Die sind doch krank
Das Problem hat es offenbar immer schon gegeben: Die Symptome des „Zappelphilipp“ sind seit 1845, dem Erscheinungsjahr des Kinderbuches „Struwwelpeter“, aktenkundig. Auch Wolfgang Amadeus Mozart soll ein hyperaktives Kind gewesen sein, Albert Einstein und Thomas Edison ebenso. Selbst der gemütliche, dicke Zigarrenraucher Winston Churchill muss in seiner Kindheit die Lehrer seiner britischen Internate zur Verzweiflung getrieben haben – als gehöriger „Fidgety Phil“ (wie die Zappler auf der Insel bezeichnet werden). Die Reihe der berühmten Hyperkinetiker lässt sich mühelos fortsetzen: Auch Ex-US-Präsident Bill Clinton wird zu ihnen gezählt.
Für die Eltern eines hyperaktiven Kindes ist die Prominentenparade nur ein schwacher Trost: Viel zu sehr sind sie damit beschäftigt, ihr Kind und sich selbst über die immer neuen kleineren und größeren Katastrophen hinweg zu bugsieren, die durch das ständig überdrehte und impulsive Kind ausgelöst werden.
Nach einer aktuellen Untersuchung aus Bayern zeigen bereits bei der Einschulung 13 Prozent der Jungen und acht Prozent der Mädchen Symptome von Konzentrationsstörungen und motorischer Hyperaktivität. In der vierten Klasse sind dann schon 18,8 Prozent der Jungen und 9,6 Prozent der Mädchen betroffen. Sind diese Kinder krank? Welche unter ihnen benötigen Hilfe? Und welche Hilfen, Therapien und Förderung brauchen sie wirklich? Um diese Fragen ging es bei einem gemeinsamen Symposium der „Stiftung Kindergesundheit“ (München) und der „Deutschen Kinderhilfe“ (Berlin) unter dem Motto „ADHS in unserer Gesellschaft – wie wir damit umgehen können“ in München.
Unaufmerksam und überaktiv
ADS steht für Aufmerksamkeits-Defizit-Störung ohne, ADHS mit Hyperaktivität (siehe Kasten). Die wichtigsten Merkmale von ADHS sind Unaufmerksamkeit, Überaktivität und ein unbeherrschtes, impulsives Verhalten. „Die Existenz der Störung ist längst nicht mehr umstritten. Durch die volkstümliche Bezeichnung „Zappelphilipp“ wird das Problem lediglich verniedlicht“, sagte Prof. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. „Die betroffenen Kinder entwickeln sich oft zum Schrecken ihrer Umgebung. Viele von ihnen sind aufgedreht, entwickeln einen fast aggressiven Bewegungsdrang, sind aufbrausend, können leicht ausrasten und mit ihren unvermittelten Wutausbrüchen Eltern, Spielkameraden und Lehrer zur Weißglut bringen. Andere können sich nicht konzentrieren, scheinen nicht zuhören zu können, sind leicht ablenkbar, vergessen viel und wirken schusselig. Die Familien sind verzweifelt und die Schule kapituliert vor der Herausforderung.“
Die medikamentöse Behandlung des Zappelphilipps wird in diesem Jahr 75 Jahre alt:
Es war 1937, als das amerikanische Forscherehepaar Bradley die Symptomatik des hyperaktiven Kindes genauer beschrieb und auch mit Stimulanzien die ersten therapeutischen Erfolge hatte. Seither ist die Wirksamkeit der Behandlung in weit über 6 000 Publikationen bestätigt worden.
Wenn Kinder mit Medikamenten behandelt werden, um ihr Verhalten zu beeinflussen, wird die Öffentlichkeit zu Recht hellhörig. Obwohl die ADHS – Aufmerksamkeits-Defizit-Störung mit Hyperaktivität – als international am besten untersuchte Störung der Kinderpsychiatrie gilt, wird die Diskussion oft ideologisch und emotional geführt. Auch manche Medien schüren immer wieder Zweifel an der Existenz des Leidens und vermuten hinter seiner Behandlung mit Stimulanzien wie Ritalin eine finstere Verschwörung von Ärzten und Pharmaherstellern.
Probleme schon im Kindergarten
Wie Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Martin H. Schmidt vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim in München berichtete, macht sich die Störung meist schon im Vorschulalter bemerkbar. Bei der Hälfte der Kinder bessert sich der Zustand mit Beginn der Pubertät, in 30 Prozent der Fälle bleibt er aber auch im Erwachsenenalter bestehen. Schmidt: „Das größte Problem liegt in der gestörten Konzentrationsfähigkeit: Das Kind wechselt die Spiele schnell, kann nicht warten, weiß oft nicht, was es machen soll, und hat dann schlechte Laune. Das Zusammenspiel mit anderen Kindern ist oft gestört, weil das Kind die Spielregeln auch nach dem zehnten Mal noch nicht begreift oder diese nicht einhält, es ist ungestüm und frech und wird schon bald von anderen Kindern gemieden.“
Auch die Eltern können rasch ins soziale Abseits geraten. Im Restaurant oder in der Wohnung von Freunden ist das Kind wie ein Perpetuum mobile – ständig in Bewegung. Es bleibt kein Stein auf dem anderen. Das Risiko ist groß, mit einem solchen Kind kein zweites Mal eingeladen zu werden.
Schmidt wies den häufig erhobenen Vorwurf zurück, dass nicht das Kind das Problem sei, sondern die heutige Gesellschaft, die keine unruhigen Kinder dulde, und dass nur deshalb die Kinder auf eine von Erwachsenen vorgeschriebene Norm gedrillt werden sollen. Er betonte: Kinder mit ADHS gibt es nicht nur in reichen Ländern, sondern kulturübergreifend auch in der Dritten Welt.
Auch die Lehrer sind nicht zu beneiden
Die Schwierigkeiten des ADHS-Kindes verstärken sich nach der Einschulung. Es kann nicht gehorchen und sich in die Gruppe einordnen. Es verbreitet ständig Unruhe in der Klasse, hustet auffällig laut, rülpst oder singt, wirft mit Stühlen um sich, redet dauernd dazwischen und leidet geradezu unter „Sprechdurchfall“, hört nicht zu, ärgert seine Mitschüler und lässt sich durch pädagogische Maßnahmen (Ermahnen, Erklären, Loben) nicht beeindrucken. Auf den Lehrer wirkt es ungehorsam, unwillig oder dumm, obwohl es normal begabt und nicht selten überdurchschnittlich intelligent ist.
Zwar sitzen laut Statistik heute in jeder Schulklasse ein bis zwei von ADHS betroffene Kinder. Doch viele Lehrer sind mit dem Krankheitsbild ADHS so wenig vertraut, dass sie das Kind sehr schnell auf eine Förderschule für Lernbehinderte (früher „Sonderschule“) schicken möchten, anstatt den Eltern die dringend notwendige Behandlung ihres Kindes bei einem Pädiater oder beim Kinder- und Jugendpsychiater zu empfehlen.
Das Kind braucht eine Chance
„Es geht nicht darum, die Kinder brav zu machen, sondern darum, ihre Chancen zu ihrer persönlichen Entfaltung zu erhalten“, betonte Schmidt. „Die Kinder haben ein Recht auf eine Behandlung, die ihnen eine ungestörte Entwicklung ermöglicht. Wird ihnen nicht geholfen, droht das Scheitern in der Schule, die Zuweisung zu einer Förderschule oder die Entwicklung sozial unangepassten Verhaltens.“
Kinder mit einer diagnostizierten ADHS gelangen zu 60 Prozent seltener aufs Gymnasium als unbelastete Kinder. Das sei ungerecht, sagte Schmidt: „Darf man ihnen den Weg ins Gymnasium verwehren, ihnen also eine Ausbildung zumuten, die ihren Fähigkeiten nicht angemessen ist, nur um eine Behandlung mit Stimulanzien zu vermeiden? Die Verantwortlichen müssen nicht nur abwägen, ob das beim individuellen Schüler ethisch vertretbar ist, sondern die Gesellschaft muss einen Konsens zu der Frage finden, ob wir es uns ökonomisch leisten können, auf die optimale Ausbildung Begabter mit Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen zu verzichten.“
Jahrelange Suche nach Hilfe
Prof. Manfred Döpfner von der Universität Köln bestätigte: Kinder mit ADHS sind in allen Aspekten des täglichen Lebens signifikant benachteiligt. Sie haben Probleme in der Familie und Schwierigkeiten im sozialen Bereich. In der Schule haben sie mehr Fehltage als ihre Mitschüler, jedes vierte ADHS-Kind zählt zu den Schlusslichtern der Klasse. Auch die Suche nach fachlicher Hilfe ist mühevoll: Die Eltern brauchen im Durchschnitt zwei Jahre, bis sie die endgültige Diagnose haben. 38 Prozent müssen dazu drei oder mehr Ärzte konsultieren.
Nach aktuellen Daten haben insgesamt 4,8 Prozent aller Drei- bis 17-Jährigen eine ärztlich oder psychologisch diagnostizierte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, Jungen mit 7,9 Prozent wesentlich häufiger als Mädchen (1,8 Prozent). Der große Unterschied zwischen den Geschlechtern, der in allen Altersgruppen besteht, liegt aber möglicherweise daran, dass Mädchen häufiger unter ADS ohne Hyperaktivität leiden und dadurch seltener auffallen.
Es ist nicht leicht, für jedes einzelne Kind mit einer ADHS die optimale Behandlung zu finden. Experten empfehlen eine „multimodale“ Therapie, das heißt eine individuelle Kombination aus verschiedenen Therapieformen. Eine Verhaltenstherapie unter Anwendung positiver Verstärkung und negativer Konsequenzen kann entscheidend dazu beitragen, Symptome abzubauen und das problematische soziale Verhalten des Kindes zu verbessern. Mit Selbstinstruktionstraining und Selbstmanagement-Interventionen (ab dem Schulalter durchführbar) soll den Kindern und Jugendlichen geholfen werden, ihr Problemverhalten zu modifizieren. Eine ausschließliche Behandlung mit diesen Maßnahmen ist aber meist nicht ausreichend.
Zur Behandlung der ADHS stehen mittlerweile mehrere Medikamente zur Verfügung, darunter insbesondere das seit vielen Jahren eingesetzte Stimulans Methylphenidat (MPH) in verschiedenen Formen, sowie ein weiterer Wirkstoff namens Atomoxetin (ATX). Ein damit behandeltes Kind bekommt die Chance, unter besseren Bedingungen zu leben und sein Selbstwertgefühl zu steigern. Methylphenidat regt die Tätigkeit bestimmter Gehirnregionen an und beeinflusst das Dopamin-System, das für die Kontrolle von Aktivität und Aufmerksamkeit eine Rolle spielt. In vielen Fällen ermöglicht erst die Einnahme des Medikaments, dass Erziehungsmaßnahmen und auch andere Behandlungsmethoden, zum Beispiel eine Verhaltenstherapie, ihre Wirkung entfalten können.
Zwar werden immer wieder Spezialdiäten zur Behandlung ins Gespräch gebracht, sie haben sich jedoch nur bei einer Minderheit der betroffenen Kinder als wirksam erwiesen. Für alternative Heilverfahren, zum Beispiel Homöopathie, Bachblüten oder Magnetresonanztherapie fehlt bisher jeglicher Wirkungsnachweis. Das gilt auch für die häufig im Internet angepriesenen angeblichen Wundermittel und -therapien.
Die Experten wandten sich auf dem Münchner Symposion gegen den Vorwurf, dass bei Kindern zu häufig ADHS diagnostiziert und dann leichtfertig medikamentös behandelt wird. Schmidt erklärte mit Nachdruck: „Wir behandeln auf keinen Fall zu viele! Lediglich die Hälfte der mit ADHS diagnostizierten Kinder bekommt Stimulanzien verordnet.“
Das Kind wird nicht süchtig
Hartnäckig hält sich die Behauptung, die Medikamente zur Behandlung des ADHS-Syndroms würden das Kind süchtig machen. Diese Befürchtung sei jedoch nach dem gegenwärtigen Wissenstand unbegründet, betonten die Experten in München. Zwar unterliegen die zur ADHS-Behandlung eingesetzten Medikamente bis auf eine Ausnahme dem Betäubungsmittelgesetz. Der Grund hat aber mit den Kindern nichts zu tun: Der Inhaltsstoff Methylphenidat wird wegen seiner aufputschenden Wirkung häufig missbräuchlich verwendet – von Erwachsenen, versteht sich. Bei Kindern wirkt es allerdings nicht aufputschend: Es gleicht aus, beruhigt und hilft dem Gehirn des Kindes, Umweltimpulse besser zu verarbeiten.
Der Vorstand der Bundesärztekammer hat dazu kürzlich in einer offiziellen Stellungnahme Folgendes festgestellt: „Katamnestische Befunde sprechen dafür, dass Kinder und Jugendliche mit ADHS, die mit Stimulanzien behandelt wurden, seltener und später zu Tabak- und Alkoholkonsum und zum Konsum illegaler Drogen neigen!“
In der Tat ist in den vielen Jahrzehnten, seit Stimulanzien zur Behandlung des hyperkinetischen Syndroms eingesetzt werden, bei Kindern und Jugendlichen kein einziger Fall einer Sucht oder Gewöhnung bekannt geworden. Untersuchungen an den Universitätskliniken in Berlin, Frankfurt und Köln deuten in die gleiche Richtung. Von 60 untersuchten Erwachsenen, die in ihrer Kindheit an ADHS litten, waren seinerzeit 26 mit Methylphenidat behandelt worden. Die Patienten aus dieser Gruppe griffen keineswegs häufiger, sondern sogar seltener zu Drogen als ihre Altersgenossen. Ähnliche Ergebnisse erbrachte eine Untersuchung der Harvard-Universität: Medikamentös behandelte ADHS-Jugendliche hatten dort gegenüber unbehandelten ein um 85 Prozent reduziertes Suchtrisiko.
Die gemeinnützige Selbsthilfeorganisation ADHS Deutschland e.V. berichtet zum Thema Sucht: „Über 50 Prozent aller AD(H)S-ler haben ein Suchtproblem und in Suchtkliniken sind 30 bis 50 Prozent der Klienten meist unerkannte AD(H)S-Patienten. Insgesamt haben AD(H)S-ler ein mindestens doppelt so hohes Suchtrisiko wie die Normalbevölkerung. Wir wissen allerdings, dass die frühe Behandlung des ADHS schon im Kindesalter das Suchtrisiko deutlich vermindert, weil Kinder eine bessere Schulbildung durchlaufen und insgesamt eine bessere Entwicklung nehmen. Gerade die Behandlung mit Stimulanzien, die unter dem Betäubungsmittelgesetz stehen, zeigt im Langzeitverlauf eine deutliche Suchtreduktion, somit stellt eine frühzeitige Behandlung eine Suchtprophylaxe dar.“
Ist Mama auch ein Zappelphilipp?
Relativ neu sind die Erkenntnisse zur Erblichkeit von ADHS. Unter eineiigen Zwillingen sind wesentlich häufiger beide Kinder betroffen als bei zweieiigen. In der Familie jedes dritten Kindes mit ADHS weist außerdem zumindest ein Elternteil entsprechende Symptome auf. Dieser Zusammenhang wird in einer aktuellen Psychotherapiestudie bei ADHS-Kindern und ihren ebenfalls davon betroffenen Müttern an der Universität Würzburg erforscht. Eine weitere aktuelle Studie an der Universität Mainz untersucht den Zusammenhang zwischen Omega-Fettsäuren und ADHS.
Koletzko resümierte zum Abschluss der Tagung: „Die Fachleute sind sich einig, dass eine ausschließlich medikamentöse Behandlung von ADHS ungenügend ist. Notwendig sind vielmehr ganzheitliche Therapien, die – je nach Situation des Kindes – sowohl die medikamentöse Behandlung als auch psychoedukative und psychotherapeutische Maßnahmen und entsprechende Rahmenbedingungen in den Regeleinrichtungen der Betreuung, Bildung und Ausbildung umfassen. Die Erfolg versprechende medikamentöse Therapie darf aber nicht länger verteufelt werden. Gewiss: Sie kann Nebenwirkungen haben. Aber ihr Nutzen für das spätere Schicksal der Kinder ist deutlich höher als ihre tatsächlichen oder theoretischen Risiken.“
Lajos Schöne
Medizinjournalist
Gerstäckerstr. 9
81827 München
INFO
ADS und ADHS – wo liegt der Unterschied?
Die Leitlinie der „Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte“ legt für den Krankheitsbegriff – ähnlich wie die Leitlinien der „American Academy of Pediatrics“ – die Kriterien nach DSM IV zugrunde.
Der vorwiegend hyperaktiv-impulsive Subtypus ADHS liegt vor, wenn unaufmerksames und impulsives Verhalten mit deutlicher Hyperaktivität ausgeprägt ist, nicht dem Alter und nicht dem Entwicklungsstand entspricht und zu deutlicher Beeinträchtigung in verschiedenen sozialen Bezugssystemen und im Leistungsbereich von Schule und Beruf führt. Klinische Relevanz erreichen diese Auffälligkeiten, wenn sie länger als sechs Monate bestehen und wenn beeinträchtigende Symptome von Hyperaktivität-Impulsivität und Unaufmerksamkeit bereits vor dem Alter von sieben Jahren vorhanden gewesen sind. Im Schulalter typische Symptome sind: mangelnde Akzeptanz von Regeln in Familie, Spielgruppe und Klassengemeinschaft, Stören im Unterricht, Probleme bei den Hausaufgaben, wenig Ausdauer, starke Ablenkbarkeit, emotionale Instabilität, geringe Frustrationstoleranz, Wutanfälle, aggressives Verhalten, schlechte Schrift, chaotisches Ordnungsverhalten, andauerndes Reden, Geräuschproduktion, überhastetes Sprechen (Poltern), unpassende Mimik, Gestik und Körpersprache, Ungeschicklichkeit, häufige Unfälle, Außenseitertum, niedriges Selbstbewusstsein.
Der vorwiegend unaufmerksame Subtyp ADS (ohne Hyperaktivität) ist der „Träumertyp“ (überwiegend bei Mädchen): starke Stimmungsschwankungen, missmutig, unzufrieden, innerlich unruhig; fehlende Selbstorganisation: vergesslich, unpünktlich, trödelt; schlechte Leistung trotz Anstrengung, mangelnde Ausdauer und Konzentration; keine anhaltenden Freundschaften; Suchtverhalten: Süssigkeiten, Cola, Nikotin, Kaffee; Zwänge, zum Beispiel Einkaufen, Sortieren; Nägelkauen, Selbstverletzungen.
Im späteren Verlauf wird die Alltagsbewältigung zunehmend problematisch durch Ängste und Depressionen. Träumer fallen allgemein zunächst weniger deutlich auf als die Hyperaktiven und werden deswegen auch später diagnostiziert.
INFO
Regeln für Eltern und Kind
Die „Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte“ empfiehlt folgende wichtigen Regeln für die Eltern:
•Nehmen Sie die guten Seiten Ihres Kindes wahr. Bestärken Sie es darin. Das hilft Ihnen, auch schwierige Phasen zu überbrücken und dem Kind zu zeigen, dass sie es mögen.
•Loben Sie Ihr Kind. Ihrem Kind fällt es schwerer als anderen Kindern, Regeln einzuhalten und Aufgaben zu Ende zu bringen. Loben Sie es deshalb immer, wenn ihm dies gelingt. Positive Verstärkung fördert erwünschtes Verhalten. Bereits die Bereitschaft zur Anstrengung und auch Teilerfolge sollten anerkannt werden.
•Stellen Sie Regeln auf. Regeln geben Ihrem Kind Halt, Orientierung und Sicherheit. Formulieren Sie gemeinsam erfüllbare Familienregeln. Setzen Sie klare Grenzen.
•Eindeutige Ich-Botschaften. Sprechen Sie klar, eindeutig und dem Kind zugewandt, zum Beispiel: „Ich möchte, dass Du alle Legosteine in die rote Kiste räumst!“ Anschließend kontrollieren! Teilen Sie dabei Aufgaben in kleinere möglichst erfüllbare Abschnitte ein. Also nicht: „Räum dein Zimmer auf!“
• Bemühen Sie sich um eine verlässliche Tagesstrukturierung und pflegen Sie Rituale. So kann sich das Kind im Tagesverlauf besser orientieren und weiß eher, wann welches Verhalten erwünscht ist.
• Wenn Ihr Kind eine Regel übertritt, reagieren Sie immer konsequent und unmittelbar.Angemessene negative Sanktionen bei unerwünschtem Verhalten sind beispielsweise eine Auszeit oder Punkte-Entzug.
• Versuchen Sie, Probleme vorherzusehen.Manche Situationen sind bei Kindern mit ADHS besonders problematisch (beispielsweise Besuch, Hausaufgaben). Vereinbaren Sie vorher rechtzeitig Regeln für diese Situationen und Belohnungen bei Erfolg.
• Bewahren Sie Geduld und behalten Siedie Übersicht. Haben Sie Verständnis für die Besonderheiten im Verhalten des Kindes. Versuchen Sie ruhig zu bleiben, den inneren Abstand und Geduld zu bewahren.
• Nichts erzwingen. Vermeiden sie Diskussionen, wenn die Emotionen überkochen. Geben Sie sich und Ihrem Kind eine Auszeit, verlassen Sie nötigenfalls das Zimmer, um das Problem später mit mehr Gelassenheit zu lösen.
• Tun Sie etwas für sich selbst. Kinder mit ADHS kosten viel Kraft. Achten Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse und ausreichend Zeit zur Entspannung. Davon profitiert auch Ihr Kind.
INFO
Kinder mit AD(H)S beim Zahnarzt
Die Ergebnisse internationaler Untersuchungen zur Mundgesundheit von Kindern mit AD(H)S zeigen, dass sie eine starke Affinität zu Süßigkeiten haben, fast doppelt so häufig essen und trinken wie nicht betroffene Kinder. Sie haben eine schlechtere Mundhygiene und nehmen zahnärztliche Vorsorgeuntersuchungen in der Regel seltener in Anspruch. Einige Medikamente können mit einer reduzierten Speichelmenge (Oligosialie) einhergehen. Daher erstaunt es auch nicht, dass Kinder mit AD(H)S einen signifikant höheren Kariesbefall und signifikant mehr und häufiger unbehandelte kariöse Defekte aufweisen als ihre nicht betroffenen Altersgefährten. Weiterhin werden traumatische Verletzungen der Frontzähne bei hyperaktiven Kindern signifikant häufiger beobachtet.
Kommt ein Kind mit AD(H)S in die Zahnarztpraxis, stehen oft alle Beteiligten vor einer herausfordernden Situation, denn hier wird von den Kindern verlangt, was ihnen besonders schwerfällt: Stillsitzen, Ausdauer, Selbstkontrolle. Die Kooperationsbereitschaft von Kindern mit AD(H)S ist internationalen Studien zufolge während der zahnärztlichen Behandlung deutlich geringer, und der zeitliche Aufwand ist wesentlich höher als bei nicht erkrankten Kindern.
Glücklicherweise gibt es Strategien, wie daszahnärztliche Team einem hyperaktiven Kind helfen kann, die Behandlungssituation zu meistern. Entscheidend ist eine empathische, positive und geduldige Grundhaltung dem Kind gegenüber, unabhängig davon, wie es sich verhält. Ungeduld, Impulsivität und aggressives Verhalten sind Ausdruck der krankheitsbedingten Störung und dürfen keinesfalls persönlich genommen werden. Für die Planung der zahnärztlichen Behandlung gilt: Wartezeiten vermeiden, kurze Behandlungssequenzen planen und gut vorbereiten, Eltern nicht mit ins Behandlungszimmer nehmen, klare Absprachen treffen und sich strikt daran halten. Viele Informationen und lange Erklärungen überfordern die Kinder. Als sehr effektiv hat sich die Tell-Show-Do-Technik erwiesen; sie sollte auch bei älteren Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden.
Trotz dieser gezielten Vorbereitung muss während der Behandlung mit unerwarteten, impulsiven Reaktionen, wie beispielsweise einem ruckartigen Wegdrehen des Kopfes während der Anästhesie, gerechnet werden. Warum ein solches Verhalten unerwünscht ist, sollte mit dem Kind kommuniziert werden. Konflikte sind jedoch zu vermeiden, da sie schnell zum Abbruch der Behandlung führen können. Zielführender ist es, kooperatives Verhalten ständig zu loben, kleine Behandlungsschritte als Erfolg zu werten und das Kind mit einem positiven Gefühl aus der Behandlung zu entlassen.
Dr. Kirsten Schmied
Prof. Roswitha Heinrich-Weltzien