Teil der Wegstrecke
„Mit diesem zentralen Projekt richten wir die Leistungen der Pflegeversicherung konsequent auch auf die Bedürfnisse der an Demenz erkrankten Menschen aus“, kommentierte Bahr im Nachklang zur Kabinettssitzung, in der der Entwurf des sogenannten Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes (PNG) verabschiedet wurde. Die schwarz-gelbe Regierung zeigt sich überzeugt, mit der Reform der Pflege in Deutschland einen wichtigen Zukunftsimpuls gegeben zu haben. „Das ist ein Meilenstein, das ist noch nicht die ganze Wegstrecke“, sagte der Minister. Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) begrüßen grundsätzlich, dass der Gesetzgeber die Leistungsangebote ausbauen und fortentwickeln will.
In Kraft treten soll Bahrs Reform am 1. Januar 2013. Ab diesem Zeitpunkt soll der Beitrag zur Pflegeversicherung von 1,95 auf 2,05 Prozent des Bruttolohns steigen, bei Kinderlosen auf 2,3 Prozent. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) schätzt die Zahl der Pflegebedürftigen in der Bundesrepublik auf 2,4 Millionen, von denen eine hohe Zahl an Demenz erkrankt ist. Das BMG geht von insgesamt 1,2 Millionen Demenzkranken aus.
Mehr Geld und mehr Flexibilität
Die Reform fußt auf mehreren zentralen Punkten.
• Leistungen: Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz, die ohne Pflegestufe sind (die sogenannte Pflegestufe 0) erhalten künftig 120 Euro Pflegegeld (bei der Pflege durch Angehörige) oder Pflegesachleistungen von maximal 225 Euro (bei der Betreuung durch einen ambulanten Dienst). Pflegebedürftige in Pflegestufe I erhalten 305 Euro Pflegegeld oder Pflegesachleistungen von bis zu 665 Euro. Menschen in Pflegestufe II bekommen 525 Euro Pflegegeld oder Pflegesachleistungen von bis zu 1 250 Euro.
• Betreuung: Die Pflege soll künftig flexibler organisiert werden können. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen verständigen sich demnach mit Pflegediensten auf die wirklich benötigten Leistungen. Dazu können Zeitvolumen gewählt werden, in deren Rahmen die pflegerische Tätigkeiten je nach Bedarf durchgeführt werden. Damit entfernt man sich ein Stück weit von den bisherigen standardisierten, verrichtungsbezogenen Leistungen.
• Angehörige: Die Situation pflegender Angehöriger soll durch die Reform verbessert werden. So sollen sie leichter eine Reha-Maßnahme durch die Krankenversicherung bekommen. Wenn sie eine Kurzzeit- oder Verhinderungspflege für ihren Pflegebedürftigen in Anspruch nehmen, wird das Pflegegeld künftig zur Hälfte weitergezahlt. Wer mindestens 14 Stunden pro Woche für Pflege aufwendet, erwirbt damit einen Rentenanspruch. Dieser Aufwand muss zukünftig nicht allein für einen Pflegebedürftigen getätigt werden, sondern kann auch durch die Betreuung von zwei Pflegebedürftigen erreicht werden.
• Pflege-WGs: Wohnformen zwischen ambulanter und stationärer Betreuung, sogenannte Pflege-WGs, werden zusätzlich gefördert. Unter bestimmten Voraussetzungen erhalten die Wohngruppen 200 Euro pro Bewohner zusätzlich. Ein zeitlich befristetes Programm zur Gründung von ambulanten Wohngruppen stellt eine Förderung von 2 500 Euro pro Person (maximal 10 000 Euro je WG) für Umbaumaßnahmen zur Verfügung.
• Heimbesuche: Die (zahn-)medizinische Versorgung in Pflegeheimen soll verbessert werden. Durch finanzielle Anreize sollen Ärzte und Zahnärzte verstärkt dazu gebracht werden, sich um Patienten in Heimen zu kümmern. KZBV und BZÄK begrüßen jegliche Maßnahmen, die eine Verbesserung von Pflegebedürftigen und von Menschen mit Behinderung sowie jetzt auch den Einbezug von Patienten mit eingeschränkter Alltagskompetenz darstellen, kritisieren aber, dass die Regelung sich nur auf stationäre Pflegeeinrichtungen bezieht. Dadurch würden ohne sachlichen Grund Leistungen auf eine bestimmte Personengruppe beschränkt und andere hilfsbedürftige Menschen ausgeschlossen, weil sie sich nicht in einer stationären Pflegeeinrichtung befänden. Zudem werde die Prävention außer Acht gelassen. Wie ein umfassender Plan aussieht, haben BZÄK und KZBV bereits im Juni 2010 im Konzept „Mundgesundheit trotz Handicap und hohem Alter – Konzept zur vertragszahnärztlichen Versorgung von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen“ definiert.
• Umgang: Die Rechte von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen gegenüber Pflegekassen und dem Medizinischen Dienst werden gestärkt. Letzterer wird verpflichtet, Servicegrundsätze einzuhalten, um einen angemessenen und respektvollen Umgang mit den Pflegebedürftigen sicherzustellen.
• Beratung: Pflegekassen müssen künftig Antragstellern innerhalb von zwei Wochen einen Gesprächstermin anbieten. Zudem müssen sie dem Antragsteller zehn Euro pro Tag der Verzögerung zahlen, wenn sie ihre Leistungsentscheidungen nicht fristgerecht treffen.
Kritik aus unterschiedlichen Richtungen
Kritische Stimmen zum PNG ließen nicht lange auf sich warten. Hilde Mattheis, Sprecherin der Arbeitsgruppe Gesundheit der SPD-Bundestagsfraktion, erklärte Bahrs Pflegereform für „substanzlos“. „In seinem Gesetzentwurf fehlt eine ganzheitliche Sicht auf pflegebedürftige Menschen. Der dringend benötigte neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wird nicht umgesetzt.“ Es gebe keinen Ansatz für eine langfristige und nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung oder Konzepte für den Ausbau der Pflegeinfrastruktur und Pflegeberatung, sagte Mattheis. Auch Ansätze zur Begegnung des Fachkräftemangels in der Pflege sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Reha und Prävention fehlten. Stattdessen begnüge sich Bahr größtenteils mit kleinen oder symbolischen Maßnahmen.
Für Renate Künast, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, packt der Gesundheitsminister „die dringendsten Probleme nicht an, weder einen neuen Pflegebegriff noch eine ausreichende Versorgung der Demenzkranken“. Zur nachhaltigen Finanzierung einer besseren Pflege brauche man eine solidarische Pflege-Bürgerversicherung, sagte Künast.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisierte, dass das Gesetz nur punktuelle Verbesserungen, aber keine nachhaltige Strukturreform bringe. „Um auch in Zukunft eine würdige Pflege für alle Menschen sicherzustellen, darf die Politik nicht länger Zeit mit Schönheitsreparaturen und Mini-Reformen vergeuden“, sagte Dr. Eberhard Jüttner, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands. eb