzte sind Medicaid-Versicherte nicht gerade attraktive Patienten: Medicaid bezahlt relativ schlecht und verwickelt die Leistungsanbieter in komplizierte Verwaltungsvorgänge. Aufgrund ihrer Lebensumstände erscheinen Medicaid-Empfänger zudem oft unzuverlässig: Transport- und Kommunikationsprobleme führen dazu, dass Patienten ihre Termine nicht einhalten. Die Folge: Laut einer Studie in 25 Bundesstaaten akzeptierten im Jahr 2008 weniger als die Hälfte der Zahnärzte Medicaid-Versicherte. Das Problem wird dadurch verschärft, dass es ohnehin zu wenige Zahnärzte gibt. Fast 47 Millionen Amerikaner leben in Gebieten, die die Regierung offiziell als “Zahnarztmangelzonen” bezeichnet. Über 6 600 zusätzliche Leistungsanbieter würden gebraucht, so heißt es, um den Versorgungsbedürfnissen gerecht zu werden

Zwei Ansatzpunkte für Verbesserungen

Einfache Problemlösungen für die Versorgungskrise gibt es nicht. Fest steht: Amerika braucht sowohl Verbesserungen in der zahnärztlichen Nachfrage als auch im Versorgungsangebot. Der Schlüssel für die Nachfrage liegt eindeutig im Versicherungsstatus der Betroffenen. Solange Menschen ohne Zahnversicherung dastehen, kann nicht erwartet werden, dass sie sich adäquat versorgen lassen.

Ein Hoffnungsstreifen am Horizont ist hier die 2010 von Präsident Obama unterzeichnete Gesundheitsreform. Sie soll ab 2014 eine Versicherungspflicht für fast alle Landsleute bringen – mit weitgehenden Finanzhilfen für Niedrigverdiener. Die Reform legt fest, dass ein akzeptables Versicherungspaket zumindest eine zahnärztliche Versorgung für Kinder und Jugendliche beinhalten muss. Über eine Zahnversicherung für Erwachsene verliert der Gesetzgeber allerdings kein Wort. Hier wird deutlich, dass die zahnärztliche Versorgung im Gerangel um gesundheitspolitische Prioritäten immer noch „die zweite Geige“ spielt. Dennoch: Eine flächenübergreifende Zahnversicherung für Minderjährige ist ein großer Fortschritt, weil dann früh mit Prophylaxe- und Aufklärungsmaßnahmen begonnen werden kann.

Auf der Angebotsseite ist das Ziel vor allem eine Kapazitätserweiterung. Eine Expertenkommission des überparteilichen Institute of Medicine (IOM) hat dazu im vergangenen Jahr umfassende Empfehlungen abgegeben, die in dem Studienbericht „Improving Access to Oral Health Care for Vulnerable and Underserved Populations“ enthalten sind. Unter anderem empfehlen die Experten, für Zahnärzte Barrieren aus dem Weg zu räumen, damit eine größere Anzahl bereit ist, Medicaid- und CHIP- Versicherte zu behandeln. Eine bessere Bezahlung sowie ein niedrigerer Verwaltungsaufwand sind laut IOM wichtige Bausteine, die in einigen Bundesstaaten schon Erfolge gezeigt haben. Bildungsinstitutionen für Zahnärzte versuchen zudem verstärkt, Studenten aus benachteiligten Bevölkerungsschichten zu rekrutieren – in der Hoffnung, dass diese nach ihrer Ausbildung bereit sind, in unterversorgten Gebieten zu praktizieren.

Weitere Strategien zur Kapazitätserweiterung zielen auf eine Ausweitung des zahnärztlichen Leistungsangebots. Haus- und Kinderärzte könnten laut IOM geschult werden, zumindest in der Risikoerkennung und bei diversen Prophylaxemaßnahmen eine minimale zahnärztliche Versorgung mit zu übernehmen. Weiterhin empfohlen werden neue Berufsbilder. So könnte zum Beispiel der sogenannte Dental Assistant (ähnlich wie der Physician Assistant in Hausarztpraxen) Routinebehandlungen übernehmen.

Der Studienbericht des IOM ist zu finden unterwww.iom.edu/Reports.

Claudia Pieper

180 Chimacum Creek Drive

Port Hadlock, WA 98339, USA

pieper@cablespeed.com

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