Privatisierung durch die Hintertür
Ziel der NHS-Reformen ist laut Gesundheitsminister Andrew Lansley, den staatlichen Gesundheitsdienst unbürokratischer zu machen sowie die Rolle der Hausärzte weiter zu stärken. Großbritannien hat seit 1948 ein staatliches Gesundheitssystem, das auf dem Primärarztprinzip basiert. Die erste Anlaufstelle für den Patienten ist stets der Hausarzt. Dieser überweist zum Facharzt oder in die Klinik. Fachärzte praktizieren in den Krankenhäusern und nicht in freier Praxis. Die freie Arztwahl der Patienten ist – bislang zumindest – erheblich eingeschränkt.
Die jüngsten Gesundheitsreformen der konservativ-liberalen Koalitionsregierung unter Premierminister David Cameron zielen darauf ab, den Hausärzten mehr Freiheiten einzuräumen. Erstmals in der 64-jährigen NHS-Geschichte sollen Hausärzte mehr oder weniger eigenständig über ihre Budgets verfügen dürfen. Praktisch bedeutet das, dass die rund 100 000 NHS-Hausärzte über das Ausgeben von Milliardenbeträgen entscheiden werden. Die Idee ist, dass der Hausarzt für seinen Patienten direkt im Krankenhaus Operationen oder fachärztliche Konsultationen einkauft. Das werde den Wettbewerb innerhalb des stationären Sektors fördern, argumentiert der Gesundheitsminister.
Skepsis bei Ärzten und Patienten
Doch ärztliche Berufsverbände, Zahnärzte und Gewerkschaften sind ebenso skeptisch wie die britischen Patientenverbände. „Es besteht die Gefahr, dass mehr Wettbewerb und damit die Involvierung privater Leistungsanbieter das Prinzip der staatlichen Gesundheitsversorgung, die grundsätzlich für jeden Bürger kostenlos ist, untergräbt“, so eine Sprecherin des britischen Ärztebundes (British Medical Association, BMA). Und: „Wir fürchten uns vor einer schleichenden Privatisierung des Gesundheitswesens.“
Gesundheitspolitische Beobachter weisen darauf hin, daß die Involvierung privater Leistungsanbieter in der Tat dazu führen kann, daß staatliche Versorgungsangebote mittel- und langfristig knapper werden. Beispiel ist die britische Zahnmedizin. In den vergangenen 20 Jahren sind immer mehr private Unternehmen und privat praktizierende Zahnärzte in den Markt eingetreten. Dies ging Hand in Hand mit einer Reduzierung des staatlichen Versorgungsangebots. Genau dieser Effekt könne sich auch im restlichen Gesundheitswesen einstellen, argumentieren Reformkritiker. So beobachtet denn auch der britische Zahnärzteverband (British Dental Association, BDA) den gesundheitspolitischen Reformeifer der Regierung Cameron mit großem Interesse und mit einiger Sorge. „Das sind sehr tief greifende Reformen und sie werden starke Auswirkungen und Folgen auf alle Gesundheitsberufe haben.“
Manche Gesundheitsexperten nennen die jetzt vom Oberhaus nach rund 50 Stunden Parlamentsdebatte und 14-monatiger Beratungsphase verabschiedeten Reformen „eine Jahrhundertreform“. „Die Umwälzungen sind so enorm, dass man sie sogar aus dem Weltall sehen kann“, spottete die ehrwürdige Tageszeitung „Times“.
In Zahlen: Die Regierung Cameron hofft, durch die Reformen Effizienz-Einsparungen von „mindestens zehn Milliarden Pfund (rund 13 Milliarden Euro) in den nächsten zehn Jahren“ zu schaffen. Rund 20 000 Verwaltungsstellen sollen wegrationalisiert werden. Gleichzeitig versprach der Gesundheitsminister mehrfach, dass die sogenannten Frontline Services, also die direkte Patientenversorgung, nicht gekürzt werde. Immerhin ist der NHS heute mit jährlichen Ausgaben von rund 104 Milliarden Pfund der mit Abstand größte Kostenblock im britischen Staat.
Mehr Mitsprache geplant
Allerdings geht es bei der Reform um mehr als nur ums Geld. Stichwort Privatmedizin: Die Regierung wünscht sich „mehr Wettbewerb innerhalb des NHS“. Zum einen sollen Arztpraxen und Staatskrankenhäuser untereinander um Patienten werben und rangeln. Davon erhofft sich das Londoner Gesundheitsministerium mehr Effizienz. Zum anderen sollen Ärzte und andere Gesundheitsberufe wieder mehr Entscheidungsfreiheit erhalten.
So ist unter anderem geplant, die bisherige enge und unflexible Vernetzung von Haus- und Fachärzten, Kliniken und ambulanten Pflegediensten zu entzerren, in der Hoffnung, Handlungsspielräume zu gewinnen und so den Patienten mündiger zu machen. Konkret: Der Patient soll mehr Mitspracherecht bekommen, in welche Klinik er überwiesen wird. Die Regierung hofft, dass diese neue Form der Marktwirtschaft dazu führen wird, dass Kliniken, die gut arbeiten, mit besseren Patientenzahlen belohnt werden. Mehr Patienten bedeuten in der Regel auch mehr Geld aus dem Gesundheitsetat.
Berufsverbände sind kritisch
Allerdings fürchten Berufsverbände und Gewerkschaften eine „schleichende Privatisierung“ des Gesundheitsdienstes. Erst kürzlich wurde das erste NHS-Krankenhaus vollends in den Privatsektor überführt: Das Hinchingbrooke Hospital (Grafschaft Cambridgeshire) wird nun als Privatklinik geführt. Das sorgt die NHS-Fachärzte. Heute verfügt jeder zehnte Patient in Großbritannien über privaten Krankenversicherungsschutz.
Kritiker bezweifeln, dass die Reform zur richtigen Zeit kommt. Der NHS muss wegen der Wirtschaftskrise deutlich sparen. Es sei fraglich, ob derart große Strukturreformen in Zeiten des Geldmangels tatsächlich machbar seien, so der britische Ärztebund.
Arndt Striegler
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