Die klinisch-ethische Falldiskussion

Unangemessener Umgang mit einer Assistenzzahnärztin

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Dominik Groß
In dieser Kasuistik geht es um nicht-fachgerechte Behandlungsmaßnahmen und -vorschläge, aber auch um die Frage, wie einem weiterbildungsberechtigten Kieferorthopäden gegenüberzutreten ist, der seine Assistenzzahnärztin zeitlich und fachlich ausnutzt und vor den Patienten bloßstellt.

Der Fallbericht:

Die ambitionierte Zahnärztin RI hat nach längerer, mühevoller Suche eine Weiterbildungsstelle in einer kieferorthopädischen Praxis gefunden. Mit ihrer vierjährigen Tochter kann sie die Berufstätigkeit vereinbaren, denn diese besucht nun den Ganztageskindergarten von 8.00 Uhr bis 16.00 Uhr und wird danach bis circa 19.00 Uhr von einer Freundin betreut, die in einem anderen Ort wohnt. Den Zeitaufwand von zwei Stunden täglich, den RI mit den Fahrten zur Praxis und zur Freundin hat, nimmt sie gerne in Kauf. Gleichzeitig belegt RI pro Monat etwa vier kieferorthopädische Fortbildungstage – auch, um ihren eigenen fachlichen Ansprüchen zu genügen.

Mit den Monaten kehrt bei RI jedoch Ernüchterung ein: Ihr Chef PP behandelt seine Patienten äußerst antiquiert und wenig erfolgreich. Mit seinen Behandlungsmethoden und den Behandlungsplänen, die sie jeden Morgen schreiben muss, ist sie zumeist nicht einverstanden.

Als PP realisiert, dass RI sehr gut mit den kieferorthopädischen Geräten und den festsitzenden Behandlungen zurechtkommt, lässt er sie des Öfteren nachmittags allein in der Praxis und erledigt derweil seine Geschäfte. Für RI bedeutet dies, dass ihr an solchen Tagen kaum genügend Zeit für eine bedarfsgerechte Patientenbehandlung zur Verfügung steht, weil sie zusätzlich die Patienten des Vorgesetzten, deren Historie sie gar nicht kennt, behandeln muss.

Dank RI nimmt der Praxisumsatz mit der Zeit kontinuierlich zu, doch RI fühlt sich zunehmend ausgenutzt. Sie möchte aber keine Konfrontation mit ihrem Chef, einem Herrn in vorgerücktem Alter mit standespolitischem Einfluss, riskieren. Zudem ist ihr bewusst, dass sie schwerlich eine andere Weiterbildungsstelle finden würde.

Eines Tages ruft PP seine Assistentin RI zu sich ins Behandlungszimmer. Er stellt ihr die 16-jährige Privatpatientin Martina vor, die seit vielen Jahren bei ihm mit herausnehmbaren Apparaturen behandelt wird und ein tadellos gepflegtes Gebiss aufweist. Ihr Hauszahnarzt hatte ihr vor Kurzem den Zahn 46 extrahiert, weil dieser sehr stark gelockert war. Nun sind auch die Zähne 31 und 41 gelockert. PP bittet RI um ihre Meinung. RI sieht auf dem Röntgenbild großflächige Osteolysen, die symmetrisch die Molarenwurzeln im dritten und im vierten Quadranten umgeben, und die vier unteren Incisivi stehen gleichfalls vollständig in einer großen Aufhellung. Der Vergleich mit den vorangegangenen OPGs zeigt ihr, wie sich die Osteolysen im Lauf der Jahre immer weiter vergrößerten. Spontan äußert sie ihre Vermutung, dass es sich um eine fulminant verlaufende Form einer juvenilen Parodontitis handeln könnte, und empfiehlt der Patientin, sich zur Diagnostik und Therapie dringend in der Universitätszahnklinik vorzustellen.

Der Kieferorthopäde PP schlägt seinerseits ein kollegiales Gespräch mit dem Hauszahnarzt vor und entlässt die Patientin und deren Mutter. Äußerst wütend wendet er sich danach seiner mWeiterbildungsassistentin zu: Er kritisiert ihre Äußerung mit dem Hinweis, dass es allein in das Ermessen des Hauszahnarztes gestellt sei, zu entscheiden, ob eine Parodontalbehandlung indiziert sei und wo diese durchgeführt werden solle.

Am nächsten Tag hört RI durch die offene Tür, wie PP mit Martinas Mutter telefoniert. Er versichert der Mutter, dass alles in Ordnung sei und sie sich keine Sorgen zu machen brauche – die Meinung seiner Assistentin sei „Unsinn“.

RI dagegen stuft das Verhalten des Vorgesetzten als groben Behandlungsfehler ein und würde sich gerne beruflich umorientieren. Sie kennt allerdings die Erfahrungen vieler Weiterbildungsassistenten in der Kieferorthopädie, die sich teilweise seit Jahren erfolglos um entsprechende Stellen an Universitätszahnkliniken bewerben. Als zur selben Zeit ihre zunehmend unglückliche kleine Tochter ernsthaft erkrankt, stellt sich RI einige Fragen:

• Soll – oder muss – sie eigenverantwortlich Klärungen und Verbesserungen an ihrer Arbeitsstelle anstreben, das heißt über den Kopf des Vorgesetzten hinweg den Kontakt zu Hauszahnarzt und Mutter suchen und ihre abweichende fachliche Sicht darlegen?

• Soll sie ihrem Vorgesetzten mangelhafte fachliche Expertise und ein in ihren Augen grob unkollegiales Verhalten vorwerfen?

• Soll sie ihn gar mit dem Vorwurf des Behandlungsfehlers konfrontieren?

• Soll sie ihn vor die Wahl stellen, entweder künftig eigenverantwortlich und zu für sie günstigeren Arbeitszeiten arbeiten zu dürfen oder zu kündigen?

• Oder soll sie – wenn alle Bewerbungsversuche fehlschlagen – den „Weg des geringsten Widerstands“ gehen und bei künftigen Fehlentscheidungen und unkollegialen Verhaltensweisen „wegschauen“?

• Oder soll sie vielleicht doch an dieser Stelle das Ziel der Fachzahnarztausbildung aufgeben und ein noch bestehendes Angebot annehmen, Teilzeit-Entlastungsassistentin bei einem Allgemeinzahnarzt zu werden?

Dominik Groß

Dr. med. dent. Jens KaschubaEppendorfer Landstr. 139a20251 Hamburgjens@drkaschuba.de

Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik GroßDr. med. dent. Gereon SchäferInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinUniversitätsklinikum der RWTH AachenWendlingweg 2D-52074 Aachengte-med-sekr@ukaachen.de

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