Soziale Teilhabe sichern
„Wenn man sich mit den Herausforderungen des demografischen Wandels und der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beschäftigt, sind wir schnell mittendrin in der gesellschaftspolitischen Diskussion“, eröffnete der KZBV-Vorsitzende Dr. Jürgen Fedderwitz am 20. Juni in Dresden die Runde: Wie geht die Gesellschaft mit Pflegebedürftigen und Behinderten um?
Realisten statt Traumtänzer
„Wir Zahnärzte sind keine Traumtänzer. Uns geht es darum, den besonderen Bedürfnissen dieser Menschen Rechnung zu tragen, den größeren zahnärztlichen Therapie- und Präventionsbedarf aufzuzeigen und Lösungsansätze einzubringen“, sagte der KZBV-Chef. Die KZBV halte einen ergänzenden präventionsorientierten Leistungskatalog für zwingend erforderlich, der auf die Bedürfnisse von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderung abzielt. Was das konkret heißt? Zum einen, führte er aus, dass die Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, in derselben Qualität und auf demselben Standard wie für alle anderen erfolgt. Zum anderen, dass Gehandicapte Anspruch auf die Gesundheitsleistungen haben, die speziell sie benötigen. Zwar setze der Gesetzgeber schon gezielt Anreize, damit immobile Patienten zahnmedizinisch versorgt werden können. Nach wie vor sei der Anspruch hier aber auf den GKV-Leistungskatalog beschränkt. „Die Prävention bleibt außen vor“, bilanzierte Fedderwitz.
„Der Wunsch alt zu werden, wird auf einmal Realität“, sagte Josef Hecken, bis Ende Juni Staatssekretär im Bundesfamilienministerium und jetzt G-BA-Vorsitzender. Er bestätigte: „Wir brauchen angepasste Konzepte, so dass Pflegebedürftige nicht nur in Heimen, sondern auch zu Hause versorgt werden können. Das ist nicht nur humaner, sondern auch kostengünstiger.“ Die adäquate zahnmedizinische Versorgung immobiler Menschen sei ein vernachlässigtes Feld. Hecken: „Darum ist es ganz wichtig, dass sich die Kammern und die KZVen dieser Problematik angenommen haben.“ Man müsse sich fragen, inwieweit man Versorgungsstrategien neu aufsetze oder erweitere. Der Einstieg, also die Veränderung des SGB V, sei gelungen, und auch im G-BA werde es Lösungen geben. Hecken: „Jeder Betroffene ist dankbar, wenn er vom wehrlosen Objekt zum selbstbestimmten Subjekt zurückfindet.“
Im Unterschied zur Medizin habe sich in der Zahnmedizin bereits ein Paradigmenwechsel vollzogen, führte Prof. Dr. Volker Ulrich von der Uni Bayreuth aus. Was die Vorsorge angeht, sei hier im Unterschied zur Medizin ein deutlich verbessertes eigenverantwortliches Verhalten zu beobachten. Agi Palm von der Lebenshilfe e.V. schilderte, dass in ihrem Verein neben Pflegern überwiegend pädagogisches Personal arbeitet, und zwar nicht angeleitet. Palm: „Unsere Patienten sind aber nicht in der Lage, sich ihre Zähne zu putzen. Und die Behandlungen dauern länger.“ Zahnärzte kommen schon heute regelmäßig in Heime, entgegnete Günter Wältermann, Vorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg: „Auch aus meiner Sicht besteht Handlungsbedarf, doch sind entsprechende Leitungen bereits im GKV-Katalog verankert.“ Eine Einschätzung, der Dr. Elisabeth Fix vom Deutschen Caritasverband widerspricht: „Die Versorgung in der Pflege ist nicht gut. Es gibt große Defizite.“ Deswegen versuche die Politik mit dem Pflege-Neuordnungsgesetz an den Stellschrauben zu drehen. Fix: „In der Zahnmedizin liegt gerade die Versorgung für Menschen mit kognitiven Einschränkungen im Argen. Die Pfleger alleine können es nicht richten, diese Betreuung gehört in die Hände der Ärzte.“
Zwar will ihre Partei das von der Zahnärzteschaft in die Gesellschaft getragene Versorgungskonzept nicht in Gänze umsetzen – trotzdem sieht die CDU-Bundestagsabgeordnete Maria Michalk in der Alters- und Behindertenzahnmedizin Handlungsbedarf.„Bei uns ist das Thema angekommen“, sagte auch MdB Steffen-Claudio Lemme (SPD).
„Es geht uns nicht um die Wohlfahrt der Zahnärzte“, stellte der stellvertretende KZBV-Vorsitzende Wolfgang Eßer klar, „sondern um einen besonderen Leistungsbedarf Pflegebedürftiger und Behinderter, der über die GKV nicht abgebildet wird.“ Die mit Pflegebedürftigkeit meist verbundene soziale und finanzielle Schlechterstellung dürfe es nicht geben. Zahnärzte fahren für vier Euro Wegegeld in Heime, so Eßer.
Charity ist keine Basis
„Wir haben die Pflege in unserer sozialen Verantwortung geleistet, die wir für die Gesellschaft gerne wahrnehmen. Aber Charity ist keine Basis für die Sicherstellung der zahnmedizinischen Versorgung!“ Ziel sei, dass dieser Personenkreis verbriefte Leistungen erhält. „Dazu brauchen wir das Zusammenwirken aller Beteiligten“, bekräftigte Eßer.
„Wie ein roter Faden zieht sich durch die Diskussion die Frage, inwieweit unser Gesundheitswesen den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit entspricht“, resümierte der stellvertretende KZBV-Vorsitzende Dr. Günther E. Buchholz: „Die Frage nach der Teilhabe.“ Zwar könne sich die Gesundheitsversorgung in Deutschland wirklich sehen lassen – besonders die Zahnmedizin. „Doch der demografische Wandel ist nicht Zukunft. Er ist da! Wir sollten keine Zeit verlieren und handeln. Dabei müssen passgenaue Lösungen vor Ort entwickelt werden.“
Finger gibt das Gesicht
Im Rahmen der Demografiestrategie gebe Dr. Kerstin Finger mit ihrer mobilen Behandlungseinheit den vielfältigen Initiativen ein Gesicht. Aber die Debatte habe Buchholz zufolge gezeigt, dass auch der politische Rahmen angepasst werden muss: „Er muss so gestaltet sein, dass er dem besonderen Versorgungsbedarf von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen Rechnung trägt.“ ck