Irritation wegen Clindamycin-Vergabepraxis
Der zahnärztlichen Vergabepraxis von Antibiotika und Analgetika widmet der „Arzneimittelreport 2012“ von Studienautor Prof. Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) an der Universität Bremen ein 18-seitiges eigenes Kapitel. Bei der Vorstellung der Ergebnisse kritisierte Glaeske die, seiner Meinung nach, aus den Ergebnissen ableitbaren „kaum nachvollziehbare(n) Entscheidungen“ von Zahnmedizinern, überproportional häufig Clindamycin zu verschreiben.
Oesterreich: Daten nicht repräsentativ
„In der Antibiotikaversorgung werden Mittel mit Clindamycin bevorzugt, die teurer sind und um nichts besser wirken als Amoxicillin, das auch in den Leitlinien empfohlen wird“, befindet Glaeske. Prof. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer, widerspricht. „Der Arzneimittelreport der Barmer GEK ist nur begrenzt aussagefähig, weil er erstens nicht bevölkerungsrepräsentativ ist und zweitens niedrig dosierte Schmerzmittel überhaupt nicht erfasst“, stellt er richtig.
Der Report sei zwar methodisch genau nach Alter und Geschlecht geschichtet, beziehe sich aber eben nur auf die Daten der Versicherten der Barmer GEK. Auch die verschriebenen Antibiotika seien, bezogen auf die gesamte Verordnungspraxis, nicht repräsentativ, erklärt Oesterreich.
„Die Bevorzugung von Clindamycin durch Zahnärzte lässt sich zum Teil einfach dadurch erklären, dass für diesen Wirkstoff eine gute Wirksamkeit gegen anaerobe Mikroorganismen und eine gute Penetration in Knochengewebe, vor allem osteomyelitisches Granulationsgewebe, beschrieben sind.“ Nichtsdestotrotz nehme die Arzneimittelkommission die in dem Bericht aufgezeigten Trends ernst, betonte der BZÄK-Vize. „Wir diskutieren die Ergebnisse in unseren Gremien und leiten für die zahnmedizinische Therapie relevante Handlungsansätze ab.“
Oesterreich weiter: Die in der zahnärztlichen Schmerztherapie bevorzugt eingesetzten Monopräparate unterlägen in der üblichen Wirkstoffkonzentration nicht der Verschreibungspflicht, seien deshalb nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu verordnen und würden demzufolge von dem Arzneimittelreport gar nicht erfasst. Seine Folgerung: Die darauf basierenden statistischen Aussagen zeichneten deshalb ein verzerrtes Bild.
Kritik: Teurer als Penicillin
Im Barmer GEK Arzneimittelreport 2012 heißt es zur Clindamycinvergabepraxis abschließend, die besonders gute Knochengängigkeit sei kein ausreichender Grund für eine bevorzugte Anwendung, und: „aus ökonomischer Sicht ist anzumerken, dass die Anwendung von Penicillin V oder Amoxicllin gegenüber Clidamycin [...] in der Standarddosierung bei der empfohlenen Therapiedauer wesentlich geringere Kosten verursacht.“ Diese Mehrkosten beschreibt der Bericht an anderer Stelle explizit: 2011 vergaben Zahnärzte demnach 9,6 Prozent der insgesamt 4,5 Millionen Antibiotikapackungen an Barmer GEK-Versicherte – verursachten damit aber 9,9 Prozent der Gesamtausgaben für diese Arzneimittelgruppe.
Glaeskes Bericht zieht auch aus der Vergabepraxis anderer Präparate Schlüsse: So sei der Nutzen einer medikamentösen lipidsenkenden Therapie in der Primärprävention, also vor einem Herzinfarkt oder einer Manifestation der koronaren Herzerkrankung (KHK) nicht abschließend geklärt, heißt es. Glaeske: „Es werden deutlich zu viele Menschen mit Cholesterinsenkern behandelt.“ Ebenso ärgerlich ist seiner Meinung nach, dass davon wiederum viele Patienten Ezetimibhaltige Arzneimittel wie das Präparat Inegy erhalten, dessen Nutzennachweis weiterhin ausstehe. „Mit Simvastatin gibt es eine bewährte Alternative, die nur ein Drittel kostet“, erklärt der Studienautor. Drei Prozent beziehungsweise 120 Millionen Euro der Barmer-GEK-Arzneimittelausgaben entfallen demnach auf starke Opioide. Einen Großteil geht auf Fentanyl-Verordnungen zurück (41 Prozent).
Massive Verordnung von Schmerzpflastern
Auffällig sei die massive Verordnung von Fentanyl-haltigen Schmerzpflastern in der Erstversorgung – entgegen den Leitlinien, die zu Beginn einer Therapie starke Schmerzmittel wie Morphin oder Oxycodon empfehlen und Fentanylpflaster erst dann vorsehen, wenn Patienten nicht mehr auf erstere ansprechen. Durch die zeitversetzt eintretende Wirkung und eine auch nach Entfernen des Pflasters bestehende Wirkstoffkonzentration sei die Gefahr der Überdosierung gegeben und der Einsatz bei den Patienten kritisch, die bis dahin keine Erfahrung mit Opioiden hatten, warnt Glaeske.
Auch falle die häufige Verordnung von neuen starken und teuren Schmerzmitteln wie Targin und Palexia auf, obwohl die Studienlage für diese Mittel bisher keine Evidenz zeige. Darum benötige man weitere Untersuchungen, um den Stellenwert dieser Mittel besser einzuschätzen, lautet das Fazit der Barmer GEK. Gleichzeitig sei es dringend erforderlich, die Therapie besser auf das Schmerz-Stufenschema der WHO auszurichten.
Ein weiteres Thema des Berichts sind die Geschlechterunterschiede in der Arzneimittelversorgung. Laut Glaeske und seinem Team bekommen Frauen etwa zwei- bis dreimal so viel Psychopharmaka verordnet wie Männer. Derart starke geschlechtsspezifische Differenzen seien medizinisch kaum begründbar und würden den Leitlinien widersprechen, kritisiert der Bericht und warnt vor dem hohen Abhängigkeitsrisiko, dass diese Präparate bergen.
Schlussfolgerung der Barmer GEK: Es sei nötig, die spezifischen Bedürfnisse von Frauen und Männern mittels wissenschaftlicher Studien besser zu erforschen und so erworbenen Erkenntnisse schnell in den Versorgungsalltag einzubringen. Glaeske fordert: „Wir brauchen eine Negativliste, welche Ärzte verlässlich über Wirkstoffe informiert, die bei Frauen gefährliche Effekte auslösen können.“ Vorbild könne hier etwa die Priscus-Liste sein, die über gefährliche Wirkstoffe bei älteren Patienten informiert (www.priscus.net)
Insgesamt stellt der „Arzneimittelreport 2012“ fest: Im Jahr 2011 wurden im Durchschnitt pro 100 Versicherte 864 Arzneimittel verordnet, pro 100 Männer waren es 763 Verordnungen, pro 100 Frauen 937 (22,3 Prozent mehr). Auch die Gesamtkosten unterscheiden sich, wenn auch geringer. Sie liegen pro 100 versicherte Männer bei 41 100 Euro, pro 100 versicherte Frauen bei 44 900 Euro (9,3 Prozent mehr).
Wandel der Arbeitswelt beeinflusst Gesundheit
Die Techniker Krankenkasse widmet sich in ihrem aktuellen Bericht den gesundheitlichen Auswirkungen von Mobilität. „Da in der heutigen Arbeitswelt vor allem die Schlagworte Mobilität und Flexibilität eine immer größere Rolle spielen, haben wir in diesem Jahr die gesundheitliche Situation von Berufspendlern unter die Lupe genommen“, begründete Vorstandschef Norbert Klusen den Schwerpunkt des aktuellen Berichts. Für ihn war es die letzte Pressekonferenz in seiner Funktion als Vorsitzender des Vorstands – er will sich nun anderen Aufgaben widmen, heißt es. Neuer Vorsitzender ist Dr. Jens Baas, der dem Vorstand seit Anfang 2011 angehört.
Laut Klusen zeigt der Bericht, dass die sich wandelnde Arbeitswelt auch Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen habe. Die Wege zum Arbeitsplatz würden länger, viele Arbeitsverträge seien befristet. Damit stiegen Stressoren, wie das Gefühl von Unsicherheit zunehmend an, beschreibt er. Für ihren Bericht hat die TK erstmals Daten zur Entfernung von Wohn- und Arbeitsort ausgewertet. Das Ergebnis: Berufspendler – dazu zählen knapp die Hälfte aller deutschen Beschäftigten – sind insgesamt weniger krank als wohnortnah arbeitende Erwerbstätige, allerdings sind sie häufiger und langwieriger von psychischen Diagnosen betroffen. Mit jedem Wohnorts- und Arbeitsplatzwechsel nehme statistisch das Risiko zu, an einer psychischen Störung zu erkranken.
Verkürzt hieße das: Mobilität macht krank. Allerdings nur in Wechselwirkung mit fortschreitendem Alter der Pendler. Der Report zeigt nach Klusens Aussage, dass „die jüngeren Beschäftigten mit Umzug“ kaum mehr Fehlzeiten aufweisen, als ihre gleichaltrigen Sesshaften. Bei Älteren löse der Wohnortswechsel dagegen häufiger psychische Erkrankungen aus. Generell bilanziert der Bericht: die Fehlzeiten aufgrund von psychischen Erkrankungen sind in der Gruppe der Wohnortswechsler im Durchschnitt fast doppelt so hoch wie bei den sesshaften Kollegen.
Daraus schlussfolgern die Autoren des TK-Berichts: Da sich Mobilität in der permanent ändernden Arbeitswelt nicht vermeiden lasse, gelte es, sie gesünder zu gestalten. Arbeitgeber, Beschäftigte, Verkehrsbetriebe, Automobilvereine und Krankenkassen seien hier gleichermaßen gefordert. sf/mg